Sonntag, 26. Dezember 2021

Indogermanen und Kelten kommen nach England (2.400 v. bis 450 n. Ztr.)

Indogermanen, keltische Urnenfelder-Kultur und spätere Kelten kommen nach England
- Neues aus der Archäogenetik

Eine neue archäogenetische Studie zur Bronze- und Eisenzeit Englands, erschienen am 22. Dezember 2021 (1),  läßt viele Fragen der europäischen Vorgeschichte zwischen Italien, Spanien und Schottland neu durchdenken. Sie liefert ein konkreteres Datenmaterial als wir es jemals hatten.

Abb. 1: Die Waffenkammer eines keltischen Fürsten - Das Arsenal, das sich in Bronze- und Eisenzeit überall in Europa findet - Hier im Nationalmuseum von Irland (Symbolbild)  

Auf dem Videokanal von Jonas Hopf wurde kürzlich ein Interview geführt mit dem Archäologen Raiko Krauß (geb. 1973) (Wiki) (Berlin/Tübringen).

Die Bronzezeit - ein europäisches Phänomen

In diesem wurde eine interessante Erkenntnis des Archäologen Bernhard Hänsel angesprochen, die auf England als Ausgangspunkt von Kernmerkmalen der europäischen Bronzezeit aufmerksam macht (2) (42:15):

Hinzu kommt noch, daß die Bronzezeit eine Epoche ist, die wir gar nicht weltweit vertreten haben. Mein Doktorvater Bernhard Hänsel (...), der hatte mal eine große Tagung organisiert "Die erste europäische Epoche". Und tatsächlich ist das ein ganz europäisches Phänomen. Wir haben keine Bronzezeit in den Amerikas, wir haben eine Bronzezeit tatsächlich nur im Norden Afrikas. Also in den Gegenden südlich der Sahara haben wir diese Kulturstufe nicht. Und in weiten Teilen Asiens fällt das auch aus. Da haben wir einen Umgang mit Kupfer und mit Gold. Aber wir haben keine Bronze im eigentlichen Sinne. Jedenfalls nicht in der Zeit, die wir hier in Mitteleuropa oder in Europa als Bronzezeit bezeichnen. Insofern ist die Bronzezeit zunächst einmal eine europäische Periode. (...) Ein entscheidendes Merkmal dieser Bronze ist sicherlich auch, daß sie im frisch gegossenen Zustand so golden glänzt. Und das ist vielleicht sogar die initiale Idee dieser Verwendung von Bronze, daß man diesen goldenen Glanz erzielen wollte. (...) Nach allem, was wir wissen, fängt das in Südwest-England an, in Cornwall. Da haben wir große Zinnlagerstätten und auch Kupferlagerstätten, da ist das naheliegend, daß man diese beiden Metalle zusammen in Schmelze bringt. Und von dort aus breitet sich das über den Kontinent aus.

Man hat es also bezüglich von England nicht mit einer für die allgemeine Vorgeschichte Europas bloß randständigen Region zu tun. Vielleicht ist es auch kein Zufall, daß es zwar über ganz Europa hinweg "Volkssternwarten", also Ringheiligtümer gab, daß das eindrucksvollste aber bis heute in Stonehenge zu finden ist.

Irland - Ein Zentrum der Goldverarbeitung

Noch ein weiterer Umstand dürfte von Interesse sein: Wenn Bronze zunächst nur "nachgemachtes" Gold war, kann man natürlich auch nach dem "Original" fragen. Aus der Zeit von 2.500 bis 500 v. Ztr. sind aus Irland 1000 Goldfundstücke überliefert, aus England 500 (davon 165, respektive 83 aus der Frühbronzezeit) (Wiki). Interessanterweise lag also das - oder zumindest ein - Zentrum der europäischen Goldverarbeitung in - Irland. (Goldfunde verteilen sich ansonsten aber über ganz Europa und über fast alle Jahrhunderte der Bronze- und Eisenzeit. Aber vielleicht gibt es auch bezüglich dieser Fundgruppe noch interessante Verbreitungsmuster.)

Wenn man das zur Kenntnis nimmt, fühlt man sich daran erinnert, daß manche Forscher das sagenumwobene "Atlantis" ebenfalls in England gesucht haben. Erzählt Platon nicht davon, daß die Häuser in Atlantis mit goldenen Schindeln bedeckt waren (Wiki)? Natürlich käme die so bronze- und waffenreiche Region der Nordischen Bronzezeit, wie sie unter anderem von Kristian Kristiansen herausgestellt wurde als "Außenstelle Mykenes" ganz ebenso infrage (3).

Nun scheint der Beitrag, auf den sich Krauß bei den zitierten Ausführungen bezieht (4), online nicht zu finden zu sein. Es fällt in diesem Zusammenhang natürlich nur allzu deutlich auf, daß die Bronzezeit beginnt, nachdem sich die Steppen-Genetik über ganz Europa, bzw. über viele Teile Mittel- und Nordeuropas verbreitet hatte. Womöglich wird man sie also nicht nur als eine typisch "europäische Epoche" bezeichnen können, sondern geradezu auch als eine typisch "indogermanische".

Erinnert sei zunächst auch noch daran, daß im Schottland der Frühen Bronzezeit sorgfältig ausgewählte Bronze-Gegenstände an auffallenden Orten innerhalb der Landschaft als Weihgaben für die Gottheit niedergelegt worden sind (5). Mehr als die Hälfte dieser Orte hatten direkte Sicht auf den Punkt des Sonnenaufgangs oder Sonnenuntergangs zur Winter- oder Sommersonnenwende (5). Zwar finden sich ein ähnliches Empfinden für die Ästhetik der Landschaft auch in anderen Regionen Europas während der Bronzezeit. Aber in Schottland ist das den Archäologen womöglich besonders deutlich aufgefallen (5). Hier deutet sich jene indogermanische Verehrung der Göttin der Morgenröte an, die kulturell bis hinüber nach Indien gut bezeugt ist und noch im 18. Jahrhundert von europäischen Malern gerne gemalcht worden ist (5).

Abb. 2: Die Kreidefelsen an der Südküste Englands ("Sieben Schwestern") - Hier hundert Kilometer südwestlich von Dover (Herkunft: Wikip.)

Auch Fragen der historischen Sprachwissenschaft, die schon seit Wilhelm von Humboldt erörtert werden, erhalten durch die neuen archäogenetischen Ergebnisse eine neue Beleuchtung. Da allmählich Vergleiche zwischen verschiedenen Regionen Europas möglich werden, soll ein solcher im folgenden vorgenommen werden.

Sprachgeschichte im Vergleich: Spanien, Irland, England und Italien

Viele Länder Europas - wie Spanien, Irland und England - sind, was ihre Vorgeschichte betrifft, insofern vergleichbar, als sie zu ähnlichen Zeiten 

  • einerseits von den Indogermanen der Glockenbecher-Kultur besiedelt worden sind (ab. 2.350 v. Ztr.) und als es in ihnen
  • andererseits auch eine zweite Besiedlungswelle gegeben hat, nämlich durch die Einwanderung keltischer Stämme (spätestens ab etwa 800 v. Ztr.). 

[Einfügung, 18.4.22] Die zweite Besiedlungswelle ging insbesondere von der Urnenfelder-Kultur (Wiki) aus, die sich - ab 2000 v. Ztr. - vom zentralen Ungarn her ausbreitete (16). Die Forschung nimmt mehrheitlich an, daß sich mit ihr die nachmaligen Italiker, Iberer, Ligurer und Kelten ausbreiteten. (Allerdings könnten diese sich - siehe unten - auch schon mit der Glockenbecher-Kultur ausgebreitet haben.) Ab 1900 v. Ztr. sei die Urnenfelder-Kultur im nordöstlichen Serbien südlich des Eisernen Tores anzutreffen. Während des darauffolgenden Zusammenbruchs des Tell-Systems um 1500 v. Ztr. breitete sich das Urnenfelder-Modell in einige weitere Regionen aus, in die südliche Poebene, auch in die Sava/Drava- und Untere Tisza-Ebene. In vielen dazwischenliegenden Regionen (etwa im Alpenraum) hat es lange keinerlei Urnenfelder-Kultur gegeben oder aber hybride Kulturen mit weniger radikaler Übernahme der Urnenfelder-Kultur-Elemente (etwa in der nördlichen Po-Ebene) (16). [Ende Einfügung]

Genetisch war es in den Länder Spanien, Irland und England schon ab 2.350 v. Ztr., also im Zuge der ersten Ausbreitungswelle zu einem fast 100%igen Umbruch und Austausch gekommen. Auch bei den heutigen Basken kam es - zumindest in männlicher Linie - zu einem 100%igen genetischen Umbruch. Dennoch hat sich das Baskische dort als vor-indogermanische Sprache bis heute erhalten. Wie aber verhielt es sich mit solchen älteren Sprachen andernorts? Übernahmen die Glockenbecher-Leute auch andernorts in Spanien, sowie in Irland oder in England die Sprache der dort vormals lebenden einheimischen Menschen oder brachten sie mit ihrer neuen Genetik auch ihre neue Sprache mit? Und welche Sprache wäre das gewesen? Und wie wären diese Sprachen dann durch die Sprachen der zweiten Ausbreitungswelle abgelöst worden?

