Freitag, 19. April 2024

Zuhören ist Heilig

Traumaheilung, gesellschaftliche Heilung durch - Zuhören 
- Das zieht sich durch die Völkergeschichte bis heute
- Vermutlich war das auch die Bedeutung der "großen Ohren" bei den Kelten

Weltgeschichte ist vor allem eines: Traumatisieren und Heilen. Warum das so ist, soll an dieser Stelle nicht geklärt werden. Was man aber inzwischen - als Historiker und Forscher - verstanden haben kann, ist schlicht die Tatsache, daß Weltgeschichte das schon immer war: Traumatisieren und Heilen. Die Rinderzüchter der Turkana in Ostafrika machen seit Jahrhunderten, nein, sicher seit Jahrtausenden nichts anderes: Traumatisieren und Heilen (8). Aber eines wird man bei ihnen nicht finden: Null-Bock-Stimmung und Ohne-mich-Haltung. Wo letztere Haltungen zur Mehrheitshaltung werden, steht eine Gesellschaft am Abgrund und vor dem unmittelbaren Ende.

Abb. 1: Ein Hörender - Das Reinheimer Pferdchen (Saarland) aus der Zeit um 370 v. Ztr. (Replikat) (Wiki)

Wir Deutschen konnten nach der Traumatisierungen des Dreißigjährigen Krieges wieder heilen. Können wir das auch heute - nach den Traumatisierungen des 20. Jahrhunderts? 

Aus Zusammenhängen rund um die Heilung von Entwicklungs- und Bindungstraumata heraus wird neuerdings auf die heilsame Bedeutung des Zuhörens hingewiesen: "Zuhören ist Heilig" (1).

Dieser Umstand gibt einem schon 2021 hier auf dem Blog erschienenen Artikel (Stgen2021) eine ganz neue, erweiterte Bedeutung, bzw. "Rahmung" und Kontextualisierung. 

Anstatt also einen von den etwa zehn Artikelentwürfen zum Thema Traumaheilung endlich veröffentlichensreif zu machen, die in den letzten Jahren hier für diesen Blog erarbeitet worden sind, stellen wir zunächst einmal den Blogartikel von 2021 mit dieser neuen thematischen Rahmung erneut ein.

Schon 2003 sind Bücher erschienen wie "Odysseus in America - Combat Trauma and the Trials of Homecoming", zu Deutsch also: "Odysseus in Deutschland - Kriegstraumata und die Versuche des Nachhausekommens". Es stammt von dem US-amerikanischen Traumatherapeuten Jonathan Shay (geb. 1947) (Wiki). Schon letztes Jahr hatten wir in diesem Zusammenhang das Zitat gebracht (zit. n. Stgen2023):

Stellen Sie sich einen von der normalen Gesellschaft isolierten Ort vor, dessen Bewohner einen erschöpften, mittellosen Veteranen aufnehmen, ihm Kleidung geben, ihm zu Essen geben und baden, ihre ganze Aufmerksamkeit seiner Anwesenheit widmen, für Geschenke, Unterhaltung und sportliche Erholung sorgen und zusehen, wie er in Tränen ausbricht, wenn er an seine Vergangenheit erinnert wird, die sich seine persönliche Geschichte aufmerksam anhören, die ihn sogar nach weiteren Einzelheiten fragen und die ihn weiter reisen lassen mit einem Vorrat an Reichtümern versehen, die er bei seiner Rückkehr nach Hause verwenden kann. Wie könnte man einen solchen Ort nennen? Ein Sanatorium? Eine Reha-Einrichtung?

So entnommen dem Aufsatz "Phäaken-Therapie in der Odyssee des Homer" von 2014 (9). Traumatherapeuten weisen also immer häufiger auf den Umstand hin, daß in und mit der Odyssee des Homer Traumaverarbeitung, ja, geradezu Traumatherapie stattfindet (Wiki):

Shay argumentiert, daß PTBS keine Krankheit ist, sondern das Fortbestehen adaptiver Verhaltensweisen, die zum Überleben in einer stressigen Umgebung erforderlich sind. Beispielsweise ist eine emotionale Betäubung in einer Katastrophensituation nützlich und in einer familiären Umgebung ungeeignet, und Vertrauensverlust verbessert das Überleben in einem Gefängnis, nicht jedoch in einer Gemeinschaftsumgebung. Wie Derek Summerfield plädiert auch er gegen eine Etikettierung und bevormundende Behandlung. Shay empfiehlt, daß wir Trauma-Überlebende resozialisieren, um sozial akzeptable Verhaltensmuster zu fördern. Als mögliche Präzedenzfälle nennt er das klassische griechische Theater und die in der Ilias beschriebene kollektive Trauer. In "Odysseus in America" schreibt er über „den Kreis der Kommunalisierung von Traumata“: „Wenn Trauma-Überlebende hören, daß genug von der Wahrheit ihrer Erfahrung verstanden, erinnert und mit genügend Treue nacherzählt wird, um etwas von dieser Wahrheit mitzutragen ... dann wird der Kreis der Vergemeinschaftung geschlossen."
Shay argues that PTSD is not an illness but the persistence of adaptive behaviors needed to survive in a stressful environment. For example, emotional numbing is useful in a disaster situation and maladaptive in a family setting, and loss of trust enhances survival in a prison but not in a community setting. Like Derek Summerfield, he also argues against labeling and patronizing treatment. Shay recommends that we resocialize trauma survivors as a means of promoting socially acceptable behavior patterns.[16] He cites classical Greek theater[12] and the collective mourning described in the Iliad as possible precedents. In Odysseus in America he writes of "the circle of communalization of trauma": "When trauma survivors hear that enough of the truth of their experience has been understood, remembered and retold with enough fidelity to carry some of this truth ... then the circle of communalization is complete."

Das Wesentliche also in diesem Prozeß ist das Mitteilen und das Zuhören. Wenn in unserer Familie vom Krieg erzählt wurde, dann wurden alle ganz still. Alle waren beim Erzählenden, beim Erzählten. Es war viel Schreckliches passiert.

Aber es gab und gibt Familien, in denen über Generationen hinweg über Krieg nicht gesprochen wurde. Entweder wurde gar nichts mitgeteilt oder die Art der Mitteilung hat jene, die hören sollten, überfordert, was erneut zu Schweigen führt. Die Frage, wie wir miteinander ins Sprechen kommen, ins "Ehrliche Mitteilen" ist eine ganz entscheidende Frage für jede Gesellschaft, die leben, überleben will und nicht zugrunde gehen will. 

Über die Vorgeschichte der Völker lernen wir gerade, daß sie voller Grausamkeit war. Daß immer wieder ganze Völker sprichwörtlich ausgerottet wurden oder - aufgrund irgendwelcher Umstände - ausgestorben sind. Und angesichts all dieses Schrecklichen fragt man sich: Wie sind die Menschen damals eigentlich alle mit den vielen Traumen umgegangen? Wie konnten sie diese heilen, um wieder lebensfähig zu sein? Es ist vielleicht sehr spannend, daß es gerade der keltische Kulturbereich zu sein scheint, in dem dem Hören, dem Zuhören offenbar ein größerer Wert zugemessen worden ist. Die Kelten waren Indogermanen, sie waren - wie andere Völker weltweit - Kopfjäger, sie kannten Gefangenenmorde, Menschenopfer. Sie haben in Kriegen untereinander viel Traumata angerichtet - und ebenso auch gegenüber anderen Völkern und Kulturbereichen. Wie konnten sie all die Traumata verarbeiten? Und ebenso so viele andere Völker?   

"Er tat seinen Mund auf und sprach," lautet eine Formulierung, die sich schon in den Dichtungen Babyloniens findet (7, S. 215)

Sprechen und Zuhören waren in vielen Völkern der Vorgeschichte heilige Akte. Das "Höret, was ich euch zu sagen habe" mag auch eine Formulierung gewesen sein, mit der in der Völkergeschichte Jahrtausende lang das Reden von Mensch zu Mensch eingeleitet worden ist. 

Für den vorgeschichtlichen Menschen war also - weitaus mehr als für den heutigen - sowohl das Sprechen wie das Hören ein bedeutungsvolles Ereignis. Alles kulturelle Wissen wurde - so war dem Menschen der Vorzeit bewußt - über das Hören weiter gegeben an die nächste Generation. Auch die Gesänge etwa des Orpheus oder des Homer waren ja für die Ohren von Hörenden bestimmt, nicht für die Augen von Lesenden. Nicht zuletzt deshalb sicherlich auch ihr "hoher Ton". Diese Gesänge wurden deklamiert, sie wurden vorgetragen, sie versetzten in eine andere, "gehobene" Erlebens-Sphäre. Und sie sollten dies. Sie sollten "wieder klingen" bei den Menschen, in die Stille, in den Raum hinein, den diese Menschen ihnen gaben - durch Zuhören.

Der keltische Gott der Beredsamkeit - Ogmios

[12.5.23, Ergänzung] Über den griechischen Satyriker Lukian von Samosata (120 bis 200 n. Ztr.) (Wiki) ist eine wertvolle Schilderung und Deutung des keltischen Gottes Ogmios überliefert, an der er sich selbst in höherem Alter in seiner Erzählung "Herkules" folgendermaßen aufrichtet (WikiSource): 

