In der FAZ wird über den französischen Naturforscher Roger Caillois (1913 bis 1978) berichtet. (FAZ ), vor allem über seine Forschungen zu den verblüffenden Nachahmungen von Bauplänen und Gestaltungsformen in der Natur durch Organismen in jeweils ganz unterschiedlichen Bereichen des Artenstammbaumes (Hervorhebungen durch mich, I.B.):
... Anders liegt der Fall bei Caillois' Versuchen über mimetische Formen in der belebten Natur, insbesondere über mimetische Insekten und die Zeichnungen von Schmetterlingsflügeln. Hier lag die Profilierung gegenüber einschlägigen Erklärungsansätzen der Naturkundler und Biologen nahe. Bei Caillois wurde daraus ein Vorbehalt gegen die Ableitung der in Frage stehenden Phänomene allein aus den Mechanismen der natürlichen Selektion. Es lohnt, sich diese Einrede näher anzusehen, und die in dem Band "Méduse et Cie" (1960) versammelten Texte von Caillois eignen sich dafür ausgezeichnet. Zudem stellt die vorzügliche deutsche Übersetzung zusätzlich zwei seiner Texte aus der Mitte der dreißiger Jahre voran, die zeigen, wie früh und vor welchem Hintergrund er auf diese Fragen stieß.
Caillois hielt sich an einige Schwierigkeiten, überzeugende Modelle für die oft verblüffend genauen Nachahmungsleistungen (der äußeren Gestalt von Gegenständen, Pflanzen, anderen Arten) und auffällige Flügelzeichnungen bei Insekten zu entwickeln. Tatsächlich scheint es ein fast aussichtsloses Unterfangen, diesem Naturtheater der faszinierenden Nachahmungen und phantastischen Formerfindungen mit der Aufschlüsselung von Selektionsdrücken beizukommen. Schlägt man, um Caillois Einschätzung beurteilen zu können, in neueren Überblicksdarstellungen über die evolutionäre Ökologie von Tarnung, Warnsignalen und Mimikry nach, so sieht man: Es gibt zwar mittlerweile für manche Ausprägungen Modelle, die bei geeigneter Parameterwahl gute Ergebnisse liefern. Aber angesichts der Vieldimensionalität der Wechselwirkungen in realen Ökosystemen sind solche empirisch belastbaren Modelle die Ausnahme. Das "Austesten" von Evolutionsvorteilen in einem ökologischen System ist nun einmal eine denkbar schwierige Angelegenheit.
Vor diesem Hintergrund darf man Caillois mit etwas Vorsicht als Zeitgenossen behandeln. Sein Vorbehalt richtet sich gegen die Selbstverständlichkeit, mit der das Grundmodell differentiell wirkender Selektionsdrücke und damit das Kriterium des Überlebensnutzens von "Anpassungen" in Anschlag gebracht wird. In dieser Verabsolutierung des Nutzens, so Caillois, zeige sich eine tiefwurzelnde Voreingenommenheit. Gegen ein solches "Vorurteil" tritt er mit seiner These an, dass die Formen und Verhaltensweisen der Insekten genauso wie bestimmte ästhetische Vorlieben und Faszinierbarkeiten der Menschen sich auf eine gemeinsame Basis zurückführen lassen: auf den Formenvorrat einer bildnerischen Natur, deren spielerisch zweckfreies Wirken sich im Naturreich ebenso niederschlägt wie in der vom Naturzwang freigesetzten Sphäre menschlicher Imagination.
Kann Caillois' Darlegung nun als triftige Einrede gegen eine zu enge Betrachtungsweise gelten, die davon ausgeht, dass jede Erklärung auf diesem Feld zuletzt Nutzeffeke gegeneinander verrechnen muss? Haltlos wäre sein Einwand jedenfalls dann, wenn er seine These als gleichrangige Alternative zum biologischen Erklärungsansatz erachten würde. Diese Versuchung mag ihn zwar manchmal streifen, aber er erliegt ihr nicht. Wobei ihm entscheidend zu Hilfe kommt, dass er viele der verhandelten Phänomene als selektionsneutral ansieht, womit sie ja auch nach orthodox darwinistischen Kriterien als nutzlose Nutznießer von Evolutionspfaden gelten würden. Diese Form der Einbettung in die evolutionäre Standardtheorie ist freilich eine heikle Angelegenheit, denn eine kleine Änderung in den Erklärungsmodellen genügt oft, und aus vermeintlich neutralen Ausprägungen werden Mitspieler - und potentiell sind alle Mitspieler.
Weshalb Caillois' Vorbehalt eher tief zielt - und doch weder als überstürzte Wissenschaftskritik noch als idiosynkratische Spekulation einfach beiseitegesetzt zu werden verdient. Diese Balance ist nicht leicht zu halten, und gerade deshalb ist es von Bedeutung, an sie zu erinnern. Und an Caillois selbst, diesen Grenzgänger und poetischen Naturalisten auf den Spuren der einen Natur.
HELMUT MAYER
Roger Caillois: "Méduse & Cie". Mit den Texten "Die Gottesanbeterin" und "Mimese und legendäre Psychasthenie". Aus dem Französischen von Peter Geble. Brinkmann & Bose Verlag, Berlin 2007. 156 S., Abb., br., 23,- [Euro].