Italien

Diese Frage kann bislang nur für Italien einigermaßen überzeugend beantwortet werden, da es hier keine größere Ansiedlung keltischer Stämme gegeben hat, die die Verhältnisse durcheinander gebracht hätten. Für Italien scheinen die Verhältnisse einigermaßen klar zu sein. Ab 2.500 v. Ztr. kam die Glockenbecher-Kultur nach Italien und brachte dort in die nachfolgenden Generationen 20 bis 40 % Steppengenetik ein. Es gab keinen völligen genetischen Austausch wie etwa zeitgleich in Spanien, Irland oder England. Dennoch gab es in Italien bis zu seiner Eroberung durch die Römer eine Fülle von italischen, sprich indogermanischen Sprachen (Wiki). Da es dann in Italien - wie gesagt - nie eine so ausgeprägte nachmalige Zuwanderung von Kelten gegeben hat wie das für England, Spanien oder Irland gilt, scheint auch klar, daß all diese noch in der Römerzeit bestehenden indogermanischen, italischen Sprachen mit den ersten Indogermanen, also mit der Glockenbecherkultur nach Italien gekommen sind. Lediglich bei dem Messapischen (Wiki, engl), das im Stiefelabsatz Italiens von den Dauniern und zwei anderen Stämmen gesprochen wurde, könnte es sich um eine etwas entferntere indogermanische Sprache handeln, nämlich um eine illyrische Sprache, da sich diese Stämme von der anderen Seite der Adria aus nach Apulien ausgebreitet haben könnten (6).

Die in Norditalien und im Alpenraum beheimateten großen Völker der Etrusker und Räter haben ihre vorindogermanische Sprache während der Vermischung mit den Glockenbecher-Leuten ebenso wie die Basken behalten. Es handelt sich bei ihnen um zwei im Italien der Bronze- und Eisenzeit weit verbreitete nicht-indogermanische Sprachen. Dennoch trugen die Etrusker (und sicherlich ebenso die Räter) in gleichem Maße einen indogermanischen genetischen Herkunftsanteil in sich - ebenso wie die Basken. 

Natürlich wäre auch noch zu klären, wie sich in all das die Ausbreitung der Urnenfelder-Kultur nach Norditalien hinein einfügt.

Irland

Der Archäogenetiker David Reich soll vorgeschlagen haben, daß schon die Glockenbecher-Kultur die keltische Sprache auch nach England und Irland gebracht haben könnte (Wiki). So wie auch in Italien. Wie zu vielen indogermanischen Sprachen (Wiki) werden auch zur inselkeltischen Sprache vorindogermanische Substrat-Hypothesen (Wiki) erörtert, wobei viele historische Möglichkeiten erörtert werden. Auf keine derselben kann sich die Forschung bislang einigen. Deshalb wird die genannte These von David Reich als eine eher willkürliche Annahme erachtet werden müssen. Von vielen Sprachwissenschaftlern wird die keltische Sprache der Iren auf die Zuwanderung von Galliern zurück geführt, da die Verwandtschaft mit der Sprache der Gallier auf dem Festland sehr nahe sei (Wiki):

Die älteste geschriebene goidelische Sprache ist das ursprünglichste Irisch, was bezeugt ist in den Ogham-Inschriften aus dem 4. Jahrhundert. Die Formen dieser Sprache sind sehr nahe verwandt, oft identisch mit Formen des Gallischen, das überliefert ist aus der Zeit vor und während des Römischen Reiches.
The oldest written Goidelic language is Primitive Irish, which is attested in Ogham inscriptions from about the 4th century. The forms of this speech are very close, and often identical, to the forms of Gaulish recorded before and during the time of the Roman Empire. 

Natürlich würde dieser Umstand weder ausschließen, daß es vorkeltische indogermanischen Sprachen wie auch vorkeltische nicht-indogermanische Sprachen auf Irland gegeben hat (Wiki). Es würde nur bedeutend, daß das erste, durch Schriftüberlieferung bekannt gewordene Inselkeltische durch die keltischen Zuwanderungen der Eisenzeit nach Irland gebracht worden ist, womöglich sogar erst durch die letzte dieser Zuwanderungen (Wiki):

Die traditionelle Sichtweise ist die, daß die keltische Sprache, das Ogham-Schriftzeugnis und seine Kultur durch Wellen von Kelten von Festland-Europa aus nach Irland gebracht worden sind. (...) Diese Theorie sagt, daß es vier unterschiedliche keltische Einwanderungen nach Irland gab. Es wird gesagt, daß die Priteni die ersten gewesen seien, gefolgt von den Belgern aus dem nördlichen Gallien und aus Britannien. Später seien Laighin-Stämme von Aromorica aus (aus der heutigen Bretagne) nach Irland und Britannien mehr oder weniger gleichzeitig eingewandert. Und schließlich hätten Milesier (Gallier) Irland vom nördlichen Spanien aus oder vom südlichen Gallien aus erreicht.
The long-standing traditional view is that the Celtic language, Ogham script and culture were brought to Ireland by waves of invading or migrating Celts from mainland Europe. This theory draws on the Lebor Gabála Érenn, a medieval Christian pseudo-history of Ireland, along with the presence of Celtic culture, language and artifacts found in Ireland such as Celtic bronze spears, shields, torcs and other finely crafted Celtic associated possessions. The theory holds that there were four separate Celtic invasions of Ireland. The Priteni were said to be the first, followed by the Belgae from northern Gaul and Britain. Later, Laighin tribes from Armorica (present-day Brittany) were said to have invaded Ireland and Britain more or less simultaneously. Lastly, the Milesians (Gaels) were said to have reached Ireland from either northern Iberia or southern Gaul. It was claimed that a second wave named the Euerni, belonging to the Belgae people of northern Gaul, began arriving about the sixth century BC. They were said to have given their name to the island.

Soweit also zunächst zu den britischen Inseln, wo die Sprachgeschichte in der Bronzezeit noch die größten Unsicherheiten aufweist.

Spanien

Als die Römer nach Spanien kamen, fanden sie dort eine bemerkenswerte Sprachvielfalt vor, eigentlich ähnlich wie es sie zuvor auch in Italien gegeben hatte. Für Spanien wird diese Sprachvielfalt als "Paläohispanisch" (Wiki) bezeichnet und von einem eigenen Forschungszweig erforscht, der schon auf Wilhelm von Humboldt zurückgeht. Die Römer fanden das Baskische vor, das eindeutig vorindogermanischen Ursprungs ist. Sie fanden außerdem keltoiberische Sprachen vor, vor allem im Nordwesten des Landes, die sehr eindeutig auf die Zuwanderung der Kelten zurück geführt werden können. Sie fanden im Südwesten Spaniens das Tartessische (Wiki, engl) vor, das aufgrund der wenigen bisherigen Schriftzeugnisse noch keiner großen Sprachfamilie zugeordnet werden kann.

Sie fanden im Bereich der heutigen Grenze zwischen Spanien und Portugal eine lusitanische Sprache (Wiki, engl) vor, die in wenigen Schriftfunden aus römischer Zeit überliefert ist. Es handelt sich zwar klar um eine indogermanische Sprache, aber für die Sprachwissenschaftler ist es - zumindest auf den ersten Blick - nicht gleich als eine keltische Sprache zu erkennen. Manche sehen Verwandtschaft der lusitanischen Sprache mit der ligurischen Sprache in Italien, bei der ebenfalls unklar ist, ob sie keltischen oder vorkeltischen Ursprungs ist (Wiki):

Sie gründen ihre Ergebnisse auf Parallelen in den Namen von Gottheiten und in einigen Wortähnlichkeiten (z.B. die Ähnlichkeit des umbrischen gomia und des lusitanischen comaiam), sowie auf einige grammatische Eigenschaften.
They base their finding on parallels in the names of deities and some lexical items (e.g., the similarity of Umbrian gomia and Lusitanian comaiam), and some grammatical elements.