Die Gallier nennen den Herkules in ihrer Sprache Ogmius, und geben auf ihren Gemälden diesem Gotte ein höchst abenteuerliches Aussehen. Er erscheint hier als ein hochbetagter Greis mit einer tiefen Glatze und eisgrauen Haaren, so viel er deren noch übrig hat, und einem von Runzeln durchfurchten, und von der Sonne schwarz gebrannten Angesicht, gerade wie sonst alte Seeleute auszusehen pflegen; so daß man einen Charon, Iapetus, oder irgend einen andern Bewohner des Tartarus, kurz alles Andere eher, als einen Herkules in ihm vermuten sollte. Allein ungeachtet dieses Aussehens trägt er doch die ganze Ausrüstung eines Herkules. Er hat die Löwenhaut um, die Keule in der Rechten, den Köcher auf der Schulter, und hält in der Linken den gespannten Bogen – ist also in so weit ganz der echte Herkules.
Ich glaubte anfänglich, die Gallier hätten durch diese seltsame Gestalt die griechischen Götter lächerlich machen, und besonders durch ein solches Gemälde sich an Herkules rächen wollen, weil dieser einst, als er die Abendlande durchzog, um die Herden des Geryones zu suchen, auch ihr Land mit Plünderung heimgesucht hatte.
Doch das Sonderbarste an diesem Bilde kommt noch. Jener hochbetagte Herkules führt nämlich eine ungemein große Menge Menschen hinter sich her, die er sämtlich an den Ohren gebunden hält. Die Bande selbst aber sind ungemein fein gearbeitete Ketten aus Gold und Bernstein, und gleichen dem schönsten Halsgeschmeide. So schwach diese Fesseln sind, denkt doch keiner an Flucht, die doch so leicht wäre. Nicht einmal einiges Widerstreben, dem Zuge zu folgen, zeigen sie; sondern alle laufen munter und lustig hinterher, jauchzen ihrem Führer Beifall zu, und drängen sich sogar vorwärts, so daß die Ketten ganz schlaff an ihnen herabhängen, und es unverkennbar ist, wie leid es ihnen wäre, wenn er sie los ließe. Das Allerseltsamste aber ist, daß der Maler, der ihm die Enden der Ketten nicht in die Hände geben konnte, indem er schon in der einen die Keule, in der andern den Bogen hält, die Zungenspitze des Gottes durchlöchert und sie dort befestigt hat. So zieht nun dieser den ganzen Haufen mit sich, indem er den Kopf nach ihnen zurückdreht und ihnen freundlich zulächelt.
Voller Verwunderung stand ich einst lange vor diesem Gemälde, und fing an ungeduldig zu werden, weil ich es mir nicht zu deuten wußte. Da trat ein in einheimischer Weisheit vermutlich wohl unterrichteter Gallier zu mir, der, wie sich zeigte, auch in unserer Literatur nicht unbewandert war, und das Griechische sehr rein und geläufig sprach. "Ich will," hob er an, "dir das Räthsel dieses Bildes lösen, Fremdling, weil du ja doch, wie ich sehe, damit nicht zurecht kommen kannst. Wisse denn, daß bei uns Galliern nicht Merkur für den Gott der Beredtsamkeit gilt, wie bei euch Griechen, sondern Herkules, weil dieser ja weit stärker ist als jener. Daß er aber als Greis abgebildet ist, darf dich nicht befremden. Denn die Kraft zu reden ist es ja allein, die sich im höheren Alter in ihrer vollen Reife zeigt; wie denn auch eure Dichter sehr richtig sagen: 
"Stets ja flattert das Herz den Jünglingen - -" (Ilias III, 108.) 
Dagegen wird das Alter stets 
"Weit mehr, denn junge Leute, klugen Rat erseh’n".
Fließt ja doch honigsüß die Rede aus dem Mund eures Nestor, und die liebliche Rede der Trojischen Ältesten wird verglichen mit der Lilienblüte: Lilie aber heißt bei euch, wenn ich mich recht erinnere, eine Blumengattung.
Daß also dieser alte Herkules, d. h. die [personifizirte] Beredtsamkeit, die Menschen mittelst ihrer Ohren an seine Zunge gebunden hat und so nach sich zieht, ist, bei der nahen Verwandtschaft der Zunge und der Ohren, nicht zu verwundern. Es liegt durchaus kein Spott gegen ihn darin, daß jene durchlöchert dargestellt ist. Ich erinnere mich, die Verse eines eurer Komiker gelesen zu haben:
"– – – – denn die Zungenspitze ist
Den redesel’gen Leuten allen durchgebohrt."
Überhaupt sind, wir des Glauben, Herkules habe, als ein Mann von großer Weisheit, das meiste, was er getan, nicht sowohl durch Stärke, als durch des Wortes und der Überredung Gewalt ausgeführt. Seine Geschosse sind, dünkt mich, eindringliche, wohlgezielte, schnell treffende Worte, welche tief in den Gemütern der Hörenden haften; wie ihr denn selbst auch von geflügelten Worten sprechet.“ So weit mein Gallier.
Wie mir also neulich mein Entschluß, hier vor euch aufzutreten, das Bedenken erregte, ob es auch geraten sei, in meinen Jahren, und nachdem ich schon seit so langer Zeit meine öffentlichen Vorlesungen eingestellt hatte, mich abermals dem Urteile so vieler Richter auszusetzen, so kam mir recht zur guten Stunde die Erinnerung an jenes Gemälde in den Sinn. Denn ich war in der Tat sehr ängstlich gewesen, man möchte mein Vorhaben für ein jugendliches Wagestück ansehen, das meinem Alter sehr schlecht anstände; und irgend ein Homerischer Jüngling könnte mich mit den Worten schelten:
"Deine Kraft ist gelöst, und mühsames Alter beschwert dich;
Auch ist schwach dein Wagengefährt’ und müde die Rosse" (Ilias VIII, 103.),
einen spottenden Blick dabei auf meine Beine werfend. Aber jetzt brauche ich mich nur an jenen greisenhaften Herkules zu erinnern, um Mut zu Allem zu fühlen, und, als ein Altersgenosse jenes gemalten Gottes, vor einem solchen Wagestück mich nicht mehr zu erblöden.
So fahret denn wohl, Stärke, Schnelligkeit, Schönheit und alle ihr Vorzüge des Körpers: und auch dein Amor, Tejischer Sänger, schwinge immer sein Goldfieder bei’m Anblick meiner erbleichenden Haare, und flattre schneller als ein Adler davon: "was kümmert das den Hippoklides?" Für mich ist’s jetzt an der Zeit, in meinen Vorträgen mich wieder zu verjüngen, und hier eine Kraft zu zeigen, die jetzt erst in ihrer Blüte steht, indem ich so viele Ohren, als ich nur immer kann, an mich fessle, und reichliche Geschosse der Worte entsende, an welchen mein voller Köcher mich keinen Mangel befürchten läßt. - Du siehst, wie ich mich über mein hohes Alter zu trösten weiß. Aber diese Vorstellung gab mir Mut, mein längst angelegt gewesenes Schiffchen wieder flott zu machen, und nach bestem Vermögen ausgerüstet der hohen See abermals anzuvertrauen. Sendet guten Wind zur Fahrt, ihr Götter! Denn mehr als je bedarf ich des günstigen Hauches, der meine Segel schwelle; damit man auch mir einst, wenn ich’s je verdiene, jene Homerischen Worte zurufe:
"Welche stattliche Lende der Greis aus den Lumpen hervor streckt!"

Das sind schöne Worte und immer noch ganz im antik-griechischen Geist des 2. Jahrhunderts n. Ztr. geschrieben, obwohl dieser damals schon in der Ausbreitung von orientalischen Mysterienkulten zugrunde zu gehen begann (s. Wiki). So findet man es auch auf den Wikipedia-Einträgen zu Ogmios erwähnt (Wiki, engl). [Ende Ergänzung]

Die Macht des Gesanges - Orpheus

Nicht die Macht der Beredsamkeit, aber die Macht des Gesanges ist ja der Kerninhalt der Orpheus-Verehrung in der Antike. Auf einer der ältesten Darstellungen, die uns von Orpheus aus der Antike überliefert sind, sind alle Dargestellten als Hörende dargestellt (Abb. 3). Die Verehrung von Orpheus hat in der Antike eine ebenso große Rolle gespielt wie die Verehrung des Homer. Davon war in der Antike sogar eine ganze religionsgeschichtliche Bewegung getragen gewesen, auf die dann - deshalb - auch noch die Juden und Christen in aneignender oder polemischer Weise Bezug genommen haben (Stgen2022). Wenn Orpheus seine "Stimme erhob", lauschten nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere, die Pflanzen, selbst die Steine bekamen Ohren.

Man erinnere sich auch an die getragenen, inhaltsschweren Worte (antik-)griechischer Tragödien. Das Sagen und das Hören - sie hatten Gewicht, sie waren voller Inhalt.

Das Hören fand auch nicht nur von Mensch zu Mensch statt. Die Stimme der Götter wurde über das Hören vernehmlich. In der Ilias hören die Helden die Stimmen von Göttinen und Göttern. In der Bibel sprechen Gott, Engel und Teufel mit dem handelnden Personal. Sie raten ihnen zu, sie raten ihnen ab, sie drohen, sie verheißen, sie verdammen, sie belohnen. Etwas milder als in der Bibel findet das Gespräch zwischen Menschen und Göttern in der Edda statt. Auch in deutschen Heldensagen findet sich Vergleichbares: Held Siegfried "hört" die Stimmen der Vögel, nachdem er im Drachenblut gebadet hat. Dieser enge Austausch von Menschen und Göttern ist übrigens auch schon für Sargon von Akkad (2356 bis 2300 v. Ztr.) bezeugt (Wiki):

Die Sumerische Sargonlegende handelt davon, daß die Göttin Inanna beschlossen hat, daß Sargon König werden soll. So treten Vorzeichen dafür auf, daß der Mundschenk den regierenden Herrscher ablösen wird. Alle Gegenmaßnahmen, die Ur-Zababa ergreift, werden von der Göttin vereitelt. 

Eine Göttin greift hier ebenso selbstverständlich in die Handlungen der Menschen ein - und ebenso entscheidend - wie noch über tausend Jahre später in der "Ilias", bzw. wie zweittausend Jahre später in der Bibel.

Auch daß man sich im Zweifelsfall gegenüber verführerischen Gesängen, Reden und Ratschlägen schützen muß, die "Ohren verstopfen" muß, wußten schon die Menschen der Vorzeit und der Antike. Odysseus verstopfte sich die Ohren vor den Gesängen der Sirenen (GAj2021). Unter den germanischen Göttern war Loki derjenige, der "das meiste Übel rät".

Die großen Ohren des Keltenfürsten vom Glauberg - entdeckt 1994

Warum sollte es es angesichts dieser Bedeutung des Hörens für den vorgeschichtlichen Menschen eigentlich verwundern, daß ein solches Hören auch einmal in vergleichsweise frühen Phasen der Kunst zur Darstellung gekommen ist (Beispiele: Abb. 1, 2)?

Abb. 2: Die Sandsteinfigur des Fürsten vom Glauberg in Mittelhessen, 500 v. Ztr. (Wiki)

Die "großen Ohren" der 1994 entdeckten Steinfigur des Keltenfürsten vom Glauberg in Mittelhessen aus der Zeit um 500 v. Ztr. (Wiki): Könnte es - endlich - eine etwas befriedigendere Erklärung geben für die wunderlich "großen Ohren" dieser Steinfigur? Womöglich sogar eine sehr gute, sehr befriedigende, einleuchtende, nun, auch naheliegende Erklärung?

Dem Wikipedia-Artikel zur sogenannten "Keltischen Blattkrone" (Wiki), mit dem diese Steinfigur - wie andere solche Steinfiguren ähnlicher Zeit - geschmückt zu sein scheint, ist nämlich zu entnehmen, daß eine besonders plausible Erklärung für diese Kopfbedeckung zwar noch keineswegs gefunden worden ist. Das war uns ja auch bekannt. Neuerdings finden wir aber auf dem Wikipedia-Artikel auch den - für uns neuen - Hinweis auf das "Reinheimer Pferdchen", das sich auf dem Deckel der "Reinheimer Kanne" findet, enthalten in einem keltischen Fürstinnengrab bei Reinheim im Saarland aus der Zeit um 370 v. Ztr. (Wiki). Und dieses Pferdchen nun - - - weist ebenfalls "große Ohren" auf (Wiki) (Abb. 1).

Dieser Befund ist eindrucksvoll.

Als wenn dieses Pferdchen nicht geradezu als ein Sinnbild für das Hören in der Vorgeschichte gelten könnte. Unser Gedanke: Vielleicht sind "große Ohren" einfach ein Zeichen dafür, daß eine mächtige Gottheit, mit der der Fürst in Verbindung steht, "alles hört" und deshalb - wie das Dichterpferd Pegasus - "inspiriert" ist, möglicherweise vor allem vom Rauschen der Blätter der Bäume Heiliger Haine.

Denn: Es werden ja auch Blätter in Zusammenhang mit diesem Kopfschmuck angedeutet und der Baumkult der Kelten ist ja auch sonst gut bekannt (4). Erst vor vier Wochen beschäftigten wir uns hier auf dem Blog mit den keltoromanischen Jupiter-Giganten-Säulen, in denen die Erinnerung an die vormalige, gut bezeugte Verehrung Heiliger Bäume durch die Kelten nachklingt (4).  

Ein Zeichen für "der Seherin Gesicht" .... ?