Sicherlich gibt es die eine oder andere Denkmöglichkeit, solche Gedanken mit den Gedanken von Simon Conway Morris und Richard Dawkins zu den Erscheinungen konvergenter Evolution in Beziehung zu setzen. Roger Caillois könnte sich diesbezüglich als ein ähnlich lesenswerter Autor herausstellen wie Adolf Portmann.
... Anders liegt der Fall bei Caillois' Versuchen über mimetische Formen in der belebten Natur, insbesondere über mimetische Insekten und die Zeichnungen von Schmetterlingsflügeln. Hier lag die Profilierung gegenüber einschlägigen Erklärungsansätzen der Naturkundler und Biologen nahe. Bei Caillois wurde daraus ein Vorbehalt gegen die Ableitung der in Frage stehenden Phänomene allein aus den Mechanismen der natürlichen Selektion. Es lohnt, sich diese Einrede näher anzusehen, und die in dem Band "Méduse et Cie" (1960) versammelten Texte von Caillois eignen sich dafür ausgezeichnet. Zudem stellt die vorzügliche deutsche Übersetzung zusätzlich zwei seiner Texte aus der Mitte der dreißiger Jahre voran, die zeigen, wie früh und vor welchem Hintergrund er auf diese Fragen stieß.
Caillois hielt sich an einige Schwierigkeiten, überzeugende Modelle für die oft verblüffend genauen Nachahmungsleistungen (der äußeren Gestalt von Gegenständen, Pflanzen, anderen Arten) und auffällige Flügelzeichnungen bei Insekten zu entwickeln. Tatsächlich scheint es ein fast aussichtsloses Unterfangen, diesem Naturtheater der faszinierenden Nachahmungen und phantastischen Formerfindungen mit der Aufschlüsselung von Selektionsdrücken beizukommen. Schlägt man, um Caillois Einschätzung beurteilen zu können, in neueren Überblicksdarstellungen über die evolutionäre Ökologie von Tarnung, Warnsignalen und Mimikry nach, so sieht man: Es gibt zwar mittlerweile für manche Ausprägungen Modelle, die bei geeigneter Parameterwahl gute Ergebnisse liefern. Aber angesichts der Vieldimensionalität der Wechselwirkungen in realen Ökosystemen sind solche empirisch belastbaren Modelle die Ausnahme. Das "Austesten" von Evolutionsvorteilen in einem ökologischen System ist nun einmal eine denkbar schwierige Angelegenheit.
Vor diesem Hintergrund darf man Caillois mit etwas Vorsicht als Zeitgenossen behandeln. Sein Vorbehalt richtet sich gegen die Selbstverständlichkeit, mit der das Grundmodell differentiell wirkender Selektionsdrücke und damit das Kriterium des Überlebensnutzens von "Anpassungen" in Anschlag gebracht wird. In dieser Verabsolutierung des Nutzens, so Caillois, zeige sich eine tiefwurzelnde Voreingenommenheit. Gegen ein solches "Vorurteil" tritt er mit seiner These an, dass die Formen und Verhaltensweisen der Insekten genauso wie bestimmte ästhetische Vorlieben und Faszinierbarkeiten der Menschen sich auf eine gemeinsame Basis zurückführen lassen: auf den Formenvorrat einer bildnerischen Natur, deren spielerisch zweckfreies Wirken sich im Naturreich ebenso niederschlägt wie in der vom Naturzwang freigesetzten Sphäre menschlicher Imagination.
Kann Caillois' Darlegung nun als triftige Einrede gegen eine zu enge Betrachtungsweise gelten, die davon ausgeht, dass jede Erklärung auf diesem Feld zuletzt Nutzeffeke gegeneinander verrechnen muss? Haltlos wäre sein Einwand jedenfalls dann, wenn er seine These als gleichrangige Alternative zum biologischen Erklärungsansatz erachten würde. Diese Versuchung mag ihn zwar manchmal streifen, aber er erliegt ihr nicht. Wobei ihm entscheidend zu Hilfe kommt, dass er viele der verhandelten Phänomene als selektionsneutral ansieht, womit sie ja auch nach orthodox darwinistischen Kriterien als nutzlose Nutznießer von Evolutionspfaden gelten würden. Diese Form der Einbettung in die evolutionäre Standardtheorie ist freilich eine heikle Angelegenheit, denn eine kleine Änderung in den Erklärungsmodellen genügt oft, und aus vermeintlich neutralen Ausprägungen werden Mitspieler - und potentiell sind alle Mitspieler.
Weshalb Caillois' Vorbehalt eher tief zielt - und doch weder als überstürzte Wissenschaftskritik noch als idiosynkratische Spekulation einfach beiseitegesetzt zu werden verdient. Diese Balance ist nicht leicht zu halten, und gerade deshalb ist es von Bedeutung, an sie zu erinnern. Und an Caillois selbst, diesen Grenzgänger und poetischen Naturalisten auf den Spuren der einen Natur.
HELMUT MAYER
Roger Caillois: "Méduse & Cie". Mit den Texten "Die Gottesanbeterin" und "Mimese und legendäre Psychasthenie". Aus dem Französischen von Peter Geble. Brinkmann & Bose Verlag, Berlin 2007. 156 S., Abb., br., 23,- [Euro].
Sicherlich gibt es die eine oder andere Denkmöglichkeit, solche Gedanken mit den Gedanken von Simon Conway Morris und Richard Dawkins zu den Erscheinungen konvergenter Evolution in Beziehung zu setzen. Roger Caillois könnte sich diesbezüglich als ein ähnlich lesenswerter Autor herausstellen wie Adolf Portmann.
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