Das wäre natürlich eine bestechende Theorie, würde man doch mit ihr einen winzigen Einblick erhalten in die Sprache der Glockenbecher-Kultur. In einer oft benutzten Verbreitungskarte paläohispanischer Sprachen, die wir auch hier auf dem Blog in früheren Beiträgen nutzten, heißt es zum Lusitanischen: "Indo-european (pre-Celtic)". Womöglich ist aber bezüglich dieser Einordnung auch nur der Wunsch der Vater des Gedankens. Zu dem Thema werden von den Forschern noch sehr unterschiedliche andere Theorien vorgeschlagen, nach denen es sich etwa im Wesentlichen dann doch um eine im weiteren Sinne keltische Sprache handeln würde (Wiki).

Dann fanden die Römer im ganzen, der Mittelmeerküste zugewandten Gebiet Spaniens sogenannte iberische Sprachen (Wiki, engl) vor. Die Zuordnung zu einer Sprachfamilie ist bezüglich des Iberischen in keiner Weise gesichert. Eine Theorie zur Herkunft der iberischen Sprachen ist, daß sie mit der keltischen Urnenfelder-Wanderung nach Spanien gekommen ist,  andere sehen eine Verwandtschaft mit Berbersprachen in Nordafrika, wiederum andere Verwandtschaft mit dem Baskischen.

Welche Sprachen also die Glockenbecher-Leute nach England und Spanien brachten bleibt größtenteils Spekulation - ganz im Gegensatz zu dem Erkenntnisstand bezüglich Italiens.

Frankreich, Süddeutschland

Die Kelten in Frankreich und am Rhein sprachen in der Eisenzeit das Gallische (Wiki):

Das Gallische wie auch das Lepontische und das Galatische steht von den inselkeltischen Sprachen der britannischen Gruppe nahe.

Das Galatische wurde von einem keltischen Volksstamm gesprochen, der bis nach Anatolien ausgewandert war (Galater). In ähnlichem Verwandtschaftsverhältnis steht das Gallische übrigens auch zu den keltoiberischen Sprachen.

Wenn es also eine Italo-Keltische Sprachgemeinschaft (Wiki, engl) gegeben hat, die offenbar von nicht wenigen Sprachhistoriker für möglich gehalten wird, dann muß sie in die Zeit vor 2.500 v. Ztr. datiert werden und räumlich in den Raum nördlich der Alpen verortet werden in die dortige Zeit der Glockenbecher-Kultur. Wenn wir stattdessen lesen, sie ... (Wiki)

.... wurde vermutlich in der ersten Hälfte des zweiten Jahrtausends vor Christus im heutigen Süddeutschland, Böhmen und Österreich gesprochen,

dann ist diese chronologische Einordnung zumindest mißverständlich. Zu jenem Zeitpunkt hatten sich ja die italischen Sprachen schon längst von den keltischen getrennt und nach Italien ausgebreitet mit der Ausbreitung der Glockenbecher-Kultur. 

Erste Überlegungen zu der Theorie einer Italo-Keltischen Sprachgemeinschaft gehen auf Carl Friedrich Lottner (1834-1873) (Wiki) aus dem Jahr 1861 zurück. Der Berliner Lottner war ein Schüler von Jacob Grimm und scheint sich bezüglich seines Arbeitsfleißes seinen Lehrer zum Vorbild genommen zu haben (Wiki):

Sein Leben war fast gänzlich seiner wissenschaftlichen Arbeit gewidmet. Sein spezielles Interesse galt den zahlreichen indoeuropäischen Sprachen. Aber auch Keilinschriften und afrikanischen und asiatischen Sprachen galt seine Aufmerksamkeit.  Er formulierte im Jahre 1861 die Hypothese einer näheren Verwandtschaft der italo-keltischen Sprachgruppe innerhalb des (hypothetischen) Proto-Indoeuropäisch (PIE).

Und (Dt. Biogr):

Er führte ein einsames Leben und widmete sich zumindest in den letzten Lebensjahren nahezu ausschließlich seiner wissenschaftlichen Arbeit. Seine Zeitgenossen rühmten an ihm die Weite und Vielseitigkeit seines Forschungsinteresses. 

Wenn die Glockenbecher-Leute diese Italo-Keltische Sprachgemeinschaft repräsentiert hätten, könnte man den Schnurkeramikern die germanischen Sprachen zuordnen. Der Frage, wie viel Sinn das macht, soll aber an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden.

Zwischen-Resümee

Insgesamt drängt es sich fast auf, daß es - aufgrund der Keltischen Wanderungen - in der Bronze- und Eisenzeit Englands und Irlands mehr ethnische und damit genetische Veränderungen gegeben haben könnte als in Spanien und daß es in Spanien mehr ethnische und genetische Veränderungen gegeben haben könnte als in diesen Jahrtausenden in Italien. Dieser Befund erstaunt im Grunde. Und es schließt sich die Frage an: Warum ist der ungarische Raum, der süddeutsche Raum und der Raum nördlich der Alpen ein großes Unruhezentrum in der Spätbronze- und Eisenzeit, das sich in beträchtlichem Ausmaß bis nach England, Irland und Spanien, ja bis nach Anatolien auswirkt, während man zu gleicher Zeit eher von kultureller und genetischer Stabilität in Italien sprechen kann?

Zusammenfassend kann also einstweilen gesagt werden: In Italien hat es von 2.500 v. Ztr. bis etwa 0 v./n. Ztr. Königreiche mit großen Völkern nicht-indogermanischer Sprache (Räter und Etrusker) neben Königreichen mit großen Völkern indogermanischer Sprache (Italiker) gegeben. Alle diese Völker trugen 20 bis 40 Prozent indogermanische Genetik in sich. 

Schon für Spanien sind diese Dinge weniger übersichtlicher. Hier hat es von 2.500 v. Ztr. bis etwa 0 v./n. Ztr. Königreiche mit großen Völkern nichtindogermanischer Sprache gegeben (Basken, Iberer, evtl. auch andere Stämme) neben Königreichen mit großen Völkern iberokeltischer Sprache (Iberokelten, verwandt mit den Galliern). Außerdem gibt es - nach einigen Sprachhistorikern - hier den Verdacht auf das Fortbestehen vorkeltischer indogermanischer Sprachen (Lusitanisch), ein Geschehen, das für Italien ja eher den Normalfall darstellt.

Für Irland und Britannien ist die Faktenlagen noch unübersichtlicher. Aber höchstwahrscheinlich sind jene keltischen Sprachen, die um 0 v./n. Ztr. auf den britischen Inseln gesprochen worden sind, erst wenige Jahrhunderte zuvor von Gallien aus herüber gekommen.

Das heißt: Obwohl es in Spanien mit der Ankunft der Glockenbecher-Kultur - im Gegensatz zu Italien - einen fast 100%igen genetischen Austausch gegeben hat, sprachen die Menschen an Spaniens Mittelmeerküste bei Ankunft der Römer iberische Sprachen, die höchstwahrscheinlich keine indogermanischen Sprachen waren. Soweit ein Vergleich von Spanien mit den britischen Inseln und Italien aus Sicht der Sprachgeschichte. 

Nun zu Indogermanen, Urnenfelder-Kultur und Kelten auf den britischen Inseln.

Die keltischen Britonen (2.400 v. bis 450 n. Ztr.)

Bis zu dem Zeitpunkt als die Angelsachsen um 450 n. Ztr. kamen, lebten in England die keltischen Britonen (Wiki). Sie sprachen britannische Sprachen als Untergruppe des Keltischen, bzw. Gallischen. Wie schon ausgeführt, ist nicht klar, wann und wie die keltische Sprache und Kultur nach England kam. Es könnte das in der Hallstatt- und/oder Latene-Zeit geschehen sein, es könnte das schon um 1200 v. Ztr. geschehen sein, es könnte das aber auch schon - wie in Italien - mit der ersten Zuwanderung der indogermanischen Glockenbecher-Kultur um 2.400 v. Ztr. geschehen sein. Oder es könnte sich um eine Kombination aus allen vier genannten Vorgängen handeln. Sicher ist, daß es große genetische Kontinuität von den Glockenbecher-Leuten an bis zur Zuwanderung der germanischen Angelsachsen um 450 n. Ztr. in England gegeben hat. Aber es sind immer wieder auch Menschen in England eingewandert mit einer kontinental-europäischer genetischer Signatur. Das wird weiter unten nach neuesten Forschungsergebnissen (1) noch weiter ausgeführt. 

Die Menschen des bronzezeitlichen und eisenzeitlichen England haben an der allgemeinen Kulturentwicklung in Europa rege teilgenommen, so daß ein genauerer Blick nach England auch den Blick für die bronze- und eisenzeitliche Kulturentwicklung in Mitteleuropa schärfen kann - ebenso umgekehrt.

Während wir etwa mit der Lausitzer Kultur und ihren reichen Bronzewaffen und Goldfunden die Ausbreitung von spätbronzezeitlichen Wallanlagen vom heutigen Schlesien aus bis an die Ostsee beobachten können (7) - einschließlich der Wallanlagen in der Nähe des Königsgrabes von Seddin (Schwedenschanze bei Horst), in der Nähe des Neuruppiner Sees (Weilickenberg bei Boltenmühle) oder an einer Seenenge bei Potsdam (Schwedenschanze) (7) - sehen wir zugleich Entwicklungen rund um die berühmten "Hillforts" in England (Wiki). Beide Erscheinungen dürften sicherlich viel Licht aufeinander werfen. Sie gehen parallel zu den spätbronzezeitlichen, keltischen Höhenburgen in Süd- und Mitteldeutschland (8).

Es ist das jene Zeit, in der die Menschen im mittleren und nördlichen Europa noch hellhäutiger werden, und in der sie im Baltikum, auf den britischen Inseln und in Skandinavien aufgrund von Selektion fähig werden, als Erwachsene Rohmilch verdauen zu können (1) (siehe unten).

Im Jahr 2016 hat eine archäogenetische Studie zehn Individuen im östlichen England aus der Zeit zwischen Eisenzeit und Mittelalter untersucht und kam zu dem Ergebnis, daß die heutigen Menschen im östlichen England genetisch zu etwa 39 % von den Angelsachsen abstammen. Damit hätten die Angelsachsen im südlichen und mittleren England eine beachtliche genetische Umwälzung mit sich gebracht (9), die sich auch in den Y-chromosmen wiederspiegelt (1) (siehe unten). 

Aber diese angelsächsische Zuwanderung war ja nur die letzte von vielen vorhergehenden.

Der große europäische Krieg, der zum Seevölkersturm führte, und auch nach England hinüber hinüber schwappte (1200 v. Ztr.)

Indem man sich mit der genannten neuen Studie (1) beschäftigt, kommt man auch dazu, sich mit einem Umstand vertraut zu machen, der einem bislang ganz entgangen war. Vor zwei Jahren hatten wir zwar hier auf dem Blog (anhand eines spannenden Aufsatzes des dänisch-schwedischen Archäologen Kristian Kristiansen) den Aufsatz veröffentlicht "Der große europäische Krieg, der zum Seevölkersturm führte (1200 v. Ztr.)" (3). Dabei war uns aber noch gar nicht bewußt gewesen, was auf dem deutschen Wikipedia bislang nur mit einem einzigen Satz benannt ist, was man deshalb auch so isoliert für sich genommen zunächst gar nicht ganz ernst nehmen will. Dieser Satz lautet in derzeitiger Fassung (Wiki):

Es wurde nachgewiesen, daß im 12. Jahrhundert v. Chr. eine Invasion oder eine Masseneinwanderung nach Südengland stattgefunden haben muß.

Das heißt, "Der große europäische Krieg, der zum Seevölkersturm führte", muß noch um eine zusätzliche Dimension erweitert werden. Da man diesen Satz - so isoliert wie er da steht - für eine maßlose, undifferenzierte Übertreibung halten muß, seien zu diesem Sachverhalt noch die differenzierteren Ausführungen des englischen Wikipedia angeführt (Wiki):

Es gibt Hinweise auf einen Bruch in der kulturellen Entwicklung, von denen einige Gelehrte annehmen, daß er eine Invasion nahelegt (oder zumindest eine Ausbreitungsbewegung) in das südliche England um 1200 v. Ztr.. Dieser Bruch ist auch weit jenseits von England und sogar jenseits von Europa beobachtet worden, da die meisten Großreiche des Nahen Ostens zusammenbrachen (oder ernsthafte Schwierigkeiten erlebten) und die Seevölker um diese Zeit den gesamten Mittelmeer-Raum verheerten. Leichenverbrennung wurde als Grabbrauch (in England) angenommen. (...) Nach John T. Koch und anderen entwickelten sich die keltischen Sprachen während dieser spätbronzezeitlichen Epoche in einem intensiven, durch Handel verbundenen kulturellen Netzwerk, das die "Atlantische Bronzezeit" genannt wird (...). Dies steht aber in Gegensatz zu der im allgemeinen eher akzeptierten Sichtweise, daß die keltischen Ursprünge innerhalb der Hallstatt-Kultur liegen.
There is evidence of a relatively large-scale disruption of cultural patterns which some scholars think may indicate an invasion (or at least a migration) into Southern Great Britain around the 12th century BC. This disruption was felt far beyond Britain, even beyond Europe, as most of the great Near Eastern empires collapsed (or experienced severe difficulties) and the Sea Peoples harried the entire Mediterranean basin around this time. Cremation was adopted as a burial practice, with cemeteries of urns containing cremated individuals appearing in the archaeological record. According to John T. Koch and others, the Celtic languages developed during this Late Bronze Age period in an intensely trading-networked culture called the Atlantic Bronze Age that included Britain, Ireland, France, Spain and Portugal, but this stands in contrast to the more generally accepted view that Celtic origins lie with the Hallstatt culture. 

John T. Koch scheint für einen sehr spekulativen Denkansatz zu stehen, den wir im folgenden nicht weiter verfolgen wollen. Er scheint uns auch nicht durch die archäogenetischen Erkenntnisse bestätigt worden zu sein. Jedenfalls: Es gibt grundsätzlich drei Annahmen: Die keltischen Sprachen der keltischen Briten kamen um 2.400 v. Ztr. (ebenso wie in Italien) nach England, sie kamen um 1200 v. Ztr. nach England oder auch erst in der Hallstatt-Zeit nach 800 v. Ztr., bzw. noch später. Man darf gespannt sein, wie sich zu diesen Fragen die neuesten archäogenetischen Daten ausnehmen. Sie können die Frage zwar nicht endgültig klären, aber doch manches präzisieren.

Das Archäogenetik-Labor von David Reich und Nick Patterson kann aufgrund der inzwischen erfolgten mengenmäßigen Vervielfachung der Sequenzierungsarbeit in England und auf dem europäischen Festland hinsichtlich archäologisch gewonnener Skelettüberreste neue Daten zu all diesen Fragen beisteuern (1). Dazu muß man aber sehr genau in die Genome schauen, denn man muß kleinere Unterschiede beachten. Es reicht nicht mehr, auf die großen Unterschiede zu achen. Denn ab der Zuwanderung der Indogermanen haben wir es überall in Europa genetisch eigentlich mit vergleichsweise ähnlichen Menschen zu tun.

Vor dem Neolithikum unterschieden sich die europäischen mesolithischen Jäger-Sammler-Urvölker genetisch voneinander so stark, wie wir Europäer uns heute von den Ostasiaten unterscheiden. Im Vergleich dazu sind die genetischen Unterschiede während der Bronzezeit deutlich "eingeebnet". Aber sie sind noch vorhanden und untersuchbar.

3.900 v. Ztr. - Genetischer Umbruch

Während des Mittelneolithikums, das heißt also ab 3.900 v. Ztr. waren die britischen Inseln vom heutigen Frankreich aus von Bauern anatolisch-neolithischer Herkunft besiedelt (10). Diese trugen 20 % westeuropäische Jäger-Sammler-Herkunft in sich und 80 % anatolisch-neolithische Herkunft. Beides brachten sie vom Festland aus mit. (In der Studie und im folgenden wird die anatolisch-neolithische Herkunft "frühe europäische Bauern-Herkunft" genannt.) Die in England einheimischen westeuropäischen Jäger und Sammler starben dort vollständig aus (und/oder wurden ausgerottet) (1) - der erste umfangreiche genetische Umbruch auf den britischen Inseln.

Von diesem Umbruch zu Beginn des Neolithikums war hier auf dem Blog schon verschiedentlich die Rede. (In Deutschland und Frankreich hatte es schon ab 5.700 v. Ztr. mindestens zwei genetische Umbrüche gegeben - am Anfang und am Ende des Frühneolithikums - die die genetische Ausgangssituation schufen für diese Ausbreitung des Neolithikums nach England hinein.)

2.450 v. Ztr. - Genetischer Umbruch

Im Spätneolithikum, um 2.450 v. Ztr. kamen die indogermanischen Glockenbecher-Leute nach England und brachten die seither dort vorherrschende (indogermanische, sogenannte) "Steppengenetik" mit sich. Sie brachten durchscnittlich 29 % frühe europäische Bauern-Herkunft vom Kontinent mit sich. Die auf den britischen Inseln bislang einheimischen Bauern starben zu weit über 90 % genetisch aus (oder wurden ausgerottet). Es war dies der zweite (und bislang letzte) umfangreiche genetische Umbruch auf den britischen Inseln (zumindest was dieses 90%ige Ausmaß betrifft).

Die Indogermanen kommen mit zum Teil nichtindogermanischen Eliten nach England

Der berühmte, bei Stonhenge begrabene Amesbury-Bogenschütze (Wiki), der - nach Strontium-Isotop-Analysen - vermutlich aus der Schweiz oder dem Elsaß stammte, hatte erstaunliche und ungewöhnliche 45 % frühe europäische Bauern-Genetik in sich. Dazu heißt es in der neuen Studie (1):

Die Tatsache, daß der Bogenschützenfürst als Zugezogener zu wenig Steppen-Herkunft in sich trug, um aus der Population zu stammen, die die Steppen-Herkunft (ansonsten) auf den beobachteten Anteil im spätneolithischen und frühbronzezeitlichen England hinaufhob, zeigt, daß Menschen, die mit der Glockenbecher-Kultur nach England gekommen sind, keineswegs genetisch homogen gewesen sind.
The fact that the Archer was a migrant but had too little Steppe ancestry to be from the population that drove Steppe ancestry to the level observed in C/EBA Britain, shows that Beaker-associated migrants to Britain were not genetically homogeneous.

Sie waren nicht nur nicht genetisch homogen. Sie scheinen sogar von Fürsten und Heerführern angeführt worden zu sein, die deutlich anderer genetischer Herkunft waren als die Mehrheit der Menschen jenes Heeres oder jener Völkerwanderung, die sie anführten. Ein neuerliches Zeugnis für die Vielfalt des Geschehens in Europa während des Spätneolithikums und während der Ausbreitung der Indogermanen in Europa (mehr dazu hier: 11). 

Man könnte diesen Befund so interpretieren, daß man sagt: Die Indogermanen konnten sich als Söldnertruppen in bestehenden mittelneolithischen Großreichen deren Hochadel andienen, ohne die bestehenden Hierarchien und Herrschaftsstrukturen sogleich völlig zu stürzen. Vielmehr haben sie in den örtlichen Hochadel eingeheiratet, wobei dann die vermischten Nachkommen dieses Hochadels die unvermischten Söldnertruppen vom Alpenraum aus bis nach England führen konnten. Also wieder eine Kombination von "Rebellen und Königen" (12). Man könnte wiederum auch an germanische Adlige denken, die in den römischen Senatsadel einheirateten während der Völkerwanderungszeit um 500 n. Ztr.. Und ein multikulturelles Heer scheint ja zeitgleich auch in Dänemark eingedrungen zu sein (11).

1.200 v. Ztr. - Umfangreichere Zuwanderungen

Nun behandeln wir die Zeit von 2450 v. Ztr. bis 1200 v. Ztr. sehr summarisch, wenn wir zitieren (1):

Die frühe europäische Bauern-Herkunftskomponente stieg in England und Wales von 31 % während des Spätneolithikums und der Frühen Bronzezeit auf 35 % während der Mittleren Bronzezeit, dann auf 36 % während der Spätbronzezeit und stabilisierte sich auf 38 % während der Eisenzeit. In der gleichen Zeit gab es in Schottland keinerlei bemerkenswerte genetische Häufigkeitsverschiebungen.
EEF-related ancestry increased in England and Wales from 31.0±0.5% in the C/EBA (n=69), to 34.7±0.6% in the MBA (n=26), to 36.1±0.6% in the LBA (n=23), and stabilized at 37.9±0.4% in the IA (n=273) (here and below, we quote one standard error). There was no significant change in Scotland.

Ein solcher Häufigkeits-Anstieg der vormals im mittelneolithischen Europa vorherrschenden Bauern-Herkunftskomponente über die Jahrhunderte der Bronzezeit hinweg war auch schon für Mitteleuropa festgestellt worden. Und man hatte ja zunächst oft vermutet, daß dieser Anstieg zurückzuführen wäre auf Unterschichten oder Rückzugsräume, die bei der Sequenzierungsarbeit von Skeletten gut ausgestatteter Gräber weniger erfaßt worden sein könnten. Ein solcher Anstieg einheimischer Herkunftskomponenten war ja im übrigen auch schon im Mittelneolithikum feststellbar gewesen.

Aber die Forscher stellen jetzt für England fest, daß die frühe europäische Bauern-Herkunftskomponente im England der Bronzezeit nicht derjenigen gleicht, die zuvor im Mittelneolithikum daselbst vorgeherrscht hatte (1). Das geht nur durch einen sehr genauen Blick.

Das heißt, daß wir in England in der Späten Bronzezeit neuerliche Zuwanderungen von Kontinental-Europa aus in der Zeit um 1200 v. Ztr. voraussetzen müssen. Genauer wird darüber ausgeführt (1):

Der Anteil der Individuen, deren Herkunft sich deutlich von der Hauptgruppe unterscheidet, beträgt 17 % für das Spätneolithikum und die Frühe Bronzezeit (2.450 bis 1.800 v. Ztr.), 4 % für die Mittlere Bronzezeit (1.800 bis 1.300 v. Ztr.), 17 % während der Spätbronzezeit (1300 bis 750 v. Ztr.) und 3 % während der Eisenzeit.
The fraction of individuals whose ancestry is significantly different from the main group is 17% over the first part of the C/EBA (2450-1800 BCE), 4% from the end of the EBA through the beginning of the MBA (1800-1300 BCE), 17% from the end of the MBA through the LBA (1300-750 BCE), and 3% through the IA.

Im Spätneolithikum gab es also in England einen vergleichsweise hohen Anteil von Menschen (17 %), deren Herkunft aufgrund ihres höheren genetischen Anteils von früher europäischer Bauernherkunft mehr derjenigen des übrigen kontinentalen Festlandes glich als derjenigen der Hauptbevölkerung, die damals den 90%igen genetischen Umbruch auf den britischen Inseln bewirkte. In den nachfolgenden Jahrhunderten geht dieses genetische Signal aufgrund von Vermischungen, Homogenisierungen innerhalb der zugewanderten Stämme und Völker auf 4 % zurück. Der frühbäuerliche Herkunftsanteil steigt dadurch von 35 auf 36 %.

Dies könnte ein Signal sein für die Zuwanderungen vom Festland im Zuge der Wanderungen der Urnenfelder-Kultur und ihrer Brandbestattungen, von denen oben in diesem Blogartikel die Rede war.

Aber spannend ist dann insbesondere der neuerliche Anstieg dieser nun klar außerbritischen Herkunftskomponente während der Spätbronzezeit, und zwar wiederum zu finden bei 17 % der Bevölkerung. Diese müssen alle Zuwanderer aus Kontinentaleuropa gewesen sein, sie können nicht aus einer Bevölkerung innerhalb Englands abgeleitet werden, da hier der Anteil der früheuropäischen Bauern-Herkunftskomponente aufgrund der genannten Homogenisierungen längst viel niedriger geworden war als im mittleren und südlichen Europa (wo es ja auch keinen 90%igen genetischen Umbruch gegeben hatte).

Und diese spätbronzezeitlichen Zuwanderungen nun stehen in Verbindung mit der Ausbreitung der Urnenfeldkultur in Europa und weisen auch ähnliche genetische Signaturen auf wie diese (nämlich erhöhter früher europäischer Bauern-Herkunftsanteil). Die Hinweise, die schon die Archäologen festgestellt hatten für die Zeit um 1200 v. Ztr. hinsichtlich einer Invasion und Masseneinwanderung bestätigen sich also durch die Archäogenetik.

Trotz der genannten Zuwanderungen von Kontinentaleuropa nach England in der Spätbronzezeit gehen die Forscher zugleich auch von einer beträchtlichen genetischen Kontinuität in England vom Spätneolithikum bis zur angelsächsischen Zeit, bzw. sogar bis heute aus. Sie stellen also für England etwas anderes fest als es für verschiedene Epochen der böhmischen Vorgeschichte festgestellt worden war (13). Sie schreiben (1):

Ein Hinweis auf den beträchtlichen genetischen Beitrag der frühbronzezeitlichen Population zu späteren Populationen stammt aus der Y-chromosomalen Haplogruppe R1b-P312/L21/M529 (R1b1a1a2a1a2c1), die 89 % aller sequenzierten Individuen des spätneolithisch-frühbronzezeitlichen England aufweisen, und die sich in zeitgleichen archäogenetischen Daten des kontinentalen Europa so gut wie nicht findet. Diese Haplogruppe blieb in England in jeder nachfolgenden Epoche mehr vorherrschend als in Kontinentaleuropa und ist noch heute ein unterscheidendes Merkmal der britischen Inseln, da dort ihre Häufigkeit beträchtlich höher ist als irgendwo sonst.
Evidence for a substantial contribution from the C/ EBA population to later populations also comes from Y chromosome haplogroup R1b-P312/L21/M529 (R1b1a1a2a1a2c1), which is present at 89±5% in sampled individuals from C/EBA Britain and is nearly absent in available ancient DNA data from C/EBA Europe (Supplementary Table 9). The haplogroup remained more common in Britain than in continental Europe in every later period, and continues to be a distinctive feature of the British isles as its frequency in Britain and Ireland today (14-71% depending on region) is far higher than anywhere else in continental Europe.

Für den hier genannten Rückgang der Häufigkeit von 89 % auf 14 bis 71 % in heutiger Zeit dürften vor allem die Zuwanderungen der Angelsachsen im Frühmittelalter und der Wikinger und Normannen im Früh- und Hochmittelalter verantwortlich zu machen sein. Nach Fig. 5 in ("Extended Data") (1) handelt es sich um restliche 14 % in Mittel- und Ostengland und um etwa 43 % in Westengland und Wales. Daran wird ja für Ostengland noch einmal der doch sehr beträchtliche genetische Umbruch durch die Angelsachsen erkennbar, zumal in der männlichen Linie. 

Die Ursprungsbevölkerung, von der aus die spätbronzezeitlichen Zuwanderungen nach England erfolgten, verorten die Archäogenetiker ganz grob in (Nord-)Frankreich, können sie aber beim jetzigen Datenstand noch nicht präzise eingrenzen. Sie hat natürlich mit den keltischen Wanderungen der Urnenfelderkultur zu tun (1). 

Die Zuwanderungen scheinen sich auch innerhalb von England - sowohl genetisch wie kulturell - regional sehr unterschiedlich ausgewirkt zu haben und waren in Südengland insgesamt deutlich größer als in Nordengland und in Schottland. Auf jeden Fall haben sie nirgendwo mehr als 44 % neue, kontinentaleuropäische Genetik mit sich gebracht (die sich ja auch nur in der größeren frühen europäischen Bauern-Herkunft deutlicher von der in England vorherrschenden Genetik unterschied). 

300 v. Ztr. - Die Wanderungen der Parisii nach Nordost-England 

Es wird dann schließlich noch die "Arras-Kultur" in Yorkshire in Nordost-England (Wiki) hervorgehoben, die auch aufgrund von antiken Schriftüberlieferungen und archäologischen Ähnlichkeiten der Streitwagen-Gräber auf den keltischen Stamm der Parisii im Pariser Becken und der Champagne zurück geführt wird, der um 300 v. Ztr. nach Nordost-England gekommen sein dürfte. Die historischen Berichte scheinen nun auch von der Archäogenetik bestätigt zu werden und es scheint sich - entgegen des bisherigen Forschungsstandes - zu bestätigen, daß nicht nur Elemente der Kultur dieses Volkes übernommen worden sind (wie derzeit noch auf Wikipedia angenommen), sondern eben auch Genetik. Die Forscher schreiben abschließend (1):

Unsere Beobachtung eines Rückgangs der früheuropäischen Bauernherkunft auf der Iberischen Halbinsel, wo sein Anteil während der Frühbronzezeit vergleichsweise groß war und einem in etwa zeitgleichen Anwachsen desselben auf den britischen Inseln, wo sein Anteil während der Frühbronzezeit vergleichsweise niedrig war, könnte theoretisch wiederspiegeln eine keltisch-sprechende Gruppe von Menschen mit einem mittleren früheuropäischen Bauernanteil, die sich in beide Richtungen ausgebreitet hat. Allerdings kann ein so einfaches Modell nicht alle parallelen Entwicklungen im Norden und Süden Europas erklären.
Our finding of a decrease of EEF ancestry in Iberia, where the proportion was relatively high in the EBA, and a roughly simultaneous increase in Britain where the proportion was relatively low in the EBA (Fig. 4a), could, in theory, reflect a Celtic-speaking group of people with intermediate EEF ancestry spreading into both regions, although such a simple model cannot explain all the north-south ancestry convergence in Europe.

Immerhin wären die keltischen Wanderungen aus genetischer Sicht damit schön auf den Punkt gebracht. Ebenso prägnant der Folgesatz (1):

Die Tatsache, daß die Ausnahmen der Gräber vom Margetts Pit und Cliffs End Farm sich genetisch sehr mit Individuen der Konvitz-Kultur in Mitteleuropa ähneln, ist spannend in Hinblick auf die Tatsache, daß einige Gelehrte die Hypothese aufgestellt haben, die mitteleuropäische Urnenfelder-Gruppen wie die Konvitz-Kultur in Verbindung stehen mit der Ausbreitung der keltisichen Sprachen.
The fact that the Margetts Pit and Cliffs End Farm outliers are genetically very similar to the Knoviz culture sample from Central Europe (Supplementary Information section 6) is striking in light of the fact that some scholars have hypothesized Central European Urnfield groups like Knoviz to have links to Celtic language spread.

Wir haben ja schon behandelt, daß sich Großreiche der süddeutschen Bronzezeit um 1300 v. Ztr. in Richtung Tollensetal bewegt hatten (3). In ähnlicher Weise scheinen sich die süddeutschen, bronzezeitlichen Großreiche also auch in Richtung England bewegt zu haben.

Helle Haut und Rohmilch-Verdauung selektiv bevorteilt in der Eisenzeit

Für das eisenzeitliche Nordeuropa zeichnen sich aber auch folgende Erkenntnisse noch deutlicher als bisher ab (1):

Varianten, die mit hellerer Hautfarbe in Verbindung stehen (SLC45A2) wurden in ganz Europa bedeutend häufiger während der Eisenzeit. Wir gelangen auch zu einem unerwarteten Ergebnis für das abgeleitete Allel bei MCM6-LCT rs4988235, das in Verbindung steht mit der Fähigkeit Laktase (Rohmilch) als Erwachsener zu verdauen. (...) Auf der iberischen Halbinsel hatte es in der Eisenzeit eine Häufigkeit von 9 %, verglichen mit der heutigen von 40 %, in Mitteleuropa (Österreich, Ungarn, Slowenien, Tschechei, Slowakei und Deutschland) hatte es 7 % verglichen mit 48 % heute. Im eisenzeitlichen Britannien jedoch betrug seine Häufigkeit 50 %, verglichen mit seiner heutigen von 73 %, was zeigt, daß intensive Selektion in England zu einer Zunahme der Häufigkeit dieses Allels ein Jahrtausend früher führte als in vielen Teilen des koninentenalen Europas.
Variants associated with light skin pigmentation at SLC45A2 became substantially more common throughout Europe in the IA. We obtain an unexpected result for the derived allele at MCM6-LCT rs4988235 which is associated with lactase persistence into adulthood. (...) In Iberia where it was ~9% compared to ~40% today, and in Central Europe (Austria, Hungary, Slovenia, Czech Republic, Slovakia and Germany) where it was ~7% compared to ~48% today. However, in IA Britain its frequency was 50% compared to the current 73%, showing that intense selection to increase the frequency of this allele acted roughly a millennium earlier in Britain than it did in multiple parts of continental Europe (Fig. 4b, Extended Data Fig. 4). We find no evidence that the frequency rise in Britain was due to M-LBA migration: the Margetts Pit and Cliffs End Farm outliers did not carry the allele, and most of the rise in Britain occurred after the M-LBA (Fig. 4b, Sup- plementary Table 8). This suggests that dairy products were consumed in a qualitatively different way or were economically more important in LBA-IA Britain than in Central Europe.

Dies geschah autochton in England und unabhängig von Zuwanderungen wie die Forscher glauben, aufzeigen zu können. Während seine Häufigkeit in England 50 % betrug, betrug seine Häufigkeit in sechs sequenzierten eisenzeitlichen Skeletten aus Skandinavien 30 % wie in einer Studie vor zwei Jahren schon heraus gekommen war (14). Und im Baltikum ist es damals bei der Hälfte von zehn Individuen festgestellt worden, die schon in der Bronzezeit lebten (14).

Während also die Kelten auf dem Kontinent diese Häufigkeitszunahme während der Eisenzeit nicht erfuhren, erfuhren sie die Völker des Baltikums womöglich schon in der Bronzezeit, die zugewanderten Kelten, die sich mit den Einheimischen vermischt hatten, auf den britischen Inseln während der Eisenzeit und die Germanen in Skandinavien ebenfalls während der Eisenzeit. 

Das deutet ja für uns zunächst eher auf einen Einfluß des Breitengrades hin, statt auf einen ausgesprocheneren kulturellen Einfluß. Obwohl man also inzwischen auf dem Gebiet der Erforschung der Evolution der angeborenen menschlichen Erwachsenen-Rohmilch-Verdauung so viel Unerwartetes und Überraschendes heraus bekommen hat (vor allem die späte Zeitstellung seiner Häufigkeitszunahme, sowie zusätzlich noch die und zeitlich regional versetzte Zunahme), bleibt die Erforschung der Ursache dieser Häufigkeitszunahme weiter spannend, da sie schlichtweg nicht geklärt ist.

Was für ein vielfältiges Geschehen es in der europäischen Vorgeschichte gegeben hat. Es ist so komplex, daß wir an diesem Blogartikel (mindestens) zwei Tage geschrieben haben!!

_________________

  1. Patterson N, Isakov M, Booth T, .... T. Douglas Price, .... Rohland N, Pinhasi R, Armit I, Reich D (2021) Large-scale migration into Britain during the Middle to Late Bronze Age. Nature, Advance online publication 22.12.2021 (pdf), https://www.nature.com/articles/s41586-021-04287-4
  2. Hopf. Jonas: Interview mit Prof. Dr. Raiko Krauß über Neolithikum, Kupfer- und Bronzezeit, 04.11.2021, https://youtu.be/tjxtDFZlpUo.
  3. Bading, I.: Der große europäische Krieg, der zum Seevölkersturm führte, 2019, http://studgendeutsch.blogspot.com/2019/10/volker-und-groreiche-in-bewegung-europa.html
  4. Hänsel, Bernhard: Die Bronzezeit als erste europäische Epoche. In: ders. (Hg.): Mensch und Umwelt in der Bronzezeit Europas: Abschlußtagung der Kampagne des Europarates: Die Bronzezeit: das erste goldene Zeitalter Europas an der Freien Universität Berlin, 17.-19. März 1997, Berlin 1998, https://d-nb.info/953002101/04, S. 19-26
  5. Bading, I.: 2021, https://studgendeutsch.blogspot.com/2021/02/eos-die-gottin-der-morgenrote.html
  6. Bading, I.: Die Indogermanen in Apulien - Herkunftsanteil 20 bis 40 %, 2021, https://studgendeutsch.blogspot.com/2021/07/indogermanen-in-apulien-herkunftsanteil.html 
  7. Bading, I.: 2019, https://studgendeutsch.blogspot.com/2019/08/die-machtigen-volkerburgen_2.html 
  8. Bading, I.: 2019, https://studgendeutsch.blogspot.com/2019/08/die-machtigen-volkerburgen.html
  9. Schiffels, S., Haak, W., Paajanen, P., Llamas, B., Popescu, E., Loe, L., Clarke, R., Lyons, A., Mortimer, R., Sayer, D., Tyler-Smith, C., Cooper, A., & Durbin, R. (2016). Iron Age and Anglo-Saxon genomes from East England reveal British migration history. Nature communications, 7, 10408. https://doi.org/10.1038/ncomms10408
  10. Bading, I.: 2011, https://studgendeutsch.blogspot.com/2011/08/4100-v-ztr-tertiare-neolithisierung-im.html
  11. Bading, I.: Mai 2021, https://studgendeutsch.blogspot.com/2021/05/das-fundament-europas-in-einer.html
  12. Bading, I.: August 2021, https://studgendeutsch.blogspot.com/2021/08/indogermane-sein-heit-revoluzzer-sein.html 
  13. Bading, I.: August 2021, https://studgendeutsch.blogspot.com/2021/08/die-farbemprachtige-bild-der.html
  14. Bading, I.: "Polygenetische Risiko-Faktoren" vor 1.000 Jahren - Die Nachfahren der Wikinger blieben sich genetisch gleich in Skandinavien bist heute, 20. Juli 2019, https://studgendeutsch.blogspot.com/2019/07/polygenetische-risiko-faktoren-vor-1000.html
  15. Mass migration from France to England and Wales took place 3,000 years ago, 22.12.2022, https://www.techregister.co.uk/mass-migration-from-france-to-england-and-wales-took-place-3000-years-ago/
  16. Cavazzuti, C., Arena, A., Cardarelli, A., Fritzl, M., Gavranović, M., Hajdu, T., ... & Szeverényi, V. (2022). The First ‘Urnfields’ in the Plains of the Danube and the Po. Journal of World Prehistory, 1-42, https://link.springer.com/article/10.1007/s10963-022-09164-0

Donnerstag, 16. Dezember 2021

Monogamie und Schamhaftigkeit

Wenn Paare sich freier fühlen, wenn sie unter sich sind

In der ostafrikanischen Savanne lebt der Blaukopfastrild (engl. blue-capped cordon-bleu) (Wiki), eine sozial monogam lebende Vogelart. Wenn die Pärchen für sich sind, singen und tanzen die Partner füreinander (Abb. 1) (1).

Abb. 1: Tanzen und Singen von Blaukopfastrild-Pärchen (aus 1)

Wie schon Konrad Lorenz Anfang der 1970er Jahre vermutete und wie dann Robin Dunbar - ohne das Vorwissen der Lorenz'schen Vermutung - vor gut zehn Jahren eher durch Zufall heraus bekommen hat, sind monogam lebende Arten von Vögeln und Säugetieren intelligenter und haben ein höheres Gehirngewicht im Verhältnis zum Körpergewicht als nicht monogam lebenden Arten (2, 3).

Warum das so ist, ist noch nicht besonders gut verstanden. 

Aber Monogamie hat auch sonst eine immense Bedeutung für die Evolution in der Organismen-Welt überhaupt und auf vielen Komplexitäts-Stufen (4).


Womöglich kann deshalb auch dieser Blaukopfastrild in Ostafrika einige neue Hinweise geben zum Wesen der Monogamie ganz allgemein (1). 

Von paarweise lebenden Vogelarten kann ja eine unglaubliche Faszination ausgehen. Sie können sich gegebenenfalls auch dem Menschen gegenüber zutraulich und außerordentlich angenehm als "Begleiter" verhalten (5). So gibt es eine südwestafrikanische Zierpapageien-Art, die die "Unzertrennlichen" genannt werden (5).

Die Blaukopfastrild-Pärchen zeigen nun ein differenziertes Werbeverhalten untereinander. Nämlich nicht nur Singen, sondern gerne auch begleitet von Trippeln mit den Füßen, also Tanzen (6).

Das aktive Werbeverhalten findet in der Regel eine subtile Antwort beim anderen Partner - wie in der Grafik in Abbildung 1 sehr schön veranschaulicht ist: Der andere Partner zeigt seine Aufmerksamkeit durch Lautäußerung oder durch das Wedeln mit dem Schwanz. 

Abb. 2: Tanzen und Singen von Blaukopfastrild-Pärchen (aus: 1)

Besonders interessant darf man nun aber folgendes Forschungsergebnis erachten: Das genannte Tanz- und Singverhalten der Pärchen untereinander wird am häufigsten ausgeführt, wenn das Pärchen für sich ist (Abb. 2). Wenn ein drittes Tier als Zuhörer dabei ist, findet es viel seltener statt.

Das wäre vielleicht auch ein schöner Anlaß für den israelischen Verhaltensforscher Yitzchak Ben Mocha (Res.gate), seine Frage danach, warum Begattungsverhalten im Tierreich und beim Menschen verborgen oder "öffentlich" stattfindet (7) auf Werbeverhalten insgesamt zu erweitern. Auch hier scheint es ja - zumindest unter monogam lebenden Paaren - eine Neigung zu geben, dabei für sich zu bleiben.

Die Blaukopfastrild-Pärchen fühlen sich also freier und ungezwungener, wenn sie unter sich sind. Sie scheinen als Paar miteinander die meiste Erfüllung zu finden. Sie scheinen sich gegenseitig "genug" zu sein. 

Sie brauchen nicht "mehr" Publikum.

Sie brauchen nicht "mehr" Aufmerksamkeit. 

Ganz im Gegenteil.

_________

  1. Ota, N., & Gahr, M. (2022). Context-sensitive dance–vocal displays affect song patterns and partner responses in a socially monogamous songbird. Ethology, 128, 61- 69. 19.10.2021, https://doi.org/10.1111/eth.13240 
  2. 2008, https://studgendeutsch.blogspot.com/2008/08/ist-die-monogame-bindung-der-kern-aller.html
  3. 2008, https://studgendeutsch.blogspot.com/2008/08/stand-die-monogame-lebensweise-der.html
  4. 2018, https://studgendeutsch.blogspot.com/2018/01/lebenslange-hingabe-einen-einzigen.html
  5. Bading, Ingo: Das Rosenköpfchen. 2018, https://preussenlebt.blogspot.com/2018/09/der-entflogene-zierpapagei.html
  6. Tap dancing songbirds Blue-capped cordon-bleu, 19.11.2015, https://youtu.be/YkumbnYc8Ns.
  7. Why do human and non-human species conceal mating? The cooperation maintenance hypothesis. Proceedings of the Royal Society B, 2020 (Researchgate)

Freitag, 3. Dezember 2021

Planetensysteme - Der "Freak" sind wir und nicht die anderen

Die Rare Earth-Hypothese - Sie erhält neue Argumente

Über 500 Planetensysteme in unserer näheren Sternen-Nachbarschaft sind inzwischen erforscht worden (1, 2) (Abb. 1). Sie weisen eine große Vielfalt auf (2). Aber verglichen mit diesen hunderten von Planetensystemen, so schält sich gegenwärtig in der Forschung heraus, scheint unser Sonnensystem viel weniger regelhaft zu sein, viel weniger "Prototyp" zu sein, als man das bislang so ohne weitere Anhaltspunkte hatte annehmen und erwarten können. Unser Sonnensystem scheint viel mehr ein "Freak" zu sein, eine Ausnahmeerscheinung. Der "New Scientist" fragt dementsprechend (1):

"... instead of being the archetypal solar system, are we actually the freak ..."

Diese Frage zielt natürlich in die Richtung, daß man bislang all die vielen neu entdeckten Planetensysteme für "Freaks" gehalten hatte, da sie - im Vergleich zu unserem Sonnensystem - so ungewöhnlich anmuteten. Da aber all diese "ungewöhnlichen" Planetensysteme viel häufiger zu sein scheinen als unser eigenes, schält sich nun viel mehr umgekehrt die Frage heraus, ob nicht all die anderen die Regel sind und wir "der Freak". Der dazugehörige Artikel ist leider hinter einer Zahlschranke verborgen.

Abb. 1: Der Ausschnitt der Milchstraße, in dem bislang Planetensysteme erforscht werden konnten (Wiki)

Aber die Frage ist eine sehr spannende. Wir fühlen uns bei ihr natürlich sofort an die vielen Argumente rund um die Rare-Earth-Hypothese (Wiki, engl) erinnert. Und deshalb versuchen wir, uns auf Wikipedia dazu die ersten Zusammenhänge zusammen zu suchen. Dort steht zu lesen (Wiki):

"Verglichen mit vielen anderen Planetensystemen stellt das Sonnensystem eine Ausnahme darin dar, daß es in ihm keine Planeten im Innern der Merkur-Umlaufbahn gibt. Unser Sonnensystem besitzt auch keine Super-Erden (...). Ungewöhnlicherweise besitzt es nur kleine Gesteins-Planeten und große Gas-Riesen; in anderen Planetensystemen sind Zwischengrößen typisch - sowohl hinsichtlich von Gesteins- wie Gasplaneten - so daß es keine "Lücken" zwischen ihnen gibt wie das zwischen der Größe der Erde und des Neptuns beobachtet werden kann (...). Außerdem haben diese Super-Erden (in anderen Planetensystemen in der Regel) eine engere Umlaufbahn als Merkur. Das führt zu der Hypothese, daß es in der Anfangsphase der Planetensysteme viele Planeten mit enger Umlaufbahn gibt, und daß die typische Abfolge ihrer Zusammenstöße zu einer Zusammenballung ihrer Masse zu wenigen größeren Planeten führt. Aber im Sonnensystem führten die Zusammenstöße zu ihrer Zerstörung und zu ihrem Hinausschleudern.
Die Umlaufbahnen der Planeten im Sonnensystem sind nahezu kreisrund. Verglichen mit anderen Planetensystemen haben sie eine kleinere Umlauf-Exzentrizität (sie sind weniger elliptisch). Obwohl es Versuche gibt, dies in Teilen mit einem Fehler in der Beobachtungsmethode zu erklären (...), sind die genauen Ursachen hierfür bislang ungeklärt geblieben."
"Compared to many other planetary systems, the Solar System stands out in lacking planets interior to the orbit of Mercury. The known Solar System also lacks super-Earths (Planet Nine could be a super-Earth beyond the known Solar System). Uncommonly, it has only small rocky planets and large gas giants; elsewhere planets of intermediate size are typical - both rocky and gas - so there is no "gap" as seen between the size of Earth and of Neptune (with a radius 3.8 times as large). Also, these super-Earths have closer orbits than Mercury. This led to the hypothesis that all planetary systems start with many close-in planets, and that typically a sequence of their collisions causes consolidation of mass into few larger planets, but in case of the Solar System the collisions caused their destruction and ejection.
The orbits of Solar System planets are nearly circular. Compared to other systems, they have smaller orbital eccentricity. Although there are attempts to explain it partly with a bias in the radial-velocity detection method and partly with long interactions of a quite high number of planets, the exact causes remain undetermined." 

Und dabei wäre natürlich noch zusätzlich noch zu klären wie repräsentativ eigentlich jener kleine Ausschnitt unserer Galaxie ist, den wir bislang auf über 500 Planetensysteme hin haben untersuchen können (Abb. 1). Und zwar dies einmal in Hinsicht auf unsere eigene Galaxie und zum anderen in Hinsicht auf die vielen Milliarden anderen Galaxien in unserem Universum (Wiki).

Auf jeden Fall scheint die Rare-Earth-Hypothese (Wiki, engl) einmal aufs Neue sie bekräftigende Argumente zu bekommen. Zeit, für sie ein neues Label hier auf dem Blog einzuführen und ältere Blogartikel zu diesem Thema dazu mit zu verlinken.

__________

  1. Clark, Stuart: Is our solar system a cosmic oddity? Evidence from exoplanets says yes, 1 December 2021, https://www.newscientist.com/article/mg25233630-600-is-our-solar-system-a-cosmic-oddity-evidence-from-exoplanets-says-yes/
  2. von Rauchhaupt, Ulrich: Die Vielfalt der Planetensysteme. FAZ, 2013, https://www.faz.net/aktuell/wissen/kepler-entdeckungen-die-vielfalt-der-planetensysteme-13834322.html
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