Weiterer Gedanke: Womöglich sind die großen Ohren ein Zeichen für der "Seherin Gesicht" (Wiki), die ja auch einen - - - Eschenbaum (Wiki) kennt. Und wie wunderbar, jetzt schon auf Wikipedia sehr schnell den Text der Edda-Übersetzung von Simrock aus dem Jahr 1876 zugänglich zu haben. Wir HÖREN (!!!) ihrer "Schau" (zit. n. Wiki) .....

Allen Edeln   gebiet ich Andacht,  
Hohen und Niedern   von Heimdalls Geschlecht;
Ich will Walvaters   Wirken künden,
Die ältesten Sagen,   der ich mich entsinne.

(...)
Eine Esche weiß ich,   heißt Yggdrasil,
Den hohen Baum netzt   weißer Nebel; 
Daher kommt der Tau,   der in die Täler fällt.
Immergrün steht er   am Brunnen der Urd.
 
Daher kommen Frauen,   vielwissende, 
Drei aus dem See   dort unterm Wipfel.
Urd heißt die eine,   die andre Werdandi: 
Sie schnitten Stäbe;   Skuld hieß die dritte.
Sie legten Lose,   das Leben bestimmten sie
Den Geschlechtern der Menschen,   das Schicksal verkündend.
 
Allein saß sie außen,   da der Alte kam,
Der grübelnde Ase,   und ihr ins Auge sah.
Warum fragt ihr mich?   was erforscht ihr mich?
 
Alles weiß ich, Odin,   wo du dein Auge bargst:
In der vielbekannten   Quelle Mimirs.
Met trinkt Mimir   allmorgentlich
Aus Walvaters Pfand!   wißt ihr was das bedeutet?

Ihr gab Heervater   Halsband und Ringe
Für goldene Sprüche   und spähenden Sinn.
Denn weit und breit sah sie   über die Welten all.

An anderer Stelle in den Edda-Überlieferungen werden die Inhalte dieser Schau noch einmal in Prosa-Form erläutert (Wiki): 

... Da fragte Gangleri: Wo ist der Götter vornehmster und heiligster Aufenthalt? Har antwortete: Das ist bei der Esche Yggdrasils: da sollen die Götter täglich Gericht halten. Da fragte Gangleri: Was ist von diesem Ort zu berichten? Da antwortete Jafnhar: Diese Esche ist der größte und beste von allen Bäumen: seine Zweige breiten sich über die ganze Welt und reichen hinauf über den Himmel. Drei Wurzeln halten den Baum aufrecht, die sich weit ausdehnen: die eine zu den Asen, die andere zu den Hrimthursen, wo vormals Ginnungagap war; die dritte steht über Niflheim, und unter dieser Wurzel ist Hwergelmir und Nidhöggr nagt von unten auf an ihr. Bei der andern Wurzel hingegen, welche sich zu den Hrimthursen erstreckt, ist Mimirs Brunnen, worin Weisheit und Verstand verborgen sind. Der Eigner des Brunnens heißt Mimir, und ist voller Weisheit, weil er täglich von dem Brunnen aus dem Giallarhorn trinkt. Einst kam Allvater dahin und verlangte einen Trunk aus dem Brunnen, erhielt ihn aber nicht eher bis er sein Auge zum Pfand setzte. So heißt es in der Wöluspa:
Alles weiß ich, Odin,   wo dein Auge blieb: 
In der vielbekannten   Quelle Mimirs. 
Met trinkt Mimir   jeden Morgen 
Aus Walvaters Pfand:   wißt ihr was das bedeutet?  
Unter der dritten Wurzel der Esche, die zum Himmel geht, ist ein Brunnen, der sehr heilig ist, Urds Brunnen genannt: da haben die Götter ihre Gerichtsstätte. (...) Dies Wasser ist so heilig, daß alles, was in den Brunnen kommt, so weiß wird wie die Haut, die inwendig in der Eierschale liegt.

Wir sehen hier, daß im germanischen Mythos der Gott Odin ein Auge lassen mußte, um "sehend" zu werden, um Weisheit zu erlangen. Wenn hier dem Auge eine solch große Bedeutung zugemessen worden ist, um allwissend zu werden - warum sollte dann nicht - in verwandten indogermanischen, kulturellen Zusammenhängen - auch dem Ohr eine große Rolle zugemessen worden sein beim Erlangen von Weisheit? Nebenbei sei erwähnt, daß dieser Welteneschen-Mythos auch in der Philosophie des 20. Jahrhunderts Deutung gefunden hat (6).

Abb. 3: Orpheus unter den Thrakern, Mitte 5. Jhdt. v. Ztr., Athen - Rotfigurige Vasenmalerei - Orpheus mit siebensaitiger Lyra dargestellt

Und sind dem Mythos in den weiteren Ausführungen nicht auch alle die Pferde - mit Namen - wichtig, auf denen die Götter zum Rat an der Weltenesche reiten? Nur Thor geht zu Fuß. Ach, und das "Reinheimer Pferdchen" ist ja auch ein Pferd (Abb. 1). Es lauscht mit dem Gesicht eines Menschen und den Ohren - womöglich - eines Gottes. Aber worauf? 

Wäre es nicht ein schöner Gedanke, mit den großen Ohren eines klugen Pferdes auf "der Seherin Gesicht" zu hören ....? In früheren Jahrtausenden fühlten sich die Menschen den Tieren womöglich noch mehr verbunden. Sie sprachen ihnen heilige Bedeutung zu, den Pferden, den Vögeln. Aber was erfahren wir noch, wenn mit "big ears prehistory" und ähnlichen Worten suchen? Ausgerechnet im 6. Jahrhundert v. Ztr. beginnen mehrere griechische Völkerkundler und Geographen, zuerst Sylax, von "Panoti", von "Ohrenmenschen" zu berichten (Wiki):

Skylax schreibt den Panoti schaufelgroße Ohren zu, laut Ktesias reichen deren Ohren um den Rücken und bis zum Ellenbogen. Nach Megastehenes schlafen diese Menschen auch auf ihren Ohren. Spätere klassische Autoren wiesen den Panoti als Heimat eine Insel im nördlichen Ozean zu oder ließen sie in Skytien leben. 

Auch Plinius der Ältere schreibt von ihnen (Wiki).

Und 1994 graben deutsche Archäologen - grob gesehen in jenem "Skythien" - einen solchen ersten "Ohrenmenschen" aus. Auf diese überraschende Übereinstimmung machte übrigens schon ein belgischer Arzt und Forschender 2005/2006 aufmerksam (5).

Ein Wikingerteppich aus dem Jahr 1270 n. Ztr.

Schauen wir uns noch ein wenig weiter um zu Darstellungen von inspirierten Menschen oder Göttern mit "großen Ohren", die - womöglich - in einen solchen Zusammenhang eingeordnet werden könnten. 1909 wurden fünf sehr alte Wandteppiche in einer schwedischen Kirche in Överhogdal gefunden (Wiki). Die Ortschaft liegt 430 Kilometer nördlich von Stockholm. Die Wandteppiche waren um das Jahr 1000 n. Ztr. herum entstanden, also in der Zeit der Christianisierung. Drei von ihnen scheinen in ihrer Mitte die Weltenesche darzustellen. Außerdem finden sich auf zwei dieser Wandteppiche Wikingerschiffe dargestellt und auf drei Wandteppichen unterschiedliche Gebäude: Kirchen, Versammlungsgebäude. Hirsche und Rentiere bilden die weiteren Inhalte der Darstellung (so wie auf berühmten skythischen Teppichen), vielleicht auch Fabelwesen (der achtbeinige Sleipnir?), sowie auch mehrere Reiter. Einer der Teppiche weist aber auch nur Muster auf.

1912 wurde dann aber in einer Kirche in Skog in Schweden, 230 Kilometer nördlich von Stockholm, ein Wandteppich aus der Zeit um 1270 n. Ztr. (Wiki) entdeckt, also aus dem Hochmittelalter und aus jener Zeit, in der christliche Gelehrte in Skandinavien die alten heidnischen Überlieferungen aufschrieben. Dieser Teppich ist vielleicht noch interessanter (Abb. 4).

Abb. 4: Möglicherweise Odin, Thor und Freya - Auf einem Wandteppich in Skog in Schweden, um 1270 n. Ztr.

In der Mitte dieses Wandteppichs scheinen zwei prächtigere Holzgebäude abgebildet zu sein, von denen das rechte einen Glockenturm darstellen dürfte (bekrönt von einem christlichen Kreuz, drei Figuren ziehen an den Glockenseilen). Im linken Gebäude stehen fünf Hauptfiguren, von denen zwei ebenfalls eine kleine Glocke mit einem Glockenseil läuten. Bei den Gebäuden könnte es sich um mittelalterliche skandinavische Stabkirchen handeln, um die sich die Gemeinden versammelt haben. Am Dach der Kirchen befinden sich Drachenköpfe. Die Gebäude scheinen umgeben zu sein von Hühnern. 

Links und rechts von diesem Mittelfeld scheinen größere Fabelwesen abgebildet zu sein, Löwen, Drachen oder Greifen, und zwar auf jeder Seite mindestens sieben, zwischen ihnen jeweils aber noch kleinere Fabelwesen mit denselben Umrissen. Zwischen den Fabelwesen stehen auch weitere menschliche Gestalten. Mit ihnen könnte man versucht haben, "Feinde" der Kirche darzustellen, die den Bestand der Kirche gefährden, vielleicht alte heidnische Kräfte (die ja damals im östlichen Bereich der Ostsee noch recht lebendig waren, übrigens).

Ganz links von den Fabelwesen stehen dann drei mythisch aussehende Gestalten, eine mit einem Beil, eine mit einer Streitaxt und eine dritte vielleicht  mit einer Spindel (?) (Abb. 1). Die Figur mit dem Beil hat nur ein Auge ... Zu ihren Füßen sind zwei Hunde abgebildet, im "Hintergrund" weitere kleinere Menschen und Tiere. Es gibt die Deutung, daß es sich um drei skandinavische Könige handeln könnte. Es gibt aber auch die Deutung, daß es sich um drei heidnische Götter - etwa: Odin, Thor und Freya (oder Freyr) - handeln könnte.

Was besonders auffällig erscheint: Bei allen dreien ist der Bereich der Ohren besonders hervorgehoben - durch irgend eine Art von Kopfschmuck, der nicht besonders leicht zu deuten und zu identifizieren ist. Etwa Hirschgeweihe wie sie - archäologisch vielfach bezeugt - von den mesolithischen Schamanen Nordeuropas und Osteuropas getragen worden sind?

Die Heilige Cäcilia

Wer sich über die Bedeutung des Hörens für die religiöse Haltung im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit interessiert, ist vermutlich immer gut beraten, sich bildenerische Darstellungen der Heiligen Cäcilia (Wiki) aus dieser Zeit durchzusehen.

Sie gilt in christlicher Zeit als die Schutzpatronin der Musik. Wir finden zahllose Gemälde der Kunstgeschichte, in der sie als ein andächtiger, auf die Musik hörender Mensch dargestellt ist. Der religiöse Mensch ist hier vor allem ein hörender Mensch. Das Hören wird als der "innigste" aller Sinne empfunden, die Musik geht von allen Künsten am direktesten zum Herzen. Religiöse Erhebung heißt "stille werden", nach innen hören, heißt aufnahmebereit werden, heißt, "große Ohren" bekommen.

Aber noch ein weiteres kann uns die Kunstgeschichte lehren: Der am innigsten mit Gott verbundene Mensch ist auch kein Hörender mehr. Diesen Umstand mag man sich - etwa - an Menschendarstellungen des Bildhauers und Bildschnitzers Tilman Riemenschneider vor Augen führen: Die Sinne sind hier nicht mehr der "Weg zu Gott". Der Mensch ist Gott, "bei" Gott.

Die Hongshan-Kultur (4.700-2.900 v. Ztr.) in der Mandschurei 

Es sei noch dargestellt, auf welch wunderlichen Wegen wir zu den Gedanken dieses Blogartikels überhaupt gekommen sind.  Wir haben uns mit der weltgeschichtlich womöglich nicht ganz unbedeutenden Hongshan-Kultur (4.700-2.900 v. Ztr.) (Wiki) des Mittelneolithikums in der Mandschurei beschäftigt (Stgen15.11.2021). Hier wird neuerdings der ethnische, genetische und sprachliche Ursprung nicht nur der Koreaner, Japaner, Mongolen und Tungusen vermutet, sondern auch derjenige der Turkvölker. (Übrigens wären das ja auch jene Völker, die ja nicht selten für die Ausbreitung des Odins-Glaubens bis hin zu den germanischen Stämmen im Westen verantwortlich gemacht werden, gemeinsam mit den Sarmaten und Alanen.)

Abb. 5: Tempel- und Grabanlage der Hongshan-Kultur bei Niuheliang (links), sowie zentrales Grab mit  geschnitztem Jadeschmuck von einer anderen Tempel- und Grabanlage (rechts) (Archäologisches Institut von Lianoning, Shenjang 2004) (aus: 2)

Dabei stoßen wir - eher nebenbei - auf eine Studie aus dem Jahr 2006, die auf die eindrucksvolle Tempel-, bzw. Grab-Anlage der Hongshan-Kultur bei Niuheliang (4700-2900 v. Ztr.) (Wiki) aufmerksam macht (2). Ein dort an zentraler Stelle begrabener König hat einen eindrucksvollen Jade-Kopfschmuck getragen (2) (s. Abb. 5).

Bei dem Anblick dieses Königs drängt es sich fast auf, diesen Kopfschmuck in Parallele zu setzen zu dem Kopfschmuck des Urvolkes der Indogermanen wie er sich in indogermanischen Kriegergräbern - wie in Warna in Rumänien oder Giurgiulești in Moldavien - um 4.500 v. Ztr. zeigt (3). Und bei solchen Parallelen möchte man dann gerne einmal einen Beitrag schreiben über solchen eindrucksvollen Kopfschmuck als Kennzeichen einer bestimmten, ursprünglicheren Phase der Kulturentwicklung der Menschheit, der Entwicklung gesellschaftlicher Komplexität in verschiedenen Teilen der Erde.

Und während wir nun noch darüber nachgesonnen haben, erinnerten wir uns an die "großen Ohren" der 1994 entdeckten Steinfigur des Keltenfürsten vom Glauberg in Mittelhessen aus der Zeit um 500 v. Ztr. (Wiki). War das ein Ohrenschmuck?

Zu dem Thema "Kopfschmuck in der Völkerkunde und Vorgeschichte" ganz allgemein wollen wir also bei Gelegenheit hier auf dem Blog auch noch Beiträge schreiben.

Das Hören bei den bronzezeitlichen Hurritern

Ergänzung 10.9.23: Im Königspalast von Urkesch (3.200 bis 1.500 v. Ztr.) (Wiki), einer Stadt in Nordsyrien, die vermutlich von den Hurritern gegründet worden ist, fand sich das folgende Siegel einer dortigen Königin (Abb. 6).

Abb. 6: Siegel aus der Stadt Urukesch, Nordsyrien, grob um 2000 v. Ztr. (?) (Urkesh

Wir lesen dazu  (Urkesh:

Ein Siegel der Königin Uqnitum gibt uns einen Einblick in eine musikalische Darbietung, wie sie im königlichen Palast von Urkesh stattgefunden haben wird. 

Der Akt des Hörens ist auch hier mit Betonung dargestellt. Er scheint für den bronzezeitlichen Menschen also noch etwas sehr Besonderes gewesen zu sein, und zwar womöglich in sehr vielen, sehr unterschiedlichen Kulturen.

__________________

  1. Klein, Gopal Norbert: Zuhören ist Heilig. Traumaheilung, 2018 (Yt)
  2. Patterned variation in prehistoric chiefdoms. Robert D. Drennan, Christian E. Peterson Proceedings of the National Academy of Sciences Mar 2006, 103 (11) 3960-3967; DOI: 10.1073/pnas.0510862103, https://www.pnas.org/content/103/11/3960.
  3. Bading, Ingo: Die Indogermanen des 5. Jahrtausends v. Ztr., 5/2021, https://studgendeutsch.blogspot.com/2021/05/die-indogermanen-des-5-jahrtausends-v.html
  4. Bading, Ingo:  Die Jupiter-Giganten-Säulen Ein eindrucksvolles Zeugnis der Religionspsychologie und Religionsgeschichte, 18/10/2021, https://studgendeutsch.blogspot.com/2021/10/die-jupiter-giganten-saulen.html
  5. Tainmont, T.: The Panoti and some other fantastic forms of macrotia. Presented at the meeting of the Royal Belgian Society of Ear, Nose, Throat, Head and Neck Surgery on 17 November 2005. In: B ENT, 2006 (pdf)
  6. Bading, Ingo: "Aus weiter Ferne komm ich her ...", Mai 2016, https://studiengruppe.blogspot.com/2016/05/aus-weiter-ferne-komm-ich-her.html
  7. Greßmann, Hugo (Hrsg.): Altorientalische Texte zum Alten Testament. 1909 (Archive); De Gruyter, Berlin 1926 (GB)
  8. An evolutionary theory of moral injury with insight from Turkana warriors. Matthew R. Zefferman, Sarah Mathew. In: Evolution and Human Behavior, Available online 16 July 2020 (Sciencedirect), https://doi.org/10.1016/j.evolhumbehav.2020.07.003, 
  9. William H. Race: Phaeacian Therapy in Homer’s Odyssey. In: Meineck, P., Konstan, D. (eds) Combat Trauma and the Ancient Greeks. The New Antiquity. Palgrave Macmillan, New York 2014, https://link.springer.com/book/10.1057/9781137398864, Pages 47-66

Sonntag, 24. März 2024

Germanen - Wer wir waren, bevor wir wurden, was wir sind

Die Schnurkeramiker breiteten sich entlang der West- und der Ostküste der Ostsee bis Schweden aus
- Die Germanen aus Sicht der Archäogenetik (3.000 bis 500 v. Ztr.)

Im Rijksmuseum in Amsterdam hängt es, das Wandgemälde "Willibrords Predigt an die Friesen" (Abb. 1) (Wiki). Entstanden ist es um 1885 herum. Dargestellt sind germanische Menschen inmitten einer Umbruchzeit

Abb. 1: Willibrord predigt den Friesen das Christentum (1885) - Ausschnitt eines Wandgemäldes im Rijksmuseum in Amsterdam gemalt von Georg Sturm (1855-1923) (Wiki

Der Missionar Willibrord (658-739) (Wiki) war selbst Germane, Angelsachse. Ebenso wie Georg Sturm, der Maler. Im Gemälde kommt aber nun gar nicht zum Ausdruck, daß die politische und militärische Machterweiterung des Frankenreiches einerseits und die Annahme des Christentums auch in Friesland andererseits zu jeder Zeit miteinander Hand in Hand gegangen sind. Die Annahme des Christentums beruhte in der Regel nicht auf innerer Überzeugung. Im Gemälde spiegelt sich eher die Haltung, die sich 1250 Jahre später gegenüber dem Christentum heraus gebildet hatte: Auf den Gesichtern spiegelt sich, was diese 1250 Folgejahre mit sich bringen sollten: Andacht, Aufbruch, Zweifel, Ärgernis, Mißfallen. Auf den Gesichtern spiegelt sich die Besinnung vor der Tat und dem Erleben der vielen folgenden Jahrhunderte.

Dieses Gemälde ist auch sonst quasi "zeitlos", Neudeutsch: "unhistorisch": Schmuck, Kleidung und Haartracht der Männer stammen aus ganz unterschiedlichen Epochen, aus der Bronzezeit, aus der Eisenzeit. Vielleicht entsteht aber gerade durch eine Zusammenschau all der genannten langen Zeiträume eine Ahnung von dem, was "Germanen" insgesamt sind. Versuchen wir eine kurze Zusammenschau:

Eine glanzvolle "Nordische Bronzezeit" (Wiki, engl) sollte viele Jahrhunderte lang bestehen. In dieser sollte es auffallende Verbindungen gerade mit den Königen der mykenischen Palastkultur in Griechenland geben, vornehmlich wohl durch germanische Söldner (Stgen2022). Jahrhunderte lange Griechenlandfahrten sollten aber zum Beispiel gar keine Auswirkungen haben auf den Schiffbau in Skandinavien, der dort bis zu Beginn der Wikingerzeit weder Ruder noch Segel kannte. Das Langsteven-Kriegspaddelboot der Skandinavier wurden vielmehr auf vielen Felszeichnungen verherrlicht. Es scheint auch religiös eine große Rolle gespielt zu haben. Prachtvolle Flottenparaden muß es damals auf der Meerenge zwischen Dänemark und Schweden gegeben haben, dort, wo es die meisten Felsbilder von ihnen gibt (Stgen2022).

In dieser Zeit relativer germanischer Abgeschiedenheit sollten die südlich benachbarten Kelten in viel dynamischerer Weise Weltgeschichte gestalten. Ihrer mehrmaligen Ankunft auf den britischen Inseln, in Spanien und in Italien sind wir schon andernorts nachgegangen (Stgen2021). Vermutlich waren sie schon die Träger der Aunjetitzer Kultur, die Volkssternwarten, Goldhüte und die Himmelscheibe von Nebra hervor brachte. Die Kelten unternahmen wiederholte Ausgriffe auch auf den Balkan und anzunehmender Weise nach Schlesien und bis nach Mecklenburg hinein (als "Lausitzer Kultur"). Sie sollten insbesondere auch - anzunehmender Weise - das tragende Element bilden des Seevölkersturmes von 1200 v. Ztr., nachdem die vereinigten Germanen die auch nach Norden ausgreifenden Kelten in der Schlacht an der Tollense in Mecklenburg um 1250 v. Ztr. (Wiki) zurück gewiesen hatten (Stgen2019).

Erst in der Eisenzeit begann das, was völkische Geschichtsschreibung vor hundert Jahren für Weltgeschichte an sich gehalten hatte, nämlich daß "Welle um Welle" germanische Völker aus dem skandinavischen Raum heraus nach Süden aufgebrochen seien. Erst jetzt begann der eigentliche Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte, so schält sich mit der Archäogenetik inzwischen deutlich heraus. Insbesondere jetzt durch eine neue Studie aus dem Archäogenetik-Labor von Eske Willerslev in Dänemark, deren Inhalte im folgenden zu referieren sind (1).

Die Germanen stammen von den Schnurkeramikern ab - Die Kelten stammen von den Glockenbecher-Leuten ab

Da es um 2.350 v. Ztr. einen Ausgriff der Glockenbecher-Kultur nicht nur nach England, sondern auch bis nach Norwegen hinauf gab (Stgen2022), war sich die Forschung bis heute nicht klar darüber, ob die heutige germanische Sprache mit den zuvor schon in Skandinavien siedelnden Schnurkeramikern dorthin gekommen war oder erst mit dieser zweiten indogermanischen Zuwanderung. Aber das ist wohl eines der wichtigsten Ergebnisse der Studie: Glockenbecher-Gene finden sich in Skandinavien nicht vor der Wikingerzeit. Der Ausgriff nach Norwegen um 2.350 v. Ztr. hat populationsgenetisch keine Nachwirkungen hinterlassen (1). 

Vielmehr scheint sich mit dieser Studie zu bewahrheiten, was eigentlich schon lange offen vor den Augen der Forscher und geschichtlich Interessierten lag, was man sich aber so einfach bislang nicht hatte denken wollen: Die Germanen stammen von den Schnurkeramikern ab, die Kelten stammen von den Glockenbecher-Leuten ab. Punkt. Fertig. Und diese neue Studie macht auf diese lange Kontinuität der Herkunfts-, Sprach- und Kulturgrenze zwischen den Kelten im Süden (und Westen) und den Germanen im Norden (und Osten) Europas aufmerksam. Diese Grenze hatte sich schon im Spätneolithikum heraus gebildet (Abb. 2). Wie viel vorherige Unklarheit sich allein durch diese eine Erkenntnis klärt.

Wieder einmal gehen Kultur und Gene viel enger miteinander zusammen in der Ausbreitung als so lange, lange Jahrzehnte von der Forschung angenommen worden war. Schon wieder einmal hopst der alte, bärbeißige Germanen-Bewunderer Gustaf Kossinna vor Vergnügen im Dreieck dort droben im Himmel (s. Stgen2017).

Abb. 2: Kelten und Germanen - Glockenbecherleute und Schnurkeramiker (aus 1) - (Individuen mit weniger als 10% Steppenherkunft oder weniger als 66% von einer der Herkunftsgruppen werden durch ein 'x' gekennzeichnet)

Diese Grenze wurde nämlich schon mit der Ausbreitung der Schnurkeramiker einerseits und der Ausbreitung der Glockenbecherleute andererseits begründet. Das genetische Profil der Menschen der jeweiligen Kultur - sichtbar in der "Hauptkomponenten-Analyse" - weist zwar viele Überschneidungen mit dem der anderen Kultur auf, ist sich also recht ähnlich. Es waren ja beides indogermanische Kulturen, die von der Jamnaja-Kultur abstammten. Aber bei genauerem Hinschauen weisen beide außerdem auch noch markant andere Verteilungsmuster (Häufigkeitsmuster) auf. Weshalb beide Großvölker, Großkulturen sich inzwischen auch genetisch recht gut unterscheiden lassen (Abb. 2).

Diese Jahrtausende lange Grenze hat sich erst in der Völkerwanderung ab 375 v. Ztr. (!) stärker verwischt. Im Groben dauert sie aber sogar bis heute fort. Wenn sich auch die germanischen Sprachen seither auf Kosten der keltischen Sprachen durchgesetzt haben. Wir lesen darüber in der Studie (1):

Unabhängig von den Clustern läßt sich ab der späten Bronzezeit die Steppen-Abstammung fast aller Europäer gut modellieren anhand entweder der nördlichen Schnurkeramiker- oder der Glockenbecher-Herkunft (hier: Abb. 2). Fast alle Proben, die modelliert wurden vorwiegend mit Schnurkeramiker-, Glockenbecher- und Jamanaja-Verwandte-Vorfahren, fallen in die Regionen, die durch die jeweilige Kultur aus der archäologischen Literatur schon vorgegeben ist (Abb. 2).
Die Grenze zwischen diesen Schnurkeramiker- und Glockenbecher-Vorfahren blieb während der gesamten Eisenzeit bis zum Untergang des Römischen Reiches relativ stabil (Abb. 2). Ab der Völkerwanderungszeit beobachten wir eine Verschiebung dieser Grenzen nach Süden.
By the late Bronze Age onwards, irrespective of clusters, the Steppe ancestry in almost all Europeans can be well modelled by Northern Corded Ware or the Bell Beaker sources (Figure 4). Almost all samples modelled primarily as Corded Ware, Bell Beaker and Yamanaya-related ancestry fall within the regions prescribed to each culture in the archaeological literature (Figure 4).
The border between these Corded Ware and Bell Beaker Steppe ancestries remains relatively stable throughout the Iron Age, until the fall of the Roman Empire (Figure 4). Beginning in the Migration Period, we see a southward shift of these borders.

In diesen Worten spiegelt sich wieder, daß die Germanen in Skandinavien Jahrtausende lang keine Ausgriffe nach Süden oder Westen oder Osten unternommen haben, sondern daß sie einfach nur für sich gelebt haben und ihre Heimat behauptet haben. Es hat also seit der ersten Ausbreitung der Indogermanen bezüglich ihrer Grenze zu den Kelten keine besonders grundlegenden Völkerbewegungen und -veränderungen mehr gegeben - bis zur Völkerwanderung ab 375 n. Ztr.!

Was für eine erstaunliche Tatsache!

Glockenbecherleute und Schnurkeramiker verschmolzen zur Aunjetizer Kultur

Einschränkend und differenzierend muß aber bei genauerem Blick auf die obere Karte in Abb. 2 - und in Ergänzung zum Fließtext der Studie - gesagt werden: Innerhalb einer Region umgrenzt von den Eckpunkten Harz, Südpolen, Ungarn und der Bodenseeregion hat es von Anfang an Verzahnungen zwischen beiden Herkunftsgruppen gegeben, die den Archäologen auch schon seit Jahrzehnten Kopfzerbrechen bereiten. Man darf sagen: Die dort lebenden "Kelten" dürften schon von Anfang an viele "germanische" (schnurkeramische) Herkunftsanteile in sich getragen haben - und umgekehrt. Wir wissen ja auch schon von frühbronzezeitlichen Heiratsnetzwerken zwischen dem "keltisch-germanischen" Raum im heutigen Bayern und dem "keltisch-germanischen" Raum im heutigen Böhmen und dem "keltisch-germanischen" Raum rund um Halle an der Saale. 

Da über lange Jahrhunderte die keltische Kultur die dynamischere in Europa gewesen ist, könnte man vermuten, schlußfolgern, daß die Schnurkeramiker im eben umschriebenen Raum "keltisiert" worden waren, und daß auf diese Weise etwa die Aunjetitzer Kultur und evtl. auch die Lausitzer Kultur kulturell "keltisch" aufgestellt waren, daß in ihnen aber zumindest genetisch auch germanische Schnurkeramik-Traditionen fortlebten. Einzelheiten dazu können aber beim gegenwärtigen Wissensstand nicht gegeben werden. Denn erstaunlicherweise ist Deutschland was die Bronzezeit betrifft, archäogenetisch ein weißer Fleck auf der Landkarte.

Das ist ein Umstand, auf den jüngst der Humangenetiker Razib Khan hingewiesen hat (RKhan2024), und der auch in der neuen Studie (1) bedauernd benannt wird. Und das, obwohl in Jena und Leipzig in Deutschland mit Svaante Pääbo und Johannes Krause die Archäogenetik aus der Taufe gehoben worden ist! Razib Khan hat selbst zum Thema eigene Datensätze zusammen gestellt, da fast jedes Land Europas Veröffentlichungen zur eigenen genetischen Geschichte aufzuweisen hat - nur Deutschland aktuell noch nicht.

Einschub 2.4.24: In einer weiteren neuen Studie wird zu diesem Thema mit Bezug auf eine Studie aus dem Jahr 2021 geäußert (5):

Archäogenetische Studien der letzten Jahre zeigten, daß Schnurkeramik- und Glockenbecher-assoziierte Individuen einander nicht ersetzten, sondern sich langsam vermischten/verschmolzen, was zum genetischen Profil der frühbronzezeitlichen Aunjetzizer Kultur in Mitteleuropa führte.
Recent archaeogenetic studies showed that CW and BB-associated individuals did not replace each other, but slowly admixed/amalgamated, resulting in the genetic profile of the EBA Únětice in Central Europe.

So klar hatten wir das aus der hier zitierten Studie von 2021 gar nicht heraus gelesen in unserem Beitrag zur Auswertung derselben (Stgen2021)! Dort haben wir dieses Zitat jetzt auch nachträglich eingefügt. Diese Aussage paßt sehr gut zu den eben getätigten Ausführungen. Das Zitat wird fortgesetzt (5): 

Vergleichende Untersuchungen der Grabbeigaben der Fürstengräber Mitteldeutschlands zeigen ebenfalls, daß die Aunjetizer Kultur Einflüsse beider Vorgängergruppen in sich aufgenommen hat.
Comparative investigations of the grave goods of the princely burial mounds of central Germany also support that the Únětice material culture incorporated influences from both preceding groups.

Am Ende der Studie wird noch einmal präzisiert (5):

Es hat gezeigt werden können in früheren Studie, daß die kulturelle Entstehung der Aunjetitzer Kultur in Mitteldeutschland in der Auflösung der Schnurkeramik- in die Glockenbecher-Kultur bestand. Unsere neuen Daten (Supplement-Informationen) zeigen, daß Personen, die mit der Aunjetitzer Kultur in Mitteldeutschland und Böhmen in Verbindung stehen, einen hohen Anteil an Schnurkeramik-bezogenen Vorfahren hatten und daher ein charakteristisches Cluster bilden, das sich im PCA-Raum kaum mit frühbronzezeitlichen Individuen aus Süddeutschland überschneidet. Dieses Ergebnis steht im Einklang mit früheren genetischen Studien und mit den archäologischen Beweisen, daß die Aunjetitzer Kultur Elemente der materiellen Kultur sowohl der Glockenbecher als auch der Schnurkeramik vereint.
It could be shown in the past that the cultural emergence of the Únětice culture in Central Germany was the result of the CW dissolving into the BB culture. Our new data (Supplementary Information) shows that individuals associated with the Únětice culture in Central Germany and Bohemia carried a high amount of CW-related ancestry, and therefore form a distinctive cluster with little overlap in PCA space with EBA individuals from southern Germany. This result is consistent with previous genetic studies and with the archaeological evidence that the Únětice culture combines elements of the material culture of both the BB and the CW.

(Ende Einschub)

Ein ganz anderer Gedanke kommt einem allerdings noch bei einem Blick auf die obigen Verteilungskarten (Abb. 2): nämlich daß die Jamnaja-Kultur ganz im Osten ja im Grunde der slawischen Sprachfamilie zugeordnet werden könnte. Denn uns stellt sich ja schon länger die Frage, warum die Slawen zu einem so ganz anderen Zeitpunkt entstanden sein sollen als die Kelten und die Germanen. Aber kann das plausibel sein, wenn von den Jamnaja zugleich - über Südwanderungen - auch die Armenier, die Hethiter und die Griechen abstammen?! Diese bohrende Frage bleibt also weiter offen und wir dürfen weiter gespannt sein auf die nächsten Jahre.

Die Angelsachsen - Mit ihnen kommt erstmals Schnurkeramik-Herkunft nach England

In Übereinstimmung mit den bisherigen Ausführungen wird dann gesagt (1):

Der Beginn der angelsächsischen Periode in Großbritannien ist mit einer demographischen Bewegung von Kontinentaleuropa her in Verbindung gebracht worden; dieser Übergang spiegelt sich hier in der Verschiebung der Individuen vom Glockenbecher- zu Schnurkeramik-Clustern wider. Darüber hinaus sehen wir ein ähnliches, aber etwas früheres Ergebnis für die Niederlande und Deutschland.
Das Vorhandensein von Glockenbecher-Vorfahren in der norwegischen Wikingerzeit bildet zuvor dokumentierte Migrationen aus keltischen Regionen in Großbritannien und Irland ab. Wir können diese Migrationen hier jedoch bereits in der Eisenzeit (708 n. Ztr.) nachweisen.
In Britain, the beginning of the Anglo-Saxon period has previously been linked to a demographic movement from continental Europe; this transition is reflected here in the shift among individuals from the Bell Beaker to Corded Ware clusters. In addition, we see a similar but slightly earlier result for the Netherlands and Germany.
The presence of Bell Beaker related ancestry in the Norwegian Viking Period represents previously documented migrations from Celtic regions within Britain and Ireland, however here we detect these migrations as early as the Iron Age (1242 BP). 

Wie kamen Menschen mit "keltischer" Glockenbecher-Genetik schon um 700 n. Ztr. nach Norwegen? Als Sklaven so wie in späteren Jahrhunderten? Man wird es zunächst annehmen müssen. Aber hier haben wir den - weltgeschichtlich vergleichsweise so späten - Beginn des germanischen Ausgriffs nach Südwesten und Westen. Die Elbe, die Oder und die Weichsel aufwärts haben sich die Germanen freilich schon früher ausgebreitet, dazu mehr weiter unten. 

Ostgermanen und Westgermanen

In der Studie werden viele Ausführungen gemacht zu innerskandinavischen genetischen Verschiebungen.

Abb. 3: Die früheste schnurkeramische Ausbreitung innerhalb Skandinaviens erfolgte im Wesentlichen über Land (Karte von Joachim Koch) (ADNS2021) - Die Schnurkeramiker kannten noch nicht 24-Stunden-Fahrten ohne Sicht auf Land über das offene Meer, letzteres begann offenbar erst mit Glockenbecher-Leuten, die aber dann in Norwegen keine genetischen Spuren hinterließen

Es wird zu wichtigen innerskandinavischen Vorgängen während des Spätneolithikums und der Frühbronzezeit ausgeführt (1):

Innerhalb Skandinaviens sind drei Cluster erkennbar (s. hier: Abb. 2):
  1. ein frühes skandinavisches Cluster, das die ältesten schwedischen (Streitaxt-Kultur) und dänischen Individuen sowie fast alle Norweger umfaßt,
  2. ein späteres „südskandinavisches“ Cluster, das auf Dänemark beschränkt ist und auf die Südspitze Schwedens, und 
  3. ein zweites späteres „ostskandinavisches“ Cluster, das sich über ganz Schweden erstreckt und sich mit dem des südlichen Skandinavien-Clusters überschneidet.
Within Scandinavia, three clusters are apparent (Extended Data Figure 4): 1) an early Scandinavian cluster, including the oldest Swedish (Battle Axe Culture) and Danish samples and almost all Norwegians, 2) a later ‘Southern Scandinavian’ cluster restricted to Denmark and the southern tip of Sweden, and 3) a second later ‘Eastern Scandinavian’ cluster, spread across Sweden and overlapping with that of the Southern Scandinavia cluster.

Die Ausführungen zu diesen drei Clustern sind nicht gleich sehr eingängig, da vieles sehr neu ist. Lesen wir deshalb, was zusammenfassend dazu im Diskussionsteil geschrieben wird (1):

Obwohl die frühbronzezeitlichen Populationen Skandinaviens alle ihre Abstammung aus der Steppe von Menschen der Schnurkeramik-Kultur ableiten, tragen die frühesten skandinavischen Individuen geringe Anteile lokaler westlicher Jäger-Sammler-Vorfahren, während die späteren östlichen Skandinavier mit litauisch/lettischer Jäger-Sammler-Herkunft modelliert werden können (...), was auf eine spätneolithische Ausbreitung über die Ostsee nach Skandinavien hinein hinweist. Eine solche Ausbreitung ist unseres Wissens nach bislang in der archäologischen Forschung nicht angenommen worden. Der Zeitpunkt fällt jedoch mit der Einführung einer neuen, spätneolithischen Schafrasse in Skandinavien zusammen. Es fällt auch zusammen mit der Ausbreitung eines neuen Bestattungsritus von Galeriegräbern in Südschweden, den dänischen Inseln und Norwegen, einem neuen Haustyp, den ersten dauerhaften Bronze-Netzwerken sowie mit dem Ende eines Ost-West-Gefälles in Skandinavien zwischen 2100 und 1700 v. Ztr..
Although all Early Bronze Age populations of Scandinavia derive their Steppe ancestry from people of Corded Ware culture, the earliest Scandinavian individuals carry small proportions of local Western Hunter-Gatherer ancestry, whereas the later Eastern Scandinavians are modelled with Lithuanian/Latvian Hunter-Gatherer ancestry (...), indicative of a Late Neolithic cross-Baltic migration into Scandinavia. No such migration has to our knowledge been identified in the archaeological record. However, the timing coincides with the introduction of a new, Late Neolithic sheep breed to Scandinavia. It also coincides with the spread of a new burial rite of gallery graves in south Sweden, the Danish islands and Norway, a new house type, the first durative bronze networks, as well as with the end of an eastwest divide in Scandinavia between 4050 and 3650 BP.

Damit ist gesagt: Die Zuwanderung von Glockenbecher-Leuten nach Norwegen hinterließ so gut wie keine genetischen Spuren. Viel wichtiger war aus genetischer Sicht die Ausbreitung "östlicher Skandinavier" nach Westen während dieser Zeit (s. Abb. 3). Diese neue Erkenntnis muß man wohl noch länger auf sich wirken und "sacken" lassen.

Die Erste germanische Lautverschiebung (500 v. Ztr.)

Aber bevor wir dazu kommen, werden wir gleich mit einem neuen spannenden Thema konfrontiert. In der Studie wird nämlich auch die Erste germanische Lautverschiebung (Wiki) angesprochen und die in der Forschung schon seit längerem bestehende Vermutung, daß diese durch demographische Völkerbewegungen ausgelöst worden sein könnten. Die Forscher sehen für die Zeit, auf die diese datiert wird (um 500 v. Ztr.) aber keine wesentlichen demographischen Veränderungen innerhalb Skandinavienes und damit des germanischen Bereichs.

Damit werden wir auf den Umstand gestoßen, daß sich die Germanen bis dahin sprachlich noch gar nicht so weit von den ihnen benachbarten Kelten und anderen indogermanischen Völkern fortentwickelt hatten wie seither durch eben diese Lautverschiebung. Ob die Ursachen für dieselbe nur allein auf der geographischen Abgeschiedenheit der Germanen beruhte? Ganz ohne äußere Einflüsse? 

Diese Frage setzt einige Klärungsbemühungen unsererseits in Gang. Wir fragen uns, ob der Anstoß dazu etwa von Osten, aus dem ostgermanischen Raum gekommen sein kann, aus jenem Raum, in dem es am frühesten Dynamik gegeben hat, und wo die Germanen - grob gesprochen - auf die Skythen gestoßen sind. Es gibt ältere Theorien, nach denen die Skythen die Ursache für das Ende der (keltischen?) Lausitzer Kultur gewesen sind. Nach diesen Theorien könnten die Skythen Träger der Billendorfer Kultur (7. und 6. Jhdt. v. Ztr.) (Wiki) gewesen sein, die benannt ist nach dem Dorf Billendorf bei Naumburg am Bober, einem linken Nebenfluß der Oder, 37 Kilometer südwestlich von Grünberg in Schlesien (Mapcarta). Die Billendorfer Kultur war im Weichsel- und Oderraum verbreitet und breitete sich bis an die Mittlere Elbe aus. Ihr wird insbesondere der skythisch anmutende "Goldschatz von Vettersfelde" (Wiki) zugesprochen. Vettersfelde liegt 37 Kilometer nordwestlich von Billendorf auf der rechten Seite der Lausitzer Neiße, 43 Kilometer nördlich von Bad Muskau (und dem Landschaftspark des Fürsten Pückler [Wiki]), sowie 45 Kilometer nordöstlich von Cottbus. Der dortige Landgraben Werdawa mündet in die Neiße, zehn Kilometer vor seiner Mündung liegt Vettersfelde (s. (MapcartaKomoot), wo man Siedlungsbefunde feststellen konnte. (Der Goldschatz soll nach neueren Annahmen im skythischen Auftrag von griechischen Goldschmieden geschaffen worden sein. Solche griechischen Goldschmiede haben ja später auch noch die Goten in Anspruch genommen.)

Der Odin-Glaube - Wann und von wo kam er nach Skandinavien? 

Die Billendorfer Kultur war nun der südöstliche Nachbar der nördlicher siedelnden Germanenstämme. Durch diese Kultur - so möchten wir hier als Spekulation in den Raum stellen - könnten die Germanen in Berührung gekommen sein mit dem östlichen Odin-Glauben, dessen Herkunft bislang nie abschließend hatte geklärt werden können. Bislang hatten wir vermutet, er könnte mit den Sarmaten (Wiki) in den germanischen Raum gekommen sein. Da die Germanen auch sonst viel von den Sarmaten übernommen haben (Tierstil, Spangenhelm zum Beispiel). Aber mit der Billendorfer Kultur wäre der Kontaktraum zwischen Skythen und Germanen viel breiter gewesen. Und von den damaligen Skythen könnte viel Strahlkraft ausgegangen sein. Die zweite hochdeutsche Lautverschiebung kam mit dem Christentum, warum also sollte die erste germanische Lautverschiebung nicht ähnlich mit der Einführung neuer religiöser Vorstellungen einher gegangen sein?

Die Billendorfer Kultur überschneidet sich geographisch mit der Pommerllischen Gesichtsurnen-Kultur (Wiki). Es wird ausgeführt, daß die Träger dieser letzteren Kultur die Bastarnen gewesen seien. Diese wiesen viel Ähnlichkeit mit den Germanen auf, wiesen aber auch Verbindungen zu den Sarmaten auf. Die Billendorfer Kultur wird in einer Darstellung zur Geschichte der Stadt Dahlen östlich von Leipzig als Nachfolgekultur der dortigen Lausitzer Kultur benannt (von Hartmut Finger). Dort fand sich (GB2017) ...

... eine der ganz wenigen Fundstellen im Gebiet der Lausitzer Kultur, in der außer Siedlungsgruben auch komplette Hausgrundrisse nachgewiesen wurden. Warum diese Siedlung letztlich wieder aufgegeben wurde, konnte nicht geklärt werden. (...) Nachgewiesen ist, daß die bronzezeitliche Bevölkerung aus der Dahlener Heide (...) am Ende der Bronzezeit abgewandert ist. (...) An den noch verbliebenen, bzw. den neuen Siedlungsplätzen der bronzezeitlichen Kultur zeigte sich ab etwa 750 v. Ztr., daß deren Bewohner eine neue Technologie übernommen hatten. Es handelt sich hierbei um die Herstellung und Verarbeitung von Eisen. Es ist die Kultur der "Frühen Eisenzeit", die sogenannte "Billendorfer Kultur". (...) Die Billendorfer Kultur steht in direkter Nachfolge der Lausitzer Kultur.    

Könnte es nicht so sein, daß insbesondere Schmiede neue religiöse Vorstellungen aus einem Kulturraum in einen anderen mitgebracht haben? Da sie ein besonderes Ansehen hatten? Ab dem 6. und 5. Jahrhundert v. Ztr. tritt in der Gegend von Leipzig, so heißt es weiter, die germanische Jasdorf-Kultur auf. Über die Ausbreitung von Eisen lesen wir (PrähArch2021):

Eisen wurde bereits in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends vor Christus im Vorderen Orient von den Hethitern verwendet. Von dort aus wanderte das Wissen über die Verarbeitung dieses Rohstoffes über Anatolien nach Südosteuropa und gelangte schließlich von dort nach Mitteleuropa.
Die Ausbreitung erfolgte in ihrer ersten Phase zwischen dem 13. und 8. Jahrhundert vor Christus von Griechenland über Mitteleuropa bis in den Norden Dänemarks. Vom 8. bis zum 5. Jahrhundert vor Christus wurden auch die westlichen Teile Europas (England, Frankreich und Spanien), des nördlichen (Schweden, Norwegen) und östlichen (Rußland) mit der Technologie der Eisenverarbeitung (Eisenverhüttung) vertraut. Archäologisch ließ sich bei der Verbreitung der Eisenverarbeitung häufig beobachten, daß zunächst Eisenobjekte importiert, anschließend nachgemacht und dann erfolgreich selbst hergestellt wurden. Es ist demnach festzustellen, daß spätestens um 600 v. Chr. die Eisenverhüttung in ganz Europa verbreitet ist. (...)
Zwei ganz andere Objekte verstreuen sich zur Eisenzeit in Europa. Die Drehscheibe zur Herstellung von Keramik wandert erstmals zu dieser Zeit aus dem mykenisch-griechischen Raum nach Mitteleuropa und läßt sich allerorts auffinden.

Daß sich die germanische Lautverschiebung sehr grob zeitlich überschneidet mit der Einführung dieser neuen Techniken, zugleich mit der Frühphase der Herausbildung der klassischen griechischen Kultur - vermittelt entweder über die Skythen oder die Kelten, könnte dem Geschichtsphilosophen allerlei zu denken geben. Wir werden all diesen Zusammenhängen sicherlich in künftigen Blogbeiträgen noch weiter nachgehen (siehe dazu auch den Nachtrag ganz unten). Zum Verständnis sei noch einmal erwähnt: Die Erste germanische Lautverschiebung brachte - grob gesprochen - die Verschiebung mit (laut Wiki):

  • von Lateinisch "pēs" (siehe "Piedestal" [Wiki]) nach Deutsch "Fuß" 
  • von Lateinisch "piscis" nach Deutsch "Fisch"
  • von Lateinisch "tertius" nach Althochdeutsch "thritto" ("dritte")
  • von Lateinisch "cor" nach Deutsch "Herz"
  • von Lateinisch "canis" nach Deutsch "Hund"
  • von Lateinisch "capiō" nach Deutsch "haben"
  • von Lateinisch "decem" nach Deutsch "zehn"
  • von Lateinisch "frater" nach Deutsch "Bruder"
  • von Lateinisch "hostis" nach Deutsch "Gast".

Wobei "Lateinisch" hier nur als bestes Beispiel für die Art des Sprechens auch in Skandinavien vor der Lautverschiebung angeführt ist. Wie dunkel und "nah"-"entfernt" verwandt auf einmal so viele "Fremdsprachen" innerhalb von Europa für einen erscheinen, wenn man diese Zusammenhänge auf sich wirken läßt. In der Bronzezeit waren unseren germanischen Vorfahren die anderen indogermanischen Sprachen in Europa noch nicht ganz so "fremd" wie uns heute. Denn sie haben eine ihnen noch ähnlichere Sprache gesprochen. Durch diese Erste germanische Lautverschiebung erst hat sich womöglich das eigentlich Besondere des "Germanischen" heraus gebildet.

Mit ihm einher gegangen mag sein eine dumpfe Ahnung, daß nun die weltgeschichtliche Stunde der Germanen geschlagen hatte. Wie unbeholfen auch immer sie dann ins helle Licht der Weltgeschichte eingetreten sein mögen ... 

Vollzog sich die erste Lautverschiebung unbewußt als eine Art "Gegenbewegung", Parallelbewegung, als eine Art "Reaktion" zur Herausbildung der Kultur des klassischen Griechenland?

Und: Gehen wir falsch in der Annahme, daß die germanischen Sprachen durch die erste Lautverschiebung im Charakter "weicher" wurden, "herzlicher" wurden, eine Entwicklung, die in anderen Sprachen - etwa dem Altgriechischen - auf andere Weise auch erreicht worden sein mag? Geschichtsphilosophisch jedenfalls haben wir es hier zu tun mit der sogenannten "Achsenzeit". Und uns wird bewußt, daß dieser Achsenzeit auch der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte zugeordnet werden kann - zwar noch ohne Schriftsprache, zwar mehr als "Barbaren" denn als kultivierte Leute (aus Sicht der Mittelmeerkulturen) - aber dafür auch um so frischer und "unverbrauchter".

Götterdämmerung

Immerhin waren sie zum Beispiel in den kommenden Jahrhunderten fähig, dem indogermanischen Welteneschen-Mythos, dem indogermanischen Mythos von der "Urschlange" eine neue, konkretere Wendung dadurch zu geben, daß sie die "Mitgartschlange" an den Wurzeln der Weltenesche nagen ließen, was zu Erschütterungen des ganzen Baumes führen sollte. Baldur, der Sonnengott, sollte ihnen getötet werden. Ihnen schwante immer mehr eine ungeheuerliche "Götterdämmerung" - aber am Ende derselben auch eine neue "Heilszeit". All das mag sich ohne Schriftkultur im germanischen Bereich im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte geistig weiter entwickelt haben - insbesondere in Reaktion auf die Ausbreitung des zutiefst unduldsamen Christentums, das alle Religionen weltweit zu satanischen erklärte. 

Vorbereitet worden mag dieses Bewußtsein auch durch das Miterleben des erschütternden Untergangs der Kelten-Götter, ja, der ganzen keltischen Kultur im Gefolge der Unterwerfung durch Cäsar und Rom (Stgen2021). 

Und es war und ist wahrlich nötig, daß die Germanen frisch und unverbraucht in die Weltgeschichte eingetreten sind, daß sie zuvor 3000 Jahre lang abgeschieden und ausgeglichen in ihrer Heimat gelebt hatten. Welcher Völkergruppe wären denn heftigere Aufgaben zugewachsen durch die Weltgeschichte - als dieser? Im furchtbaren seelischen Aufflammen ist diese Völkergruppe heute begriffen. Soweit sie überhaupt noch Restfunken Lebendigkeit in sich hat bewahren können. Diese Völkergruppe weiß heute: Es geht um das Letzte. Und sie weiß auch: "Wer auf sein Elend tritt, steht höher." So sagte es einer ihrer letzten großen Seher, der ebenfalls eine neue Heilszeit voraus sagte (Friedrich Hölderlin). Genug der Geschichtsphilosophie. - - -

Nachdem Süd- und Ostgermanen gut unterschieden werden können durch die genannte Studie, kann geschaut werden: Welche Völker hatten vorwiegend südskandinavische Herkunft (Angelsachsen, Langobarden) und welche Völker hatten vorwiegend ostskandinavische Herkunft (die ursprünglichen Goten im Weichselraum).

Die Goten - Schon in der Ukraine ging ihre ursprüngliche Genetik verloren

Es finden sich in der Studie auch Ausführungen über die Herkunft der westgermanischen Friesen. Diese wollen wir an dieser Stelle zunächst übergehen. (Die dortige Glockenbecher-Genetik scheint - wie in England - vornehmlich durch Schnurkeramik-Genetik ersetzt worden zu sein.) Über die Goten lesen wir (1):

Die frühesten Individuen der Wielbark-Kultur in Polen (ca. 100 n. Ztr.) sind hauptsächlich ostskandinavischer Abstammung, was auf eine Ausbreitung aus einer Region und Bevölkerung hindeutet, die sich von der der west- und nordgermanischen Bevölkerung unterscheidet, ein Szenario, das möglicherweise mit gotischer mündlicher Überlieferung vereinbar ist. Weiter südlich scheinen die späteren Ostgoten und Westgoten (400-900 n. Ztr.), die kulturell Nachkommen der früheren Goten waren, (genetisch) den einheimischen Südeuropäern ähnlich zu sein. Die beiden Ausreißer aus Spanien haben etwa 50 % nordeuropäische Vorfahren, liegen aber im Gegensatz zu den früheren Wielbark-Individuen entlang der nordöstlich-südöstlichen Ostseeküste. Der genetische Unterschied der Ostgoten- und Westgoten-Populationen von den ostskandinavischen Wielbark-Goten läßt auf eine Übernahme der Kultur und der ostgermanischen Sprache durch südlichere Gruppen schließen.
The earliest individuals from Wielbark, Poland (~1900 BP) are primarily of Eastern Scandinavian ancestry, supporting a population migration from a region and population distinct from that of the West and North Germanic populations, a scenario potentially consistent with Gothic oral history. Further south, the later Ostrogoth and Visigoth individuals (1600 - 1100 BP) who were cultural descendents of the earlier Goths, appear similar to local Southern Europeans. The two outliers from Spain have around 50% northern European ancestry, but unlike the earlier Wielbark individuals, they fall along the Northeast Southeast Baltic cline. The genetic distinction of the Ostrogoth and Visigoth populations from the Eastern Scandinavian Wielbark Goths suggests an adoption of the culture and East Germanic language by the more southern groups.

Es stellt sich also mit dieser Studie heraus, daß die "Goten" schon in der Ukraine - und um so mehr dann später in Dalmatien, Italien und Spanien - gar nicht mehr vorwiegend skandinavischer Herkunft gewesen sind. An anderer Stelle heißt es dazu (1):

Die späteren Personen, die mit den ursprünglich ostgermanischsprachigen Gruppen, den ukrainischen Ostgoten und den Westgoten von Iberien, in Verbindung gebracht wurden, scheinen (genetisch) meistens Einheimische zu sein.

Sie scheinen also genetisch aus der Region vor Ort (aus der Ukraine) zu stammen, nicht aus Skandinavien. Weiter (1): 

Zwei Ausnahmen bilden Goten aus Iberien, deren genetische Herkunft auf die nordöstlich-südöstliche Ostseeküste hindeutet (von denen einer eine nordeuropäische Y-Haplogruppe trägt), was auf einen Ursprung in Nordosteuropa, aber nicht speziell in Ostskandinavien schließen läßt. Diese Abstammung umfaßt Populationen, die mit der Ausbreitung der slawischen Bevölkerung in Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik in Zusammenhang stehen und mit der aus Nordosteuropa stammenden baltischen Vorfahren aus der Bronzezeit in Zusammenhang stehen. Mit den aktuell zur Verfügung stehenden Daten ist eine genauere Bestimmung des Ausgangspunktes der slawischen Völkerwanderungen noch nicht möglich.
Most later individuals associated with the originally East Germanic-speaking groups, the Ukrainian Ostrogoths and the Visigoths of Iberia, appear to be locals (Supplementary Note 6.9.6). Two exceptions are from Goths from Iberia, who genetically fall on the Northeast-Southeast Baltic cline (one of which carries a Northern European Y haplogroups), suggesting an origin in North East Europe, but not Eastern Scandinavia specifically. This cline includes populations related to the spread of Slavic populations in Poland, Hungary and the Czech Republic and are to be related to the Baltic Bronze Age ancestry originating in North East Europe. With the current sampling, determining a more precise homeland of the Slavic migrations is not yet possible.

Diese Ausführungen werfen natürlich einen wichtigen Lichtschein auf die Geschichte und das genetische "Verschwinden" der Goten in Dalmatien, Italien und Spanien (s. Stgen2023). Vielleicht waren sie genetisch gar nicht mehr bis in die Balkan-Region gekommen und vielleicht können die späteren Slawen-Züge gegen Byzanz und Griechenland - wie sich hier andeutet - als die Fortsetzung der vormaligen Goten-Züge gegen Byzanz und Griechenland verstanden werden. Da schon Menschen mit "slawischer" Genetik als "Goten" diese Züge unternommen hatten. Die Archäogenetik bringt wahrlich immer einmal wieder neue große Überraschungen mit sich. 

Abschließend noch einmal die Zusammenfassung (der "Abstract") der Studie (1):

Wir finden Hinweise auf eine bisher unbekannte, groß angelegte bronzezeitliche Migration innerhalb Skandinaviens, die ihren Ursprung im Osten hat und sich im Westen und Süden ausbreitet, was einen neuen potenziellen Antriebsfaktor für die Ausbreitung der germanischen Sprachgemeinschaft darstellt. Dieser ostskandinavische genetische Cluster macht sich erstmals 800 Jahre nach der Ankunft der Schnurkeramik-Kultur bemerkbar, der ersten Steppenpopulation, die in Nordeuropa auftauchte, und eröffnet ein neues Szenario, das eher auf eine spätneolithischen anstatt auf eine mittelneolithische Ankunft der germanischen Sprachgruppe in Skandinavien schließen läßt. Darüber hinaus deutet die nicht-lokale Jäger-Sammler-Abstammung dieses ostskandinavischen Clusters eher auf einen baltischen maritimen als auf einen südskandinavischen Landeintritt hin.
We find evidence of a previously unknown, large-scale Bronze Age migration within Scandinavia, originating in the east and becoming widespread to the west and south, thus providing a new potential driving factor for the expansion of the Germanic speech community. This East Scandinavian genetic cluster is first seen 800 years after the arrival of the Corded Ware Culture, the first Steppe-related population to emerge in Northern Europe, opening a new scenario implying a Late rather than an Middle Neolithic arrival of the Germanic language group in Scandinavia. Moreover, the non-local Hunter-Gatherer ancestry of this East Scandinavian cluster is indicative of a cross Baltic maritime rather than a southern Scandinavian land-based entry.

Wir sehen, daß diese Zusammenfassung nur ein einziges Thema aus den vielen Themen der Studie heraus greift. Warum die germanischen Sprachen allerdings erst mit der Schnurkeramiker-Ausbreitung von Finnland her nach Skandinavien gekommen sein sollen, wird uns nicht so recht deutlich. Sollten die west- und die ostskandinavischen Schnurkeramiker-Populationen sich nach 800 bis tausend Jahren Trennung nicht immer noch gegenseitig verstanden haben können? Die Studie selbst spricht von einer kulturellen Homogenisierung innerhalb Skandinaviens in den nachfolgenden Jahrhunderten.

Manches in der Studie enthaltene wertvolle Detail mag uns bisher noch entgangen sein. Es wurde erkennbar, daß in der Studie Anstöße zu weiterer Forschung nach vielerlei Richtungen hin enthalten sind. Die Archäogenetik verändert weiterhin - und oftmals immer noch sehr grundlegend - altüberkommene Geschichtsbilder oder schafft Klarheit, wo es bisher nur "Raten und Meinen" gab.

Nachtrag: Woher kam Odin? Warum kam er?

Indem wir den Themen "skytho-sarmatischer Tierstil" und "sibirische Tierstil" nachgehen, stoßen wir auf einen aktuellen Aufsatz (2), in dem sich zudem der Hinweis findet auf eine interessante Studie aus dem Jahr 2017, die auf der Grundlage unter anderem einer berühmten Studie des Religionspsychologen Mircea Eliade (1907-1986) (Wiki) aus dem Jahr 1951 (3) dargelegt, daß das achtbeinige Pferd Sleipnir des germanischen Gottes Odin viele Parallelen aufweist mit Vorstellungen im sibirischen Schamanismus. Es wird dann gefragt (4):

Wie gelangten diese Motive in die nordische Kultur? Eine Erklärung könnte sein, daß die protogermanischen Völker, Vorfahren der Nordmänner, das Konzept des schamanischen Pferdes durch das Interagieren mit den Skythen in Osteuropa übernommen haben. Es gibt sprachliche Hinweise darauf, daß diese beiden Gruppen in Verbindung miteinander standen. Zwei Wörter, *hanapiz „Hanf“ und *paidō „Umhang“, wurden vor der Ersten germanischen Lautverschiebung ins Protogermanische entlehnt und stammen höchstwahrscheinlich aus einer iranischen Sprache (Ringe, 296-297). Noch wichtiger ist, daß das Wort paþaz „Weg“ aus einer iranischen Sprache ins Urgermanische entlehnt worden sein muß, da der interdentale Frikativ in der Wortmitte nur in diesem Wort in den iranischen Sprachen vorkommt (Mayrhofer, 224-230; Ringe, persönliche Mitteilung). Im Gegensatz zu den ersten beiden wurde es jedoch nach der Ersten germanischen Lautverschiebung entlehnt. Ein weiteres Wort, wurstwą „Arbeit“, existiert nur im Gotischen und kann nicht vom protogermanischen Wort für „Arbeit“ abgeleitet werden, es könnte also auch eine Entlehnung aus einer iranischen Sprache sein.
How did these motifs enter Norse culture? One explanation might be that the Proto-Germanic peoples, ancestors of the Norse, adopted the concept of the shamanic steed through interaction with the Scythians in Eastern Europe. There is linguistic evidence indicating that these two groups were in contact. Two words, *hanapiz ‘hemp’ and *paidō ‘cloak,’ were borrowed into Proto-Germanic before the operation of Grimm’s Law and most likely from an Iranian language (Ringe, 296–297). Even more importantly, the word paþaz ‘path’ must have been borrowed into Proto-Germanic from an Iranian language, as the interdental fricative in the middle of the word is only present in this word in the Iranian languages (Mayrhofer, 224–230; Ringe, personal communication). In contrast to the first two, however, it was borrowed after the operation of Grimm’s Law. An additional word, wurstwą ‘work’ survives only in Gothic and cannot be derived from the Proto-Germanic word for ‘work,’ so it may also be a borrowing from an Iranian language.

Es wird außerdem darauf hingewiesen, daß sich die Darstellung eines achtbeinigen Hirsches auch bei den Thrakern findet. Dem möchten wir den Gedanken anfügen, daß der mythische Begründer der orphischen Bewegung im antiken Griechenland, Orpheus selbst, ja ein Thraker gewesen sein soll (nach der Behauptung vieler). Insbesondere der Weltentstehungsmythos der orphischen Bewegung - Urei und Urschlange - mag manche ähnlich ekstatisch-östlichen Elemente enthalten (Stgen2022), die Verwandtschaften aufzeigen könnten sowohl mit dem nordischen Mythos wie mit sibirischen mythischen Vorstellungen.

Wenn wir Odin mehr aus orphischem Geiste heraus auffassen würden, würden wir womöglich innerlich einen direkteren Bezug zu ihm aufbauen können. Wir könnten dann vielleicht verstehen, daß die Germanen von Odin ähnlich fasziniert gewesen sein konnten wie die Griechen von Orpheus. Odin würde dann - auf der Linie der andernorts behandelten Hesperien-Deutung Hölderlins - mitgeholfen haben, das heilige Pathos, das Feuer des Himmels in den ansonsten gar zu nüchterneren Germanenherzen zu entflammen. Freilich: diese Begeisterung brachte sie zunächst vor allem dazu, erobernd in fremde Länder zu ziehen mitsamt ihrem Völkerwanderungsgott Odin. Die Übernahme allein des Wortes "Arbeit" von Seiten der Skythen reichte nicht, um nun wirklich zugleich auch diszipliniert arbeiten zu lernen. Dafür bedurfte es doch noch anderer Mittel.

Ob sich der Missionar Willibrord dessen bewußt war oder nicht: Seine Religion brachte auch eine neue Arbeitsethik nach Germanien: die benediktinische. Und Luther formte sie später um zur protestantischen Arbeitsethik (Wiki). Und dreihundert Jahre später war Schiller in der Lage zu dichten (Zen):

Wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige
Stehst du an des Jahrhunderts Neige,
In edler stolzer Männlichkeit,
Mit aufgeschloßnem Sinn, mit Geistesfülle,
Voll milden Ernsts, in tatenreicher Stille,
Der reifste Sohn der Zeit.

Er, der Mensch, wurde - nach Schiller - zu einem so reifen Menschen durch Kunst. Die Kunst gab dem Menschen die Menschlichkeit und Reife. Es sind deshalb die Künstler, denen Schiller gegen Ende seines Gedichtes zuruft (Zen):

Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben,
Bewahret sie!
Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben!

Wichtiger aber noch als die Kunst mag heute sein das Aufeinander-Hören. Denn "Zuhören ist heilig" - so wie auch den Griechen, Kelten und Germanen Zuhören heilig war (Stgen2024).

__________________

  1. Steppe Ancestry in western Eurasia and the spread of the Germanic Languages. By Hugh McColl (...) Kristian Kristiansen, Martin Sikora and Eske Willerslev. bioRxiv. posted 14 March 2024 (Biorxiv)
  2. Çağıl Çayır: War Germanen-Gott Odin ein Türke? Januar 2024 (Nex24/2024)
  3. Eliade, Mircea: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Rascher, Zürich 1957 (Neuausgabe Suhrkamp, Frankfurt am Main (EA Paris 1951)
  4. Kristen Pearson: Chasing the Shaman’s Steed. The Horse in Myth from Central Asia to Scandinavia. Sino-Platonic Papers, hrsg. von Victor H. Mair, Mai 2017 (pdf)
  5. Penske, S., Küßner, M., Rohrlach, A.B. et al. Kinship practices at the early bronze age site of Leubingen in Central Germany. Sci Rep 14, 3871 (2024), 16.2.2024 (Nature), https://doi.org/10.1038/s41598-024-54462-6

Related Posts Plugin for WordPress, Blogger...

Beliebte Posts (*darunter finden sich leider selten neuere Beiträge*)

Registriert unter Wissenschafts-Blogs

bloggerei.de - deutsches Blogverzeichnis

Haftungsausschluß

Urheber- und Kennzeichenrecht

1. Der Autor ist bestrebt, in allen Publikationen die Urheberrechte der verwendeten Bilder, Grafiken, Tondokumente, Videosequenzen und Texte zu beachten, von ihm selbst erstellte Bilder, Grafiken, Tondokumente, Videosequenzen und Texte zu nutzen oder auf lizenzfreie Grafiken, Tondokumente, Videosequenzen und Texte zurückzugreifen.

2. Keine Abmahnung ohne sich vorher mit mir in Verbindung zu setzen.

Wenn der Inhalt oder die Aufmachung meiner Seiten gegen fremde Rechte Dritter oder gesetzliche Bestimmungen verstößt, so wünschen wir eine entsprechende Nachricht ohne Kostennote. Wir werden die entsprechenden Grafiken, Tondokumente, Videosequenzen und Texte sofort löschen, falls zu Recht beanstandet.