Brigitta vom Lehn hat wieder einen wichtigen Beitrag unter dem Titel "Schreibabys sind typisch deutsch". (Welt - mit Literaturangaben!) (leider nur gekürzter Auszug in: Berliner Morgenpost)
... Das "Schreibaby" ist vor allem ein Kulturphänomen. "Primitivere" Völker besitzen in dieser Hinsicht eine "größere Weisheit", meint Karp. ... "In Südamerika oder Asien gibt es kaum Schreibabys", bestätigt Karl-Heinz Brisch, Leiter der Abteilung für Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie am Kinderspital der Universität München. Das natürliche Zusammenspiel zwischen Mutter und Kind funktioniere dort viel selbstverständlicher. Auch bezeichnet er die Sorge, ein Baby "verwöhnen" zu können, als "typisch deutsch": "Verwöhnung entsteht, wenn Kinder auf Signale die falsche Antwort bekommen. Statt bei ängstlichem Weinen mit Körperkontakt beruhigt zu werden, erhalten sie Spielsachen und Essen."
... Schreien sei nun mal ein Überlebenssignal. Für welche Not des Babys müssen die Eltern herausfinden. Das Lesenkönnen der Signale ist entscheidend. „Sicher gebundene Eltern können das intuitiv gut, unsicher gebundene weniger und bindungsgestörte gar nicht gut.“ Als gebunden bezeichnet Brisch diejenigen Erwachsenen, die in ihrer eigenen Kindheit eine sichere Bindung an die Eltern erlebt, diese verinnerlicht haben und quasi lebenslang abrufen können. ...
„Viele Mütter fühlen sich auch gedrängt, in den Beruf zurückzukehren, und geraten unter Druck, wenn beim Kind nicht alles planmäßig verläuft.“ Brisch ergänzt: „Babys müssen heute funktionieren, aber so sind Babys nun mal nicht gemacht. Sie haben ihre eigenen Bedürfnisse, und die ändern sich ständig.“ ...
... Wie Brisch stellt auch Harms fest: „Oft sind unruhige Kinder nur Symptomträger. Meist hapert es in der Paarbeziehung, oder es existieren Ängste oder andere Störungen seitens der Eltern.“
Auch Harms sagt: „Es ist erschreckend, wie das Vermögen der Eltern für den spontanen Umgang mit dem Kind in allen westlichen Industriestaaten schwindet. Die Grundfertigkeit, mit dem Baby zu kommunizieren, scheint aus dem Ruder zu laufen.“ Harms macht „Leistungserwartungen“ verantwortlich, die an Eltern heute gestellt werden. „Dadurch haben sie keinen intuitiven Zugang mehr, sie verlernen, ihre Körperintelligenz zu nutzen.“ ... Für den Säugling kann die externe Hilfe überlebenswichtig sein. Fries: „Wir erklären Eltern behutsam, dass Wut normal ist. Aber sie müssen ihre Wut kontrollieren lernen.“ Damit es nicht zu dem kommt, wofür Schreien ein Risikofaktor ist: Kindesmisshandlung.
Man wird den heutigen sozialen Problemen nicht gerecht, wenn man, wie z. B. Frau Ursula von der Leyen, immer nur einzelne Aspekte in den Vordergrund der Aufmerksamkeit stellt, wenn man hauptsächlich "konservativen Feminismus" propagiert, wenn man also (immer noch) hauptsächlich das Leben und die Selbstverwirklichung von Männern oder Frauen in den Vordergrund stellt. Es kommt alles nur ins "rechte Lot", wenn man die Interessen und Lebensnotwendigkeiten von Kindern in den Mittelpunkt des Nachdenkens und Reformierens dieser unserer Gesellschaft stellt. Deshalb legt "Studium generale" auch ein Schwergewicht auf dieses Thema, das von anderen naturwissenschaftlich (oder politisch) interessierten Blogs und Menschen meist gar nicht beachtet wird - oder (wie so typisch in der "Blogosphäre") meist nur zynisch behandelt wird.
Man muß sich einfach klar machen: Für Schreibabys sind auch diejenigen verantwortlich, die gar keine Kinder haben. Denn sie hätten ja die Umgebung abgeben können, in der unerfahrene Eltern und Jugendliche den Umgang mit Kindern hätten üben und lernen können. Aber schon in den Kinderkrippen (!) wird ganz und gar unnatürlich nach Altersgruppen getrennt (!), so daß schon hier das fürsorgliche Verhalten, das schon kleinen Kindern angeboren ist, und das sie an jüngeren Geschwistern und Spielkameraden mit großer Hingabe "üben", gar nicht üben können. Und das setzt sich durch die ganze Schulzeit fort. Man kann den Ausruf einfach nicht unterdrücken, was das überall für ein ELEND ist.
(Übrigens dürfte die größere Neigung zur Unruhe und zum Schreien - nach den Forschungen Daniel G. Freedmans - bei europäischen Babies auch auf angeborene Komponenten zurückzuführen sein, die bei asiatischen und afrikanischen Babies nicht vorliegen. Das heißt nicht, daß Schreien bei europäischen Babies kein Notsignal wäre. Im Gegenteil. Ich führte ebenfalls schon vor einigen Tagen aus, daß europäische Kinder aufgrund ihrer erblichen Dispositionen wahrscheinlich mehr individuelle Zuwendung und "Umhegung" brauchen als Kinder anderer Kontinente, nicht weniger.)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen