Samstag, 28. August 2021

Das farbenprächtige Bild der Völkergeschichte Böhmens

4.900 bis 2.100 v. Ztr.
- Die Archäogenetik entdeckt viele "funkelnde" Details zur Völkergeschichte Böhmens im 4. und 3. Jahrtausend v. Ztr.

Um so genauer die Archäogenetik die genetischen Herkunftsgruppen von Menschen unterschiedlicher kultureller Zugehörigkeit in einer bestimmten Epoche aufschlüsselt, um so Genaueres erfährt man dann auch über jene - oft recht unterschiedlichen - Herkunftsgruppen, von denen diese abstammen, und auf die die Forschung bislang noch gar nicht ausreichend aufmerksam geworden sein muß.

Abb. 1: Der Widder von Jordansmühl (Wiki), Schlesien, etwa 4.000 v. Ztr., gefunden 1925 - Er ist mit Strichmustern verziert (weitere Abbildungen: hier

So auch in der allerneuesten archäogenetischen Studie (1). Sie nimmt die Geschichte der mittel- und spätneolithischen Kulturen, sowie der frühbronzezeitlichen Indogermanen im Raum der Tschechei, bzw. von Böhmen in den Blick: Zu 65 archäogenetisch schon früher untersuchten Skelettresten kommen mit ihr nun weitere 206 neu untersuchte hinzu. 

Dieser genauere, tiefenschärfere Blick erlaubt nun Schlußfolgerungen auf die sehr unterschiedlichen Herkunftsanteile der sehr unterschiedlichen Völker, die diesen Raum - nacheinander - besiedelt haben. Es treten dabei Herkunftsgruppen in das Licht der Aufmerksamkeit, die zuvor nur wenig Beachtung gefunden hatten. Gehen wir die Ergebnisse im einzelnen durch.

1. Die prächtige Jordansmühler Kultur (4.300 bis 3.900 v. Ztr.)

Zunächst gibt es da hochinteressante Einblicke in eine archäologische Kultur, in die Geschichte eines Volkes, das bislang vermutlich noch viel zu wenig Bekanntheit erlangt hatte. Nach dieser Studie hatte die in Böhmen auf die Bandkeramik folgende Stichbandkeramik (4.900 bis 4.500 v. Ztr.) (Wiki) noch so gut wie keinen Anstieg in ihrer westeuropäischen Jäger-Sammler-Herkunft erfahren, die ansonsten so typisch ist für das Mittelneolithikum Mitteleuropas (und ebenso typisch ist schon für das Frühneolithikum Frankreichs). Auch nach dem Untergang der Bandkeramik blieb also im böhmischen Raum zunächst die bisherige genetische Kontinuität gewahrt. Die Stichbandkeramiker waren der Genetik nach - und damit womöglich auch der Sprache nach (?) - "Bandkeramiker".

Aber auf die Stichbandkeramik folgte ab 4.300 v. Ztr. die Jordansmühler Kultur (4.300 bis 3.900 v. Ztr.) (Wiki). Dies ist eine Kultur, die nach einer Ortschaft in Niederschlesien benannt worden ist. Dort hatte der Leiter des archäologischen Museums Breslau, ein Hans Seger (1864-1943) (Wiki), 1906 Grabungen unternommen. Er war es, der dieser Kultur den Namen gab. Wenn wir die Ergebnisse der neuen Studie zur Kenntnis nehmen (1), können wir nun wohl - plausibler Weise - sagen, daß diese Kultur sich aus der heutigen Slowakei (Mähren) heraus nach Böhmen (Prager Umland), Schlesien und Sachsen (Dresdener Umland) ausgebreitet haben wird und dabei die Menschen der Stichbandkeramik mehr oder weniger genetisch "ersetzt" hat.

Dies kann womöglich aus ihrer sehr spezifischen Jäger-Sammler-Herkunftskomponente (1, Figure 3B) abgelesen werden. Denn (erst!) mit ihr wuchs die Herkunftskomponente der westeuropäischen Jäger-Sammler innerhalb der mittelneolithischen Kulturen Böhmens von 8 auf knapp 20 Prozent an. Der Anstieg erfolgte klar und eindeutig am Übergang von der Stichbandkeramischen zur Jordansmühler Kultur (1, Figure 3A). Aus genetischer Sicht erfolgte also der Untergang der Bandkeramik in Böhmen nicht um 4.900 v. Ztr. - wie in vielen anderen Teilen Europas - sondern erst um 4.300 v. Ztr.. Das sind immerhin sechshundert Jahre später. Vielleicht wird man künftig sagen können: In Böhmen lebten die letzten Bandkeramiker.

Danach aber - und während des ganzen 4. Jahrtausends - blieb diese westeuropäische Jäger-Sammler-Herkunftskomponente im böhmischen Raum (wie wohl auch sonst in Europa) in etwa in gleicher Größe erhalten, bzw. sie stieg nur noch leicht auf 23 Prozent an. Und das, obwohl es einen vergleichsweise reichen Wechsel von Völkern und Kulturen gab.*) 

Wie ging das zu? Zunächst: Das Volk der Jordansmühler Kultur macht durch eindrucksvolle kulturelle Hinterlassenschaften auf sich aufmerksam. Es hat - zumindest zum Teil - Höhensiedlungen bewohnt. Vielleicht als Nachklang des Lebensraumes jener Jäger und Sammler, von denen diese Kultur abstammte. Sie mögen während der Ausbreitung der anatolisch-neolithischen Bauernkultur in die Höhenlagen der Mittelgebirge abgedrängt worden sein.

Die Menschen dieser Kultur schufen sich formschöne Keramik (Wiki). Vor allem aber entstammt ihrer Kultur jene prächtige, stolze, urwüchsige Widder-Figur, die 1925 bei Jordansmühl in Niederschlesien gefunden worden ist, und die seither das Wappen der Stadt schmückt (Abb. 1). (In der Studie wird diese Kultur übrigens polnisch "Jordanów-Kultur" genannt.)

(Nachtrag, 20.4.23: Vergleichbare, "fest in die Erde gewurzelte" Stier-Figuren gibt es auch aus der zeitgleichen Cucuteni-Kultur im Osten der Karpaten. Gegenseitige kulturelle Einflüsse zwischen beiden Kulturen - bzw. parallele, ähnliche Kulturentwicklung aus der Bandkeramik heraus in beiden Kulturen - wird man für naheliegend erachten können.)

Abb. 2: Jordansmühler Kultur, Landkreis Görlitz (aus 5, S. 166)

Dieses Volk scheint sich also (wie wäre es anders zur erklären?) im nördlichen Karpatenraum gebildet zu haben und sich von dort aus in der Spätphase der östereichisch-ungarischen Lengyel-Kultur (Wiki) - und zeitgleich mit der Michelsberger Kultur - die aus dem Pariser Becken heraus Verbreitung fand - bis nach Niederschlesien ausgebreitet zu haben. So viel also an dieser Stelle zu dieser Kultur, die sich in dem von ihr geschaffenen Widder als so außerordentlich bodenständig, tapfer und wehrhaft präsentiert.

2. Ein Fischer-Volk von der Oberen Theiß - Mit europäisch-einheimischer Genetik

Interessanterweise weist nun die Jordansmühler Kultur in ihrem Jäger-Sammler-Herkunftsanteil einen hohen Anteil (bislang in dieser Region von der Wissenschaft noch gar nicht entdeckter) Jäger-Sammler-Herkunft von der Oberen Theiß auf ("Körös HG") (1, Figure 3B). Diese ist zwar benannt nach der bäuerlichen "Körös-Kultur", aus der ein einzelner Jäger und Sammler bislang gefunden und sequenziert worden ist. Dieser ist aber an der Oberen Theiß, grob zwischen Bükk-Gebirge und Puszta gefunden worden (Stgen2022). An der oberen Theiß scheint es also vor Ankunft der anatolisch-neolithischen Bauern noch eine genetisch eigene europäische Jäger-Sammler-Herkunfts-Gruppe gegeben zu haben. Ihre Genetik war nun (1, Figure 3B) ...

  • bei Band- und Stichbandkeramik noch gar nicht vertreten (!), 
  • in der Jordansmühler Kultur sehr ausgeprägt vertreten,
  • in der auf die Jordansmühler Kultur folgenden Trichterbecher-Kultur viel geringer vorhanden, 
  • in der auf diese folgenden Badener Kultur gar nicht vorhanden,
  • in der auf diese folgenden Řivnáč-Kultur wieder viel größer (!!)
  • und in der auf diese folgenden Kugelamphoren-Kultur wieder deutlich geringer vorhanden.

Was für eine außerordentlich faszinierende Abfolge von Kulturen. Hier wird mit einem Schlage deutlich, daß alle diese Kulturen sich auch genetisch - mal mehr, mal weniger - voneinander unterschieden, und zwar erkennbar an genau dieser Herkunftskomponente, die einmal in größerem, einmal in geringerem Umfang vorhanden war, und die in einer Kultur gar nicht vorhanden ist.

Bei den hier genannten Jägern und Sammlern von der Oberen Theiß, bzw. aus den Karpaten dürfte es sich also um eine Gruppe einheimischer europäischer Jäger-Sammler handeln, die an der Ethnogenese der Bandkeramik im Wiener Becken gar nicht teilgenommen hatte. Und das, obwohl sie in unmittelbarer Umgebung jener ersten bäuerlichen Starvcevo-Körös-Kultur gelebt hat, aus der heraus die Bandkeramik erst entstanden ist.

Abb. 3: Grafische Zusammenfassung der Ergebnisse der hier ausgewerteten Studie durch Carlos Quiles (aus: 2) - Die jeweiligen Verbreitungsräume der behandelten Kulturen ergänzen unseren eigenen Text sehr anschaulich

In der Auswertung derselben Studie durch den spanischen Archäogenetik-Blogger Carlos Quiles finde ich, daß diese "Körös-Hunter-Gatherer"-Herkunftsgruppe von der Oberen Theiß als osteuropäische Jäger-Sammler identifiziert werden (2) (s. Abb. 3). Wenn diese Angabe richtig ist, würde sich das Bild natürlich insgesamt ein wenig vereinfachen.

Die Genetik dieser (osteuropäischen) Jäger-Sammler von der Oberen Theiß ("Körös") findet also nun in der Jordansmühler Kultur - "noch einmal"? - in Europa - "erneute" (?) - Verbreitung. Und dieser Befund macht damit die Welt (also, zumindest die Wissenschaft) auf diese Herkunftsgruppe aufmerksam.

Die Jäger-Sammler-Einmischung in die Jordansmühler Kultur wird von den Forschern auf 4.600 bis 4.300 v. Ztr. datiert**). Das heißt, die Entstehung des Volkes der Jordansmühler Kultur wird auf einhundert oder zweihundert Jahre früher datiert als es sich dann kulturell manifestierte. Das war zur Zeit der Lengyel-Kultur im österreichisch-ungarischen Raum. Erst zu dieser Zeit wird es zur Vermischung von einheimischen "Körös-Jägern und Sammlern" mit Nachkommen der anatolisch-neolithischen Starcevo-Körös-Kultur gekommen sein. Plausibler Weise wird diese Vermischung im südmährischen-nordungarischen Raum stattgefunden haben, auf jeden Fall in der Nähe zum schon genannten Fluß Körös in der ungarischen Tiefebene.

Wer wohl diese Körös-Jäger-Sammler waren, die dort östlich der Theiß gelebt hatten, sich so getrennt gehalten hatten von den umlebenden Bauernvölkern, und die nun Anteil nahmen an der Ausgestaltung der Jordansmühler Kultur? Auf diese Frage werden wir wohl noch einmal in anderem Zusammenhang zurück kommen müssen. Denn an dieser Stelle müssen wir uns mit den weiteren Neuerkenntnissen beschäftigen, mit denen wir von Seiten der hier ausgewerteten Studie (1) geradezu "geflutet" werden.

3. Die Trichterbecher-Kultur (4.100 v. Ztr.)

Ab 4.100 v. Ztr. tritt die Trichterbecher-Kultur in Böhmen auf. Ihre ältesten Funde stammen unter anderem aus Ostholstein und datieren 4.300 v. Ztr. (Fundort Wangels). Und nun ist ein weiterer Umstand hoch interessant. Die Jäger-Sammler-Einmischung in die Trichterbecher-Kultur wird von den Forschern der Studie auf eine Zeit datiert, in der es die Trichterbecher-Kultur noch gar nicht gab. Die Trichterbecher-Kultur entstand wie gesagt um 4.300 v. Ztr. grob irgendwo in der Norddeutschen Tiefebene. Die Einmischung wird aber datiert auf grob 4.900 bis 4.800 v. Ztr.**). Damit wäre aufgezeigt, daß das Volk der Trichterbecher-Kultur genetisch schon deutlich früher entstand als es kulturell - zuerst im westlichen Ostseeraum - in Erscheinung trat. Daraus kann geschlußfolgert werden, daß die Menschen der Trichterbecher-Kultur aus Menschen einer bäuerlichen Vorgänger-Kultur hervor gegangen sein müssen. Viele Archäologen vermuten ja, daß die Trichterbecher-Kultur aus Populationen der (aus Frankreich kommenden) Michelsberger Kultur heraus entstanden sein könnten, da es in der materiellen Kultur manche Ähnlichkeiten gibt.

Da wird man jetzt - wie hinsichtlich der Herkunft der Jordansmühler Kultur - genauer hinschauen können, wann und wo genau diese spezifische Genetik sich heraus gebildet hat. Die Forscher sind sich jedenfalls sicher, daß die Genetik der Trichterbecher-Leute in Böhmen selbst nicht einheimisch war, sondern von außen dort hinein gekommen ist ab 4.100 v. Ztr.. 

4. Waren kulturelle Randbereiche im Mittelneolithikum die Entstehungsorte neuer Völker?

Von der darauf folgenden Řivnáč-Kultur (2.900 bis 2.700 v. Ztr.) (Wiki) Böhmens könnte man nun denken, daß es sich bei ihr genetisch einfach um eine späte Nachfolge-Kultur der Jordansmühler Kultur gehandelt hat. Die Forscher sagen aber, daß ihr Jäger-Sammler-Anteil sich bei ihnen ebenso spät eingemischt hat wie bei der Kugelamphoren-Kultur, nämlich erst ab 3.000 v. Ztr.. Das hinwiederum würde bedeuten, daß die Körös-Fischer sich bis zu diesem Zeitpunkt in genetischer Kontinuität unvermischt erhalten hätten und sich erneut ab 3.000 v. Ztr. mit Bauern anatolisch-neolithischer Herkunft vermischt hätten. Ähnliches wäre für die Kugelamphoren-Kultur anzunehmen, wobei hier auch noch mehr westeuropäische Jäger-Sammler-Herkunft hinzu gekommen ist.

Entstanden denn, so fragt man sich an dieser Stelle, neue Kulturen im Mittelneolithikum Europas quasi immer aus jeweils erneuter Vermischung von Bauern anatolisch-neolithischer Herkunft mit Fischer-, Jäger-Sammler-Populationen einheimischer Herkunft? Sind die Begegnungs- und Vermischungsregionen die Geburtsstätten neuer Völker zu dieser Zeit in Europa? Fast scheint sich allmählich diesbezüglich eine Regelmäßigkeit herauszuschälen und aufzudrängen. 

Womöglich kann das Siedeln der Řivnáč-Kultur in Höhensiedlungen wiederum darauf zurück geführt werden, daß auch die einheimischen Körös-Jäger-Sammler-Völker, von denen diese Kultur abstammt, sich vor allem in Höhenlagen der Mittelgebirge in Rückzugsräumen hatte halten können. Diese Kultur präsentiert sich ebenfalls mit ausgeklügelter - womöglich ein wenig exzentrisch anmutender - Keramik (Wiki). Über sie ist zu erfahren (Wiki) (laut Google Übersetzer):

Sie trat hauptsächlich in Mittelböhmen, aber auch in Nordwestböhmen und vereinzelt auch in Ostböhmen auf. In West- und Südböhmen gab es eine mit Řivnáč zeitgenössische Cham-Kultur. (...) Sie wurde erstmals 1925 von Jan Axamit entdeckt, fand aber erst in den 1940er Jahren größere Anerkennung. Wir verfügen über einen relativ großen Bestand an archäologischem Material aus der Řivnáč-Kultur. Das ist vor allem auf die gute Erforschung der Höhensiedlungen dieser Kultur zurückzuführen. Die Keramik folgte mehr oder weniger der vorherigen Badischen Kultur. Wir finden Tontrommeln und verschiedene anthropomorphe Gefäße mit wahrscheinlich rituellem Charakter. Anthropomorphe Götzen, von denen einige Hörner haben, dienen dem gleichen Zweck wie einige Gefäße.
Am Ende des Bestehens der Řivnáč-Kultur begannen in den Siedlungen, die aus den nördlichen Regionen nach Böhmen kamen, repräsentative Keramikstücke aus der Kultur der Kugelamphoren zu erscheinen, die vom Kontakt zwischen den beiden Kulturen zeugen.
Sowohl Höhen- als auch Flachlandsiedlungen sind bekannt. Die vorherrschenden Siedlungen sind jedoch Höhensiedlungen, von denen wir heute etwa 50-60 kennen (die Existenz von Flachlandsiedlungen war lange nicht bekannt).

Was für ein faszinierendes Geschehen.

5. Parallel-Gesellschaften in Böhmen 2.900 v. Ztr.

Die Forscher vermuten, daß Böhmen zur Zeit der Ankunft der Schnurkeramiker zeitgleich besiedelt wurde einerseits von Gruppen der Kugelamphoren-Kultur und anderseits von Menschen der Řivnáč-Kultur (1). Beide Gruppen unterschieden sich nicht nur kulturell, sondern auch genetisch voneinander. Als Ausnahme fand sich ein sequenziertes Individuum bestattet im Kontext von Řivnáč-Kultur, trug aber in sich die Genetik der Kugelamphoren-Kultur.

Möchte man eigentlich von noch stärkeren Belegen für die grundlegende These dieses Blogs hören, daß Völker die Geschichte machen, daß die Humanevolution - zumindest in den letzten zehntausend Jahren - in Völkern stattgefunden hat?

Beide Völker wiesen ansonsten, obwohl sie zur gleichen Zeit lebten wie die ersten Schnurkeramiker - oder sogar noch weiter fortbestanden nach Ankunft der Schnurkeramiker - keinerlei genetische Überschneidung untereinander oder mit den Schnurkeramikern auf. Hier wird noch einmal in deutlich, daß es im 3. Jahrtausend in Europa viele Jahrhunderte lang koexistierende Parallel-Gesellschaften gegeben hat. In der Schweiz, im Weichselraum, im Ostseeraum - das Bild ähnelt sich in all diesen Regionen.

6. Stammen die Schnurkeramiker von der Ostgrenze Polens (2.900 v. Ztr.)?

Um 2.900 v. Ztr. waren die Schnurkeramiker in Böhmen dann weit verbreitet. In dieser Studie wird aufgrund statistischer Ähnlichkeitsvergleiche vermutet, daß die Schnurkeramiker - im Unterschied zu den Menschen der Jamnaja-Kultur in der Ukraine - zu 5 bis 15 Prozent mittelneolithisch-lettische, neolithisch-ukrainische und/oder Grübchenkammkeramische Genetik von der Ostsee in sich trugen. Die Grübchenkammkeramische Kultur war die letzte archäologisch feststellbare Kultur der Völkergruppe der westeuropäischen Jäger und Sammler im Ostseeraum. In den beiden anderen genannten Herkunftsgruppen dürfte sich in unterschiedlichen Anteilen anatolisch-neolithische Genetik mit der Genetik osteuropäischer Jäger und Sammler verbunden haben. Diese womöglich sehr vielfältige Herkunft scheint überwiegend über Frauen in das Volk der Schnurkeramiker gelangt zu sein (1). Und womöglich ist das irgendwo am Ostrand des heutigen Polen geschehen, dort, wo die genannten Herkunftsgruppen aufeinander trafen.

7. Unterschiedliche Kinderzahlen - Aufgrund stabiler sozialer Ungleichheiten?

Hören wir weiter (1):

Sowohl die Schnurkeramiker wie die Glockenbecher-Leute durchliefen Veränderungen, die mit einschlossen zwischen 2600 und 2400 v. Ztr. einschneidende Rückgänge und vollständigen Austausch in der Vielfalt ihrer Y-Chromosomen.
Both Corded Ware and Bell Beaker groups underwent dynamic changes, involving sharp reductions and complete replacements of Y-chromosomal diversity at ~2600 and ~2400 BCE.

Dies kann bezüglich der Schnurkeramiker erklärt werden, so die Studie (1), mit der Annahme, daß die Männer der "überdauernden" Y-chromosomalen Linien über 500 Jahre hinweg 15 % mehr männliche Nachkommen pro Generation hatten als die Männer der "nicht überdauernden". Das ist ja eigentlich gar nicht so ein hoher Anteil. Bemerkenswert dürfte eher sein, daß das ja über 500 Jahre hinweg so konstant geblieben sein muß, daß wir es also hier vor allem mit großer Kontinuität zu tun haben.

Womöglich spiegeln sich in diesen Befunden, so möchten wir meinen, starke Wohlstands-Unterschiede wieder innerhalb des Volkes der Schnurkeramiker. Die also demzufolge auch über viele Jahrhunderte konstant geblieben sein könnten. Denn wer mehr Besitz hat, dem fällt es in der Regel leichter, mehr Kinder aufzuziehen, dem fällt es womöglich leichter, neben der Hauptfrau noch mit Nebenfrauen Kinder zu haben. Die reichsten Bauern haben sowieso in traditionellen Agrar-Gesellschaften - noch in der Frühen Neuzeit - die meisten Kinder. Das ist in vielen Studien zur Historischen Demographie der Frühen Neuzeit aufgezeigt worden, auch in den Krumhörn-Studien von Eckart Voland. Womöglich reichen schon die dort festgestellten Unterschiede in den Nachkommenzahlen, um den genannten Befund zu erklären. Vielleicht hat man allerdings in der Schnurkeramik-Zeit noch mehr wert gelegt auf Vererbung des Besitzes in der männlichen Linie als das in späteren Zeiten der Fall gewesen ist.

Dasselbe Phänomen ist 2015 auch schon für europäische neolithische Populationen beschrieben worden - wie es in der Studie heißt. Und das könnte ja dann ebenfalls ein Hinweis auf soziale Ungleichheit in den komplexen neolithischen Gesellschaften Europas sein.

8. Kriege der indogermanischer Stämme untereinander?

Ergänzung 20.10.21: Vielleicht ist die Erklärung aber auch einfacher. Wir lesen in Fritz Gschnitzers lesenswerter "Griechische Sozialgeschichte" (1981, neu aufgelegt 2013), die sich in Lehrbuchsammlungen deutscher Universitäten (zum Beispiel in Bamberg) findet (4, S. 46):

Da sich aber weder in homerischer Zeit noch später in der griechischen Geschichte die Sklaven selbst in genügender Zahl fortpflanzten (wir kommen darauf gleich zurück), konnte die Sklaverei als Institution nur bestehen bleiben, wenn immer wieder freie Menschen in großer Zahl in den Sklavenstand überführt wurden. (...) Der wichtigste Ursprung der Sklaverei liegt schon in homerischer Zeit, wie in allen späteren Abschnitten der griechischen Geschichte, in der Kriegsgefangenschaft. Die Sklaven sind zum Großteil ehemals Freie, die im Krieg - in der Schlacht, bei der Eroberung einer Stadt oder auch bei der Plünderung eines Landes - in Feindeshand gefallen sind. (...) Wenn es zur Eroberung ganzer Städte kommt, dann fallen alle zugleich und mit ihnen ihre ganze Habe in die Hände der Sieger. (...) Die Männer werden jetzt meist erschlagen, Frauen und Kinder nimmt man, wie das Vieh und die bewegliche Habe, als Beute mit nach Hause mit. (Die Männer konnte man nicht so leicht auf die Dauer festhalten, auch müßte man ihre Rache fürchten.)

Wenn also in einer solchen Weise schon Schnurkeramiker- und Glockenbecher-Stämme untereinander Krieg geführt haben sollten, wäre der Rückgang der Vielfalt bei ihren eigenen Y-Chromosomen noch leichter zu erklären. Es müßte dann nicht eine kontinuierliche soziale Ungleichheit über viele Jahrhunderte hinweg angenommen werden (die - nebenbei - zusätzlich auch eine Rolle gespielt haben kann). 

Gschnitzer führt noch aus, daß nicht in allen Fällen auch die Männer der unterworfenen Stämme erschlagen wurden, sondern daß es auch Fälle gab, in denen die gesamte Einwohnerschaft verklavt wurde (4, S. 49):

Anders als die vorhin beschriebenen Beute- und Kaufsklaven behielten sie ihre Familien und damit auch die Möglichkeit, sich in normalem Umfang fortzupflanzen (...), etwa in Sparta (Heloten), Kreta (Perioiken) und Thessalien (Penesten). (...) Ähnlich ist man dann später in einzelnen überseeischen Kolonien verfahren.

(Ergänzungs-Ende)

Die ersten schnurkeramischen Frauen, die keine schnurkeramische Genetik aufwiesen, stammten vermutlich aus der Kugelamphoren-Kultur, so die Forscher. Sie beziehen sich dabei auf die untersuchten Genome von vier Frauen. Da diese Frauen einen höheren Jäger-Sammler-Herkunftsanteil aufwiesen als Kugelamphoren-Leute in Böhmen, ist es wahrscheinlicher, daß sie aus anderen Bereichen der Kugelamphoren-Kultur stammten als aus Böhmen, etwa aus dem heutigen Polen.

An Skeletten, die in Vliněves bei Melnik an der Elbe, 40 Kilometer nördlich von Prag gefunden wurden, wird aufgezeigt, daß die frühesten, bislang gefundenen Schnurkeramiker in Böhmen an diesem Ort eine viel höhere genetische Vielfalt aufgewiesen haben als alle nachfolgenden Populationen in Europa und auch als die heutigen Europäer (1). An diesem Ort gab es einerseits Menschen, die genetisch fast nur anatolisch-neolithische Herkunft in sich trugen und Menschen, die fast nur davon abweichende Genetik hatten (also west-, bzw. osteuropäische Jäger-Sammler- und/oder Steppen-Genetik) (1) (Fig. 5).

9. Kamen die Glockenbecher-Leute Böhmens vom Rhein (2.500 v. Ztr.)?

Die Glockenbecher-Leute treten ab 2.500 v. Ztr. in Böhmen auf. An ihren Y-Chromosomen stellen die Forscher fest, daß sie und jene Y-Chromosomen der (späteren) Glockenbecherleute in England von gemeinsamen Vorfahren abstammen können. Sie meinen, diese könnten - zum Beispiel - in der Nähe des Rheins gelebt haben, von wo aus sie sich nach Osten und Norden ausgebreitet haben könnten (1).

10. Die Aunjetizter Kultur bringt neue Genetik - Aus dem Ostseeraum (2.200 v. Ztr.)?

Für die frühe Aunjetitzer Kultur (2.300 bis 1.600 v. Ztr.) (Wiki) vermuten die Forscher den zusätzlichen genetischen Beitrag von Glockenbecher-Populationen aus der späten Glockenbecher-Zeit (2.400 bis 2.200 v. Ztr.), die noch nicht sequenziert worden sind, um eine auftretende Verschiebung des genetischen Spektrums Richtung osteuropäischer und westsibirischer Jäger-Sammler-Genetik zu erklären (1). 

Eine solche genetische Umwälzung zeigt sich an dem Wechsel der Y-chromosomalen Linien noch deutlicher: 80 % der Y-chromosomalen Linien in der frühen Aunjetitzer Kultur sind neu, gehören aber zum Y-chromosomalen Glockenbecher-Spektrum.

All das würde nahelegen, daß es mit Aufkommen der Aunjetitzer Kultur noch einmal einen erneuten genetischen Umbruch in Böhmen gegeben hat, daß also eine Glockenbecher-Untergruppe unter dem Dach der Aunjetizer Kultur andere Glockenbecher-Untergruppen kriegerisch und/oder demographisch "verdrängt" hat. Der genetische Umbruch könnte 50 % der Genetik insgesamt betroffen haben, so die Forscher (1). Die Forscher sehen Hinweise darauf, daß die Indogermanen der Aunjetitzer Kultur aus dem Ostseeraum stammen (1). Wenn man sich Verbreitungskarten dieser Kultur ansieht (Wiki), könnte sie diesbezüglich am ehesten aus Pommern stammen.

Nach Zuwanderung der Aunjetitzer Kultur habe sich die Y-chromosomale Vielfalt hinwiederum nicht mehr verringert. War die soziale Ungleichheit in der Aunjetitzer Kultur geringer als zuvor? Das hinwiederum hatte die Lechtal-Studie zur Bronzezeit nicht nahegelegt. Hier werden noch mancherlei nicht abschließend zu klärende Fragen deutlich.

11. Genetischer Ursprung von Schnurkeramikern und Glockenbecher-Leuten ungeklärt

Die Forscher schreiben in der Zusammenfassung, daß es zwischen Schnurkeramik- und Glockenbecher-Kultur einerseits und der ukrainischen Jamanja-Kultur andererseits zwar viel genetische Ähnlichkeit gibt, allerdings keinerlei männliche genetische Kontinuität zwischen allen drei Gruppen (1):

... Es sind keine Gemeinsamkeiten in den Y-chromosomalen Linien gefunden worden zwischen den vornehmlich R1a-tragenden Schnurkeramik- und den vornehmlich R1b-Z2103-tragenden Jamnaja-Männern. .... Die Glockenbecherleute tragen vornehmlich R1b-P312, eine Y-chromosomale Linie, die bislang weder bei den Schnurkeramik-Männern noch bei den Jamanja-Männern gefunden wurde. .... (So der Befund) trotz des (schon lange in der Wissenschaft) vorgeschlagenen patrilokalen/patriarchalischen sozialen Verwandtschaftssystems dieser drei Gesellschaften.
Although it has been proposed that CW formed from a male-biased westward migration of genetically Yamnaya-like people (23, 41–44), no overlap in Y-chromosomal lineages (with the exception of a few nondiagnostic I2) has been found between the predominantly R1a-carrying CW and mainly R1b-Z2103–carrying Yamnaya males. Steppe ancestry is also present in BB individuals (5); however, they predominantly carry R1b-P312, a Y-lineage not yet found among CW or Yamnaya males. Therefore, despite their sharing of steppe ancestry (3, 4) and substantial chronological overlap (45), it is currently not possible to directly link Yamnaya, CW, and BB groups as paternal genealogical sources for one another, particularly noteworthy in light of steppe ancestry’s suggested male-driven spread (23, 41–43) and the proposed patrilocal/patriarchal social kinship systems of these three societies (46–48).

Die Schlußfolgerung kann nur lauten, daß die Schnurkeramik- und Glockenbecher-Leute von (womöglich kleinen) indogermanischen Gruppen abstammen, die bislang noch nicht hatten sequenziert werden können. 

Zusammenfassende und abschließende Bemerkungen der Forscher

Die Forscher schreiben außerdem zu zusammenfassenden Aspekten ihrer Studie (1):

Frühere Studien sind größtenteils interpretiert worden dahingehend, daß sie große Migrationen am Beginn und am Ende des Neolithikums aufzeigen würden (Zeiten, in denen hereinkommende Gruppen genetisch sehr unterschiedlich waren); unsere Ergebnisse zeigen jedoch weitere umfangreiche genetische Umbrüche auf. ... Wir zeigen, daß die Ausbreitung der Trichterbecher- und der Kugelamphoren-Kultur ebenso wie die Ursprünge der Aunjetitzer Kultur umfangreiche genetische Umbrüche in kurzen Zeitabschnitten mit sich brachten, die wahrscheinlich durch Ausbreitungsbewegungen erklärt werden können.
Previous studies have largely been interpreted as revealing major migrations at the beginning and end of the Neolithic (i.e., periods where the incoming groups were genetically very distinct); however, our results reveal additional large genetic turnovers. By sampling consecutive and partially contemporaneous cultural groups, we show that the spread of Funnelbeaker and GAC (69, 70), as well as the origin of Únětice, involved large genetic shifts over short time periods, likely explained by migrations.

In diesem Zitat sind mehrere in der Studie festgestellte genetische Umbrüche auch noch unberücksichtigt gelassen! Etwa der Umbruch von der Stichbandkeramik zur Jordansmühler Kultur, der Umbruch zur Badener Kultur (den wir hier auch noch nicht behandelt haben), sowie der Umbruch zur Řivnáč-Kultur. Das sei noch festgehalten. Es ist hier ein so unglaublich vielfältiges Geschehen festgestellt, wie es bislang wohl nur die wenigsten Forscher gewagt hätten anzunehmen. Praktisch jede archäologische Kultur vor der Bronzezeit geht auch mit jeweils neuer einzigartiger Genetik einher. Jede. Die Forscher schreiben außerdem (1):

... Die Schnurkeramiker waren genetisch außergewöhnlich vielfältig, einige ähnelten (genetisch) der Kugelamphorenkultur und der Jamnaja-Kultur, einige wenige fallen außerhalb der bislang erforschten zentraleuropäischen neolithischen genetischen Vielfalt.  ... Dies ist das Ergebnis einer Ansammlung von Menschen mit unterschiedlichem kulturellen und sprachlichen Hintergrund in einer archäologisch ähnlichen aber polyethnischen oder pluralen Gesellschaft. ... Das Ausmaß an genetischer Unterschiedlichkeit zwischen frühen Schnurkeramik-Individuen mit hoher Steppen-Herkunft und ohne eine solche legt lange biologische Isolation und damit unterschiedliche Herkunftsgeschichten nahe. Die Anwesenheit von Kugelamphoren- und Jamnaja-ähnlichen genetischen Profilen bei den frühen Schnurkeramikern legt die Integration von Menschen nahe, die aus unterschiedlichen Gesellschaften kamen .... Es ist wahrscheinlich, daß Kugelamphoren-Kultur und Schnurkeramik/Jamnaja-Individuen unterschiedliche Sprachen gesprochen haben ....
We show that early CW were genetically exceptionally diverse, some resembling GAC and Yamnaya, with a few also falling outside of previously sampled central European Neolithic genetic diversity. Such a notably diverse signal is likely the result of the agglomeration of people from diverse cultural and linguistic backgrounds into an archaeologically similar but polyethnic or plural society. Important factors in ethnic identity include ancestry, history, ideology, and language (71, 72). The level of genetic differentiation (i.e., time since common ancestor) between early CW individuals with high and no steppe ancestry implies long biological isolation and hence different histories. The finding of GAC-like and Yamnaya-like genetic profiles in early CW suggests integration of people who came from ideologically diverse societies (i.e., neither GAC nor Yamnaya practiced strong gender differentiation in mortuary practices, unlike CW). It is likely that GAC and CW/Yamnaya individuals spoke different languages (3, 4, 43), meaning that early CW society in Bohemia encompassed people who had demonstrably different histories, likely originating from ideologically diverse cultures, who spoke different mother tongues.

Tatsächlich ist noch ganz ungeklärt, wo hier in Böhmen zu einem solchen Zeitpunkt noch Menschen fast rein anatolisch-neolithischer Herkunft herkommen. Sie können nicht von den Bandkeramikern abstammen, denn diese hatten ja schon 8 % einheimische westeuropäische Jäger-Sammler-Genetik. Stammen sie von Menschen der Starcevo-Körös-Kultur ab, die sich bis zu diesem späten Zeitpunkt noch nicht mit einheimischen Jäger-Sammlern vermischt haben? Fragen über Fragen. Zum von uns schon oben genannten Fundort Vliněves heißt es im Zusammenhang damit (1):

Wir können archäologisch (also kulturell) keine Unterschiede erkennen zwischen Schnurkeramik-Gräbern mit Individuen, die Steppen-Herkunft in sich tragen und solchen, die keine solche Herkunft in sich tragen, und zwar an zwei Fundorten (Vliněves and Stadice).
We observe no archaeological differences between CW graves of individuals with and without steppe ancestry from two sites (Vliněves and Stadice).

Soweit die wichtigsten Ergebnisse, die wir in einem ersten gründlicheren Zugriff dieser Studie zu entnehmen in der Lage sind.

So wurden wir Europäer, was wir heute sind

Wenn wir im Titel von der "farbenprächtigen Völkergeschichte Böhmens" sprechen, wollen wir damit keinesfalls infrage stellen, daß diesselbe auch mit viel Gewalt, Not, Mord, Totschlag, Versklavung ganzer Völkerschaften, sowie gerne auch mit Menschenopfern einher gegangen sein kann. (Eindrucksvolle Hinweise auf solche Möglichkeiten finden sich ja schon in dem Buch von Harald Meller über das Mittelneolithikum von Sachsen-Anhalt [3].)

Völkergeschichte hat wohl zwangsläufig viel zu häufig beide Seiten aufzuweisen: die friedvolle Seite prächtiger Kultur und die abgründige  Seite, wo der Mensch dem Menschen als "Wolf" gegenüber steht. Wir müssen keine dieser beiden Seiten kleinreden, wenn wir in einem ersten Zugriff die Aufeinanderfolge so vieler, tatsächlich "farbenprächtiger", jeweils eigenartiger, charakteristischer, unterschiedlicher Kulturen mit ihren jeweiligen ganz eigenen Herkunftsgeschichten als ein außerordentlich faszinierendes Geschehen wahrnehmen.

Wir erinnern uns jederzeit daran, daß "Sein" nicht zwangsläufig "Sollen" bedeutet. Damit ist gesagt: Nur weil wir sehen, daß Völkergeschichte - zeitweise - mit viel genetischem Umbruch einhergegangen ist, muß das nicht heißen, daß sie "notwendigerweise" und "immer" mit genetischem Umbruch einhergehen "muß" oder gar "sollte". Jedes der hier genannten Völker wird sich mehr oder weniger standhaft, tapfer und wehrhaft dagegen aufgelehnt haben, genetisch und kulturell "ersetzt" zu werden - so oder so. Der Jordansmühler Widder mag als ein eindrucksvolles Symbol und Merkzeichen, als ein Ausdruck eines solchen kraftvollen Willens, einer solchen Lebendigkeit gelten.

Insgesamt: So wurden wir Europäer, was wir heute sind: Durch ein farbenprächtiges Kommen und Gehen von Menschengruppen (Völkern) oft recht unterschiedlicher, zumeist jedoch sehr charakteristischer kultureller und genetischer Herkunft hindurch. 

Und um nun doch eine behutsame Annäherung vom Sein zum Sollen hinüber zu wagen: Sollte es womöglich doch richtig sein, auf dieses Geschehen mit den Augen von Johann Gottfried Herder zu blicken, der - aus Ostpreußen stammend und zeitweise in Riga lehrend - in Begeisterung für die Sagenwelt, das Volksliedgut und die vielfältigen Kulturen und Sprachen der baltischen und slawischen Völker sein berühmtes Wort prägte: "Völker sind Gedanken Gottes"? Ein Gedanke Gottes sollte dann als unantastbar gelten, Völkermord wäre zu ächten. 

So wie heute der Rechts- und Verfassungstheorie nach die Bewertungen ja auch tatsächlich getroffen werden.

/ Ergänzt um Angaben 
entsprechend (2):1.9.2021,
entsprechend (4): 20.10.2021,
entsprechend (5): 4.7.2022,
präzisiert anhand von (Stgen2022): 6.7.2022 /

___________

') "We found this HG ancestry increase to be best modeled as a two-stage linear process (Fig. 3A, table S8, and the Supplementary Materials), with an increase in HG ancestry during the fifth millennium BCE, followed by stasis (nonsignificant slope) thereafter."
**) "The estimated date of WHG introgression for Funnelbeaker is significantly earlier (5079 to 4748 BCE) than for Jordanów (4636 to 4310 BCE) (Fig. 3B and table S11), consistent with Bohemian Funnelbeaker individuals being derived from a different population (whose HG ancestry was incorporated further back in time), which superseded the Jordanów population in Bohemia."
__________
  1. Dynamic changes in genomic and social structures in third millennium BCE central Europe  By Luka Papac, Michal Ernée, (...) Volker Heyd, Johannes Krause, Ron Pinhasi, David Reich, Stephan Schiffels, Wolfgang Haak  Science Advances, 25 Aug 2021, eabi6941, https://advances.sciencemag.org/content/7/35/eabi6941
  2. Quiles, Carlos: R1b-rich earliest Corded Ware, a Yamnaya-related vector of Indo-European languages, 27.8.2021, https://indo-european.eu/2021/08/r1b-rich-earliest-corded-ware-a-yamnaya-related-vector-of-indo-european-languages/
  3. Bading, Ingo: Königreiche im Elb-Saale-Gebiet - Seit dem Mittelneolithikum und in der Bronzezeit Herrschaftszentren der Reiche des Mittelneolithikums und der Bronzezeit, 13. September 2020, https://studgendeutsch.blogspot.com/2020/07/das-fruhbronzezeitliche-konigreich-im.html
  4. Gschnitzer, Fritz: Griechische Sozialgeschichte. Von der mykenischen bis zum Ausgang der klassischen Zeit. 2. Aufl. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013 (EA: 1981) 
  5. Günter Wetzel: Frühe Keramik in Brandenburg und den Lausitzen - zwischen Bandkeramik und Trichterbecherkultur. In: Wolfram Schier, Jörg Orschiedt, Harald Stäuble, Carmen Liebermann (Hrsg.): Mesolithikum oder Neolithikum? Auf den Spuren später Wildbeuter. Tagungsbeiträge von 2014, 2021 (pdf)

Samstag, 21. August 2021

Rebellen und Könige - Die Indogermanen

 - Seit Urzeiten her

Wo kommt er eigentlich her, der vielbenannte und erforschte "Individualismus" der Kultur des Westens? Können die ersten Jahrtausende der Geschichte der Indogermanen dazu Hinweise geben? Waren sie - als geborene Individualisten - immer beides zugleich: Rebellen und Könige? Aufrührer und Inhaber der Macht?

In diesem Blogartikel wird außerdem auf den Umstand hingewiesen, daß zwei neue Themen in das Blickfeld der archäologischen Forschung getreten sind: Zum einen eine "Archäologie der Rebellion", zum anderen eine "Archäologie von Völkern in Not (in Streßzeiten)". 

Gliederung:
I. Einleitende Überlegungen
II. Eine reiche, international vernetzte Elite herrscht über verarmte Einheimische (Sardinien, 2.500 v. Ztr.)
III. Flucht, Vertreibung und Verelendung in der Völkergeschichte

I. Einleitende Überlegungen

Als die Indogermanen in die Welt kamen - in einer abgelegenen Mischwald-Region an der Mittleren Wolga 4.700 v. Ztr. - sahen sie sich in anderen, weit entfernten Ländern, in Ländern jenseits der Steppe, von denen sie hörten, und in die manche von ihnen auch kamen, mit einer "vollen Welt" konfrontiert, mit ausgebildeten Staatswesen, mit bäuerlichen Gesellschaften, mit Kulturen, geprägt von hoher Siedlungsdichte, geprägt von großem Wohlstand.

Abb. 1: Figurinen der Vinča-Kultur aus Stubline in Serbien um 4.700 v. Ztr. (1). Sie heben das Waffenarsenal der Kriegsspezialisten jener Zeit hervor: der Indogermanen. Wollen sie sagen: "Seht her, wir, die Unterschichten sind stark? Unsere Verbündeten sind die Indogermanen, ihre Waffen schlagen euch? Auch wenn wir gesichtslose Gedemütigte dieses Landes sind" - ? Dies sei als eine mögliche Interpretation vorgeschlagen, denn sonst wäre kaum erklärlich, daß Einheimische sich von den Waffen von "Ausländern" so beeindruckt fühlten, daß sie sie in dieser Form nachformten

Welche Rolle sprachen sie sich zu innerhalb dieser "vollen Welt"? Welche Rolle wurde ihnen zugesprochen? Eines ist klar: Wo immer Gräber von frühen Indogermanen zu finden sind - sei es an der Wolga, sei es im Kaukasus, sei es an der Donau, sei es in der Handelsmetropole Warna am Schwarzen Meer - wir finden einzelne Krieger oder Fürsten versehen mit einem Waffenarsenal, mit dem andere Menschen dieser Zeit niemals begraben worden sind, mit einem Waffenarsenal, von dem in dieser Vielfalt das Bild anderer Kulturen dieser Zeit nicht geprägt war.

Geborene Krieger also waren sie. Das ist sicher. Spezialisten für Kriegsdienste.

Könnte es deshalb nicht sein, daß sie sich für eben diese Kriegsdienste auch anboten innerhalb dieser "vollen Welt"? Daß sie sich anwerben ließen - sei es von den Eliten anderer Länder, sei es von den Unterschichten anderer Länder, von unterdrückten Völkern anderer Länder - um Kriegsdienste gegen die jeweiligen Gegner zu leisten? Auf jeden Fall finden wir Indogermanen in den ersten 2.500 Jahren ihrer Geschichte sowohl als Verbündete der Eliten anderer Länder, gar als Könige dieser Länder - etwa in Warna 4.500 v. Ztr. - ebenso wie als Verbündete von Unterschichten und von Rebellen - so vielleicht in Serbien (Stubline) 4.700 v. Ztr. (1), so offenbar auf Sardinien 2.300 v. Ztr. (2). 

"Archäologie der Rebellion"

 "Archäologie der Rebellion", so lautete der Titel eines Workshops, der im November 2014 am Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Kiel abgehalten worden ist (3). Seit es seßhafte Bauerngesellschaften gibt, gibt es soziale Ungleichheit. Und in dem Spannungsfeld dieser sozialen Ungleichheit bewegt sich die Geschichte der Völker seit dieser Zeit. In diesem Spannungsfeld aber bewegt sich womöglich besonders stark auch die Geschichte der Indogermanen.

Denn sie trafen ja auf diese Welt der Unterschiede, der Unterschiede zwischen Arm und Reich. Diese Unterschiede konnten innerhalb einzelner Großreiche bestehen, es konnte aber auch ein "Wohlstandsgefälle" bestehen zwischen unterschiedlichen Stämmen oder Regionen eines Reiches, zwischen Nord und Süd oder zwischen Zentrum und Peripherie. Und diese soziale Ungleichheit konnte zu Aufständen führen, zu Rebellionen, zu Stammeskriegen.

Referate auf dem Workshop lauteten etwa (3, S. 16): "Das Ende der Bandkeramik", "Hallstatt und Aufstand", "Social Upheaval in Vrabel?" Vrabel war eine bronzezeitliche Höhensiedlung östlich von Wien. Außerdem: "Staat und Aufstand in El Argar-Gesellschaften" (Roberto Risch). Damit sollen nur wenige der behandelten Themen genannt sein. Nicht alle Referate scheinen in dem dann veröffentlichten Tagungsband auch enthalten zu sein (3). Womöglich fehlen in ihm einige der überzeugendsten Beispiele für eine "Archäologie der Rebellion". Es wird aber schon an den genannten Themen deutlich, daß ja tatsächlich viele Vorgänge in der Vorgeschichte aus dem Blickwinkel der "Rebellion" einen neuen, zu vorliegenden Befunden passenden Sinn machen.

Beispiel "Ende der Bandkeramik": Die an die Peripherie gedrängten, weniger wohlhabenden, ursprünglicher lebenden westeuropäischen Fischer, Jäger und Sammler wagen den Aufstand gegen die bislang festgefügte soziale Ordnung der Bandkeramik. Sie siegen - und die mittelneolithischen Kulturen und Großreiche entstehen. Und in diesen Großreichen entsteht sogar gesteigerte soziale Ungleichheit, etabliert sich ein Hochadel, der über andere soziale Schichten herrscht. Der Archäologe Roberto Risch erforscht die starke soziale Ungleichheit der El Argar-Gesellschaften in Südspanien. Auch hier könnte es ein sehr anschauliches, überzeugendes Beispiel für das Thema Rebellion geben (9). Es könnte manche Ähnlichkeit aufweisen mit dem sehr klassischen Beispiel zum Thema "Rebellion", nämlich mit dem fast zum Dauerzustand gefrorenen Krieg der Spartaner - als Elite des Landes - gegen die zuvor in diesem Land ansässige Bevölkerung, gegen die "Heloten", sowie deren Verbündete, den Messeniern im Westen der Pelopones (Wiki).

Die schon angeführte neue Studie zu den kriegerischen, sozialen Umbrüchen auf Sardinien ab 2.300 v. Ztr. (2), die Thema des vorliegenden Blogartikels ist, hat aber nun gar nicht einmal ausdrücklich das Thema "Rebellion", "Aufstand" zum Thema. Im Mittelpunkt ihrer Überlegungen steht vielmehr ein ganz anderes Thema, nämlich das Thema "Völker in Not", Völker, die fliehen müssen, Völker die in Peripheriebereiche abgedrängt werden, die verelenden können. Es geht um das Thema Flucht, Vertreibung und weiteres Überleben in Not- und Streßzeiten. Es geht um das Schicksal von Verlierern solcher Rebellionen, das Schicksal von vormaligen Eliten, die nach ihrer Vertreibung in abgelegene Rückzugsgebiete dort um ihr letztes Überleben ringen. Worte wie "rebellion" oder "upheaval" tauchen deshalb in dem ganzen Aufsatz gar nicht auf (2). Und dennoch enthält der Aufsatz eines der anschaulichsten, eindrucksvollsten Beispiele zu diesem Thema, ein Beispiel, das thematisch hervorragend zu dem genannten Workshop des Jahres 2014 paßt.

Abb. 2: Glockenbecher-Keramik auf Sardinien, ab 2.300 v. Ztr. (aus: 2)

Was für ein Geschehen, aufgezeigt anhand der Archäologie der Insel Sardinien in der Umbruchzeit von 2.300 bis 2000 v. Ztr., im Epochenwechsel vom Spätneolithikum zur Bronzezeit (2). Autor ist Gary Webster, emeritierter Archäologe aus Pennsylvanien, USA, verheiratet mit Maud Webster, ebenfalls Archäologin, diesmal aus Norwegen, beide heute ansässig in Griechenland (Acad.). Wir behandeln das Thema dieses Aufsatzes in umgekehrter Reihenfolge als es im Aufsatz selbst geschieht. Wir behandeln erst die Vorgänge der Rebellion (1. Teil) und dann das Schicksal der Verlierer, der in Not und Elend geratenen vormaligen Elite des Landes (2. Teil).

II. Eine reiche, international vernetzte Elite herrscht über verarmte Einheimische (Sardinien, 2.500 v. Ztr.)

Es geht um die Umbruchszeit auf Sardinien rund um die Ankunft der indogermanischen Glockenbecher-Kultur daselbst ab 2.300 v. Ztr.. Zu Anfang umreißt Gary Webster, der lebenslang zur Archäologie des neolithischen und bronzezeitlichen Sardinien geforscht hat, die kulturelle und politische Situation auf Sardinien vor Ankunft der Indogermanen. Auch diese Situation setzt schon sehr viel Vorgeschichte voraus. Sie ist aber nicht Thema seiner Studie. Sicherlich wäre es ebenso spannend, über diese Vorgeschichte noch mehr zu lernen. Das müssen wir uns an dieser Stelle versagen. Webster (2):

In der Mitte des 3. Jahrtausends v. Ztr. finden sich zwei unterschiedliche einheimische Keramik-Kulturen auf Sardinien: (1) Monte Claro (2.880 bis 2.049 v. Ztr.), verteilt über die gesamte Insel (...); und (2) viel seltenere, noch spät überdauernde Filigosa-Abealzu-Funde (2.620 bis 2.287 v. Ztr.). Letztere können vornehmlich durch ihrer gröbere und generell undekorierten Stücke identifiziert werden.
Two distinctive indigenous cultural modalities (facies) are represented in the mid-third millennium bc Sardinian record: (1) Monte Claro (ca. 2880–2049 Cal bc, 95%; see Webster and Webster 2017:76), recognized throughout the island by its distinctive channel-decorated ceramics; and (2) late survivals of Filigosa-Abealzu, far rarer (a date from Mind ‘e Gureu-Gesturi of ca. 2620–2287 Cal bc, 95%; see Figure 4 below and Webster and Webster 2017:49), identified primarily by its cruder and generally undecorated wares.

Von Seiten der Archäologie wurden für diese Zeit auf Sardinien drei oder vier soziale Hierarchiestufen beobachtet (2, S. 7)*): 

  • Erstens eine Patron-Händler-Elite im Süden mit mediterranen Handelsnetzwerken, nahöstlicher Haus- und Gräber-Architektur, sowie Monte Claro-Keramik (Wiki), 
  • zweitens Klienten-Haushalte (Verwalter, Händler, Bergleute, Schmiede, Weber) mit gemischter Keramik, 
  • drittens Filigosa-Abealzu-Enklaven (Wiki), vornehmlich im Inland, die in variablen Beziehungen zu den anderen beiden Gruppierungen stehen, einschließlich: Abwehr, Konflikt, gegenseitige Ausbeutung, Anpassung und Wetteifer, 
  • viertens Haussklaven

Hier deutet sich also wahrlich schon viel vorausgehendes Geschehen an. Fast mutet es einem so an, als ob auch diese Monte Claro-Elite auf Sardinien nicht einheimischen Ursprungs ist. (Weist sie womöglich mehr iranisch-neolithische Herkunftsanteile auf als die Einheimischen [4, 5]? Das wäre ein Hinweis.) Aber das kann nur Thema anderer Beiträge sein. Immerhin identifiziert sich - wie wir sehen werden - die Monte Claro-Elite so sehr mit regionalen religiösen Kulten, die über die Insel verteilt sind, daß sie jeden einzelnen Kult mit in die Rückzugs- und Zufluchtsorte bringen wird, in die sie sich wenig später zurück ziehen wird (siehe unten).

Ab 2.300 v. Ztr. tritt nun jedenfalls Glockenbecher-Kultur auf Sardinien auf (Wiki). Sie ist dort auf über 70 Fundorten bislang bezeugt (Abb. 3). Auffallenderweise tritt sie auf Korsika so gut wie gar nicht in Erscheinung. Ähnlich sahen wir ja in Süditalien (in anderen Blogartikeln) so gut wie keine Glockenbecher-Funde, während sie auf Sizilien sehr gut bezeugt sind. Auch solche Umstände werfen neue Fragen auf. Kommt einem da nicht der Gedanke: Kamen die Glockenbecher-Leute womöglich nur dort hin, wohin sie von Einheimischen auch gerufen worden sind? Ein solches Szenario würde jedenfalls gut zu diesen Befunden passen (dazu mehr gleich).

Abb. 3: Über 70 Fundorte der Glockenbecher-Kultur auf Sizilien; sowie Bergfestungen und Zufluchtsorte der bisherigen Elite auf Sardinien (aus: 2)

Als sehr wesentliche Umstände beobachtet Webster nun (2) ... 

keinerlei gemeinsame Nutzung von Glockenbecher- und Monte Claro-Keramik und extrem seltene Mischformen zwischen beiden einerseits und (häufigere) Mischformen von Glockenbecher- und Filigosa-Abealzu-Keramik-Stilen andererseits.
on the one hand, a non-coincidence of Beaker and Monte Claro assemblages and an extreme paucity of any hybrid pottery forms between them; on the other, evidence of hybridity between Beaker and Filigosa-Abealzu ceramic modes.

In diesen wenigen Worten ist womöglich schon alles enthalten. Was für ein verrücktes Geschehen! Womöglich sind schon die Indogermanen des 5. Jahrtausends von einheimischen Unterschichten gerufen worden (und "verehrt" worden, siehe Figurinen in Stubline an der Save in Serbien) (1), um gegen die einheimischen Oberschichten zu rebellieren, so schießt es uns an dieser Stelle durch den Kopf. Woraus sich dann die Thematik des vorliegenden Blogartikels ergeben hat. Damit wären schließlich die Figurinen von Stubline ja außerordentlich elegant gedeutet, zumal sie im einheimischen kulturellen Kontext auftreten (1)!

Ergibt sich aus all dem ein allgemeineres Muster für die Art und Weise der Ankunft der Indogermanen, so schießt es uns weiter als Gedanke durch den Kopf. Auch auf der Ostseeinselinsel Gotland haben wir ja schon ein "Bündnis" festgestellt einheimischer Fischer-Jäger-Sammler-Völkerschaften mit der indogermanischen Streitaxt-Kultur (6). Womöglich auch dort gegen die dortigen Eliten der Kugelamphoren-, bzw. der Trichterbecher-Kultur (6)!?! Auch der dortige Befund würde sich in dieser Weise außerordentlich elegant erklären. Denn sonst wäre ja kaum zu erklären, warum Fischer-Jäger-Sammler-Bevölkerungen so - mehr oder weniger - freiwillig eine fremde Kultur annehmen. Wenn diese aber - sozusagen - als "Befreier" auftritt?

War es die Taktik, der "Stil" der Indogermanen, sich mit marginalisierten Völkerschaften vor Ort zu verbünden, sich von ihnen "rufen" zu lassen, um den vorherrschenden Eliten daselbst den Kampf anzusagen? Ein faszinierendes Geschehen wäre das, geradezu eine erste Form von "Klassenkampf" in der Weltgeschichte. So würde auch besser erklärbar, warum diese "Spezialisten für Kriegführung" (da sie ja von Anfang an von Waffen starren), über so weite Entfernungen hinweg in Großreichen mit vergleichseweise hoher Siedlungsdichte ein "genetic replacement" vollziehen konnten. Einfach weil sie als "Spezialisten" von einheimischen Machtgruppierungen gerufen worden waren.**)

Und immerhin repräsentieren sie ja anfangs mit ihrem Lebensstil - als nicht sehr seßhafte Herdenhalter - selbst eine Lebensweise, die womöglich eher in den "Randbereichen" der damals "modernen" Kulturen, Großreiche und Fürstentümer angesiedelt war - aufgezeigt etwa an jüngeren Forschungen im Weichselraum (7). Damit ergäbe sich tatsächlich allmählich ein stimmigeres Bild von allem: Indogermanen nicht nur als Könige und Eroberer, sondern zugleich auch als Rebellen. So wohl erst würde das Bild wirklich "rund".

Glockenbecher auf Sardinien - Wo aber sind ihre Gene?

Denn das Allerwitzigste ist ja nun außerdem noch - was auch schon bezüglich der Hethiter so viel Aufsehen erregt hatte bislang: daß jene recht umfangreiche Studie vom letzten Jahr zur Genetischen Geschichte Sardiniens (4, 5) indogermanische Steppengenetik erst für das erste Jahrtausend v. Ztr. auf Sardinien feststellt.

Diesen Umstand versucht Webster zu erklären damit, daß ja die zuvor ins Inland abgedrängte Filigosa-Abealzu-Bevölkerung in der Kultur Mischformen mit der Glockenbecher-Kultur ausbildet, daß sich also womöglich mehr Kultur als Genetik der Glockenbecher-Leute auf Sardinien ausgebreitet hat. Gibt es nicht ähnliche Erscheinungen auch für bestimmte Phasen der Ausbreitung der Glockenbecher-Kultur in Spanien? Und auch auf Gotland finden wir ja "indogermanisierte" Streitaxt-Kultur in Kombination mit einheimischer Fischer-Jäger-Sammler-Genetik (6). Diese Umbruchszeit - rund um die Ankunft der Indogermanen - sie zeigt sich zunehmend als ein hoch differenziertes Geschehen. Folgen wir weiter Webster (2):

Das Auftreten von Glockenbecher-Sachgütern auf der Insel - ob in der Hand von Ausländern oder Einheimischen - fällt zeitlich zusammen mit der weit verbreiteten Aufgabe von Monte Claro-Siedlungen, einschließlich des Haupt-Kult-Zentrums Monte d’Accoddi im Nordwesten und mit dem Auftreten von befestigten Monte Claro-Bergfestungen und höher gelegenen Siedlungen, die verteidigt werden können.
Importantly, the appearance of Beaker assemblages in the island - whether in the hands of  foreigners or Sardinians - correlates temporally with widespread abandonment of Monte Claro sites, including the major cult centre at Monte d’Accoddi in the northwest (see Figure 3, above  and  Figure  11,  below), and the appearance of fortified Monte Claro citadels and elevated defensible settlements.

Ein Aufstand der zuvor ins Inland abgedrängten, an der traditionellen Kultur festhaltenden Bevölkerung auf Sardinien gegen die vorherige, international vernetzte Monte Claro-Elite unter der Anführerschaft von Glockenbecher-Leuten. So das Szenario, das der Archäologe Webster den archäologischen Funde und Befunden auf Sardinien entnimmt. Wir verrückt das wohl ist?! Über die genannten Bergfestungen ("Zitadellen") schreibt Webster (2):

... vornehmlich im Nordwesten der Insel. ... felsige Plateaus ... Zyklopen-Mauer ... In der Nähe von einigen derselben liegen unbefestigte Siedlungen, was nahelegt, daß sie während der kontinuierlichen Besiedlung nur als Zufluchtsorte während kriegerischer Bedrohungen dienten. Bemerkenswerter Weise unterbrach das Anlegen der Befestigung auf dem Plateau von Baranta den Bau eines Megalithgrabes daselbst.
These are found mainly in the northwest regions of the island. Common among them is the choice of rocky plateau spurs across which a cyclopean wall was built on the less defensible side, enclosing a settlement area with house remains. Several have remains of undefended settlements nearby (e.g. Tanca Baranca and Padru Salari near Monte Baranta), suggesting they served as temporary defensive strongholds for the more permanent settlement during periods of threat. At Baranta, notably, the fortification of the plateau interrupted the ongoing construction of a megalithic henge (Figure 5).

Bis hier haben wir aber eigentlich erst das "Vorgeplänkel" erlebt, nämlich das Thema Rebellion, das Webster eher im Vorübergehen behandelt, um die Gesamtsituation zu kennzeichen und einzuordnen. Nun aber kommt Webster erst zu dem von ihm selbst in den Vordergrund gestellten Thema (2):

Auf Anhöhen gelegene unbefestigte Monte Claro-Siedlungen, die verteidigt werden können, und die Hinweise auf nachhaltige dauerhafte Besiedlung aufweisen, sind selten. Es gibt jedoch drei Ausnahmen, wert, als mögliche Zufluchtsorte ("refugia") genauer betrachtet zu werden. ....
Undefended but defensible Monte Claro sites at some elevation and with evidence of substantial permanent occupation are rare. Three exceptions worth considering as possible refugia are Noeddos at 280 m asl in Mara in the northwest  (Trump 1990), Monte Sirai on a plateau at 190  m asl near Carbonia in the southwest (Moravetti  2017: 184-85) and Sa Sedda de Biriai on a plateau at 335 m asl in the eastern  highlands  of Oliena Castaldi 1979; 1981; 1984; 1985; 1999).

Von diesen dreien ist bislang nur Sa Sedda de Biriai ausreichend erforscht worden, um genauere Untersuchungen zur genannten Fragestellung hin zu ermöglichen. Diese unbefestigte Höhensiedlung liegt im mittleren Osten der Insel, in ihrem 20-Kilometer-Umkreis finden sich nur wenige Glockenbecher-Funde (Abb. 3). Die über 4.500 archäologischen Funde, die daselbst gemacht worden sind, repräsentieren eine große Vielfalt von Gefäßformen und Dekorationen derselben, zum großen Teil den Stil der Region vor Ort, aber ebenso den Stil vom südlichen Teil der Insel wie auch vom nördlichen Teil derselben. Einige der Funde repräsentieren klar lokale, gröbere Produktionen von Keramik, die andernorts sonst eleganter angefertigt worden war.

Es konnte auf mindestens 280 Häuser geschlossen werden, was eine überdurchschnittlich hohe Zahl für Siedlungen dieser Kultur darstellt und das Webster als ein Ergebnis von "Zusammengedrängtsein" nach Fluchtgeschehen interpretiert. Außerdem berichtet er von der Beobachtung (2):

... ikonische Kult-Gestaltungen von den Heimatorten mitgebracht und in Biriai nachgestaltet ...
The apparent removal of iconic cult features from pre-flight venues for replication at Biriai seems to bear witness to the significance of socio-spiritual continuity in adapting to a post-flight context, despite the high cost of realizing them locally.

/ Dieser Teil des Aufsatzes von Webster muß hier künftig noch gründlicher referiert werden. /

III. Flucht, Vertreibung und Verelendung in der Völkergeschichte

In diesem dritten Teil wird das eingestellt, was wir schon erarbeitet hatten, bevor wir auf das Thema "Rebellion" in dem Aufsatz von Webster überhaupt gestoßen worden waren, und was als Thema für sich fast ebenso bedeutend und spannend ist.

Ursprünglich wollten wir zu dem Thema des Aufsatzes von Webster folgendermaßen hinleiten: 1945 erfuhr Deutschland eine Verkleinerung seines Territoriums um ein Drittel des vorherigen Staatsgebietes. Millionen Deutsche sind dabei aus ihrer Heimat geflohen, Millionen von Frauen wurden vergewaltigt, Hunderttausende, wenn nicht Millionen Menschen sind verhungert. Zehntausende von Kindern verloren ihre Eltern, wurden Wolfskinder, Millionen Deutsche wurden nach Kriegsende vertrieben oder wurden zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt. Auch dabei kamen wieder Millionen von Menschen ums Leben. Es handelte sich rein zahlenmäßig um eine der größten Bevölkerungsverschiebungen der Weltgeschichte (Wiki). Wenn man sich also als Deutscher mit dem Thema Flucht, Vertreibung und Notzeiten in der Weltgeschichte beschäftigen will, genügen zur Einführung und zur Heranführung an das Thema zunächst nur wenige Andeutungen der eigenen jüngsten umwälzenden Geschichte in diesem unserem Land des Immanuel Kant und des Nikolaus Kopernikus. Vorausgegangen waren den Geschehnissen von 1945:

  • Vertreibung von einer Millionen Deutschen aus Polen zwischen 1919 und 1939, sowie Ermordung und Verschleppungsmärsche derselben innerhalb von Polen bei Kriegsbeginn,
  • Umsiedlungen von Deutschen aus dem sowjetischen Machtbereich in die von Deutschland besetzten Gebiete ab 1939,
  • Vertreibung, Ghettoisierung, Konzentrationslager-Einweisung und Ermordung von Polen, Juden, Serben, Kroaten und vieler anderer Nationalitäten auf Seiten aller kriegführender Mächte.
  • Ähnliche Geschehnisse zeitgleich rund um den ostasiatischen Kriegsschauplatz - vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg ("Massaker von Nanjing" usw.).
  • Sammeln von Millionen Kriegsgefangener in Kriegsgefangenenlagern auf Seiten aller kriegsführender Mächte, sowie Zwangsarbeit derselben, zum Teil noch viele Jahre nach dem Krieg, Verhungernlassen derselben und vieles andere mehr.

Nach 200 Jahren kultivierteren Zusammenlebens der Völker in Europa haben die Ereignisse der Jahre 1939 bis 1949 auf diese Völker zutiefst traumatisch gewirkt. Diese Ereignisse stehen bis heute als unverarbeitetes Trauma inmitten der Lebenswirklichkeit dieser Völker. Denn die Deutung der Erinnerung dieser schrecklichen Erlebnisse ist noch heute von starken politischen Interessen geleitet und wird deshalb von "Korrektheiten" aller Art übertüncht. Deshalb ist eine unverkrampfte Aufarbeitung gar nicht möglich. Deshalb wirken die Traumata auch unvermindert weiter, von einer Generation an die nächste weiter gegeben, ohne daß sie sich lösen können. Vielmehr wird die seelische Gelagertheit, der diese Erlebnisse entsprungen sind, und die ihnen gefolgt sind, mit dieser Nichtaufarbeitung und ständig weiter betriebenen Verdrängung zementiert.

So geraten Völker in Not, wenn nicht in materielle Not, so doch in allerhöchste seelische Not - und gehen an dieser Not zugrunde.

Flucht, Vertreibung, Verschleppung, Versklavung, Ermordung, Zusammendrängen auf verkleinertem Territorium, An-den-Rand-Drängen, "Marginalisieren" von Menschen und Menschengruppen anderer Religion, Herkunft, Ethnie, Muttersprache, Kultur und Hautfarbe - Jahrtausende lang ist das ein wiederkehrendes Geschehen in der Völkergeschichte gewesen. Dieser Umstand ist in der Kulturgeschichte des Abendlandes in den letzten 200 Jahren nur viel zu sehr wieder in Vergessenheit geraten: Daß Brutalität und "Anderssein", sprich Kulturlosigkeit und Barbarei immer und überall unter der Decke schwelen, selbst wenn "auf der Oberfläche" viel Kultur vorherrschen mag.

Im Englischen wird ein solches, eben beschriebenes Geschehen - unter anderem - mit dem Begriff "Forced Displacement" (Wiki) erfaßt. Dieser Begriff erinnert an die Bezeichnung "displaced persons", die von den anglo-amerikanischen Siegermächten auf Millionen von Menschen angewendet wurde, die bei Kriegsende heimatlos waren: Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, Konzentrationslager-Insassen und so viele andere Menschengruppen mehr (8).

Daß Erscheinungen wie Flucht, Vertreibung, Massenmord keineswegs so geschichtlich weit zurück liegend sind wie es sich in das kulturelle Gedächtnis der europäischen Völker der letzten 200 Jahre eingeschrieben hatte, ist diesen noch heute nicht wirklich bewußt geworden. Auch diesem Umstand gegenüber wird "Vergessen" gepflegt.

Nur kurz vor dem Anbruch des Zeitalters der klassischen Kultur in Europa hatte es - etwa - die Vertreibung der Protestanten aus vielen katholischen Ländern gegeben. Es hatte - etwa - den Massenmord an hunderttausenden von Protestanten in der Bartholomäusnacht in Frankreich gegeben. Es hatte - etwa - den Massenmord an der Einwohnerschaft der protestantischen Handelsmetropole Magdeburg nach ihrer Erstürmung während des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland gegeben. Und das alles mit dem Segen solcher Päpste und solcher Jesuiten wie sie heute noch in Europa bejubelt werden. Württembergische Soldaten wurde gegen ihren Willen noch in den 1780er Jahren von ihrem Landesherrn nach Amerika verkauft.

Andere Beispiele wären der Sklavenhandel von Afrika nach Amerika, die Vertreibung der Palästinenser aus ihrer Heimat 1949 bis 1956, die Armenier-Umsiedlungen und -Morde während des Ersten Weltkrieges. 

Damit sollen nur einige wenige Andeutungen gegeben sein, um zu dem Thema hinzuführen. Dabei haben wir uns bemüht, dieses Thema eben nicht so plakativ zu behandeln wie das heute weithin üblich geworden ist in Politiker-Ansprachen. Denn gerade diese "Plakativität" und politische Ausschlachtung sind es doch, womit man sich dieses Thema eigentlich und letztlich "vom Leibe" hält, weil es eben zugleich verbunden ist mit so unendlich viel Schweigen. Denn einen Schmerz, den ich über das Eigene nicht wirklich empfinde, den Schmerz kann ich über das Schicksal anderer nicht wirklich nachvollziehen. Genug davon.

"Völker in Not" - Es wird ein Thema der archäologischen Forschung

Ein Blick in die archäologische Literatur offenbart, daß solches eben umrissenes Geschehen auch schon für Vorgänge, die oft Jahrtausende zurück liegen und über die es gar keine schriftliche Überlieferung gibt, erstaunlich differenziert erforscht werden (2). Und dieser Umstand erstaunt zutiefst.

Es waren ja insbesondere die Ergebnisse der Archäogenetik der letzten sechs Jahre, aus denen heraus  sich die Ahnung ergeben hatte, daß solche Ereignisse in der Völkergeschichte der letzten zehntausend Jahre immer einmal wieder eine nicht geringe Rolle gespielt haben. Es hat Massenmord-Ereignisse an den einheimischen Jäger-und-Sammler-Völkern gegeben von Seiten der ersten Bauernkulturen Europas. Diese einheimischen Völker haben sich in "Rückzugsgebiete" zurück gezogen. Sie mußten weite Regionen ihrer Heimat den neuen Siedlern überlassen. (Das Thema vieler früherer Artikel hier auf dem Blog.)

Inzwischen ist es auch völlig unmöglich, solche Massenmord-Ereignisse und Bevölkerungsumsiedlungen auszuschließen für die Zeit der Ankunft der Indogermanen in vielen Regionen Europas. Vielmehr drängt sich diese Annahme aufgrund der Ergebnisse der Genetik und der Archäologie oft geradezu auf. Während das festgestellte "genetic replacement" bei Ankunft der Ackerbauern noch leichter erklärt werden kann aufgrund der damals vorherherrschenden geringen Siedlungsdichte der Jäger-Sammler-Völker, wird ein solches "genetic" replacement" noch einen ganz anderen Charakter gehabt haben, wenn ein solches im Spätneolithikum stattgefunden hat, als eigentlich alle Räume Europas vergleichsweise dicht besiedelt gewesen sind von großen Bauernvölkern, bzw. von Großreichen mit zentraler Verwaltung und Beamtenschaft (Hochadel).

Natürlich kann es auch umfangreiche Bevölkerungs-Dezimierungen durch Epidemien geben. Ein Beispiel dafür ist das Hinwegsterben der einheimischen Bevölkerung Amerikas bei Ankunft der papsttreuen, goldsüchtigen, katholischen "Konquistadoren" - aus Spanien und Portugal.

Wir hatten aber auch schon Hinweise darauf angeführt, daß in der Zeit des Spätneolithikums und der Frühbronzezeit Volksstämme - vermutlich von Großkönigen - bewußt an- und umgesiedelt worden sind im Ostseeraum in den Jahrhunderten der Ankunft der Indogermanen (6). In vielen Regionen war die Ankunft der Indogermanen auch verbunden, so hatten wir angeführt, mit Anzeichen von Siedlungslücken, von dem Rückgang der Bevölkerungsdichte, und zwar in Norddeutschland und Jütland ebenso wie in Apulien oder Griechenland. Zum Umbruchsjahr 2.200 v. Ztr. im Mittelmeerraum hat es ja im Jahr 2016 auch eine internationale Fachkonferenz in Halle an der Saale gegeben, wie wir in früheren Blogartikeln erwähnten.

Vorgänge von - sagen wir neutral: "Umgruppierungen" - von Völkerschaften infolge der Ankunft neuer Völkerschaften sind in der Archäologie besonders gut erforscht bislang für die Zeit nach der Palastzeit auf Kreta (Ankunft der mykenischen Kultur und damit der Indogermanen) wie auch für die Zeit des Seevölkersturms um 1200 v. Ztr. im Mittelmeerraum (2):

Im Mittelmeerraum konzentrierte sich viel archäologische Forschung zum Thema Flucht und Verelendung in der Vorgeschichte auf das Kreta nach der Palastzeit und auf den spätbronzezeitlich- bis eisenzeitlichen Levanteraum. In beiden Regionen haben die Untersuchungen sich sehr stark darauf konzentriert, die Umstände zu identifizieren, die mit Flucht und Umsiedlung verbunden gewesen sind, auch um mögliche Depots zu identifizieren, die von Flüchtlingen angelegt worden sein könnten.
In the Mediterranean, much archaeological research on refugee phenomena in prehistory has focused on Postpalatial Crete (e.g. Haggis 2001;  Kanta 2001; Driessen 2018; Nowicki 2018) and the LBA to IA Levant (e.g. Burke 2011; 2012; 2018a; 2018b; 2021; Jung 2018; cf. Iacono 2018). In both areas, investigations have relied heavily on identifying the circumstances that informed flight and resettlement as a means to isolate possible refugee deposits.

Theoretisches Umsinnen des Themas "Völker in Not"

Gemäß eines Modells zu "Verelendungsrisiken und Wiederaufbaubemühungen" im Zusammenhang mit Fluchtereignissen ("Impoverishment Risks und Reconstruction" [IRR]) wird zunächst eher von der theoretischen Seite her erarbeitet, mit welchen Phänomenen es Archäologen zu tun haben könnten bei der Interpretation ihre Funde und Befunde zu diesem Thema (2):

1. Hinweise auf die Aufgabe von Ortschaften und Siedlungskammern, auf plötzliches Anwachsen von Ortschaften in benachbarten Regionen oder aber auf die Veränderung der Siedlungsstruktur überhaupt.

2. Hinweise auf neue Tätigkeitsfelder (z.B. als Söldner oder in Massen-Arbeits-Projekten) oder auf Räuberei, sowie Hinweise auf "neue Netzwerke" im Fernhandels-Austausch, die sich durch Neuankömmlinge ergeben können.

3. Heimatlose: Das Anwachsen von Siedlungen mit Hinweisen auf architektonische Traditionen von Neuankömmlingen; höhere Siedlungsdichte in Rückzugsräumen ("refugia") aufgrund der beschränkten Räumlichkeit vor Ort, die zugleich natürlichen Schutz bieten, und wohin gegebenenfalls große Zahlen von Flüchtlingen fliehen können.

4. An den Rand drängen (Marginalisierung): Hinweise auf (neue?), am Rand gelegene Siedlungsgemeinschaften, Nachbarschaften, Stadtteile. Oder aber die Besiedlung von abgelegenen Regionen, einschließlich von Höhlen.

5. Unsichere Lebensmittelversorgung: Hinweise auf (neue?) Ernährungsgewohnheiten, intensivierten Ackerbau, Hungerzeiten, ablesbar an den Skeletten und an vielfältitgem Gebrauch von Werkzeugen, die oft repariert worden sind.

6. Erhöhte Sterblichkeit: Das Auftreten von neuen Gräbern innerhalb gerade erst erweiterten Siedlungen.

7.  Verlust des Zugriffs auf differenzierte Austausch-Netzweke, also Hinweise auf (2, S. 5f) ...

... den Verlust der Erreichbarkeit oder Zugänglichkeit von zuvor exisiterenden Handwerks-Spezialisten und deren Netzwerken, archäologisch bezeugt durch weniger vielfältige, weniger schöne, mehr auf Nützlichkeit abgestellte Sachgüter-Bestände, eine Erscheinung, die zum Beispiel an den Funden sowohl von kanaanitischen Flüchtlingen (im Levanteraum) wie von ägäischen Flüchtlingen nach der Palastzeit (auf Kreta) beobachtet worden ist.
loss of access to or availability of preexisting craft specialists and networks, a dearth evinced archaeologically in more limited, less embellished, more utilitarian repertoires - a  pattern observed, for  example, among both Canaanite and Postpalatial Aegean refugee assemblages (Burke 2018a: 245).

8. In einigen Fällen Hinweise auf ... (2)

... das Zusammenkommen von kulturell, sprachlich, sozial, ethnisch, stammesmäßig und/oder religiös unterschiedlichen Gemeinschaften unter den Bedingungen einer äußeren Bedrohung.
in some cases the coming together of otherwise diffuse cultural, linguistic, social, ethnic, tribal and/or religious entities into the refuge-space under conditions of a common external  threat (see further below, and e.g. Dahlal 2017: 4)

Es wird erkennbar, worum es geht: Antike Völker in Not. Bevölkerungen verlieren Land, werden versklavt und zu Zwangsarbeiten heran gezogen, leben in Rückzugsregionen, werden kulturell und wirtschaftlich an den Rand gedrängt ("marginalisiert"), erleben Hungerzeiten, erleben erhöhte Sterblichkeit, erfahren einen geradezu dauernden "Belagerungszustand". Nicht zuletzt fühlt man sich auch erinnert an die Staatlichkeit der Spartaner auf der Peloponnes in Griechenland, die sich über Jahrhunderte hinweg in einem dauernden Kriegszustand mit der zuvor dort einheimischen Bevölkerung befand. Offenbar können einige Züge eines solchen Geschehens auch für Sardinien in der Zeit nach 2.300 v. Ztr. beobachtet werden.

Abschließende Überlegungen

Wenn ich als "Spätankömmling" in eine soziale Welt kommen, die schon seit Jahrhunderten von Hierarchien geprägt ist, könnte es gut für mich sein, wenn ich die seelische Spannweite besitze, den "Individualismus" besitze, die Anpassungsfähigkeit besitze, mich auf vielen - oder allen - Stufen der sozialen Leiter sicher zu bewegen. Dazu ist Anspruchslosigkeit sicherlich eine gute Voraussetzung. Die ersten 2.500 Jahrer ihre Geschichte dürfte die Lebensweise der Indogermanen in weiten Teilen Europas als nur halbseßhafe Herdenhalter und Bauern noch recht anspruchslos gewesen sein. Mit einer solchen anspruchslosen Lebenshaltung finde ich mich in der Welt von "Deutschland ganz unten" (Günther Wallraff) ebenso gut zurecht wie ich mich womöglich in den Kreisen der Regierenden, der Fürsten und Könige zurecht finde. Daß die Indogermanen als Kultur schon von früh auf diese innere Spannweite besessen haben, dafür können sicherlich viele Zeugnisse angeführt werden und dafür hatten wir in diesem Beitrag schon einige genannt, eben: Rebellen und Könige zugleich.

"Krieg den Palästen, Friede den Hütten!" - So könnte also das Motto der Indogermanen in den ersten 2.500 Jahren ihrer Geschichte unter anderem auch immer einmal wieder gelautet haben. Womöglich waren soziale Revolutionen ein nicht unwichtiger Modus ihrer Ausbreitung. Womöglich waren sie Anführer, Ermutiger, Verbündete unterdrückter Unterschichten im Kampf gegen ihre Unterdrücker. So wie - offenbar - auf Sardinien 2.300 v. Ztr. (oder auch in Serbien 4.700 v. Ztr.). Indem diese Möglichkeit mit berücksichtigt wird, ergibt sich sich ein neues, zusammenhängendes, vielleicht widerspruchsfreieres Bild zu ihrer Ausbreitung. Viel bisher "Unstimmiges" in der Faktenlage könnte damit "stimmiger" werden. Sie waren womöglich immer beides zugleich: Rebellen und Könige.

Ausblick

Daß übrigens die Geschichte der Glockenbecherkultur auf Sardinien und überhaupt im Mittelmeerraum mit einer "Zuwanderungswelle" allein nicht hinreichend erklärt werden kann, dafür scheinen sich auch immer mehr Hinweise anzusammeln. Das sei nur noch als Ausblick am Ende erwähnt. Unter Bezugnahme auf (10) wird auf Wikipedia erwähnt, daß die erste Welle der Glockenbecher-Kultur aus Südfrankreich und Katalonien gekommen ist, eine zweite Welle aber aus Mitteleuropa über Italien nach Sardinien gekommen sei (Wiki):

Die erste "Franko-Iberisch" (Katalonien und Südfrankreich) und die zweite "Mitteleuropäisch" (über die ganze italienische Halbinsel hinweg).
The first "Franco-Iberian" (Catalonia and Southern France) and the second "central European" (throughout the Italian peninsula).

Diese beiden Wellen werden zeitlich zugeordnet den archäologischen Phasen ...

A1 Maritime, internationale Phase (etwa 2.100 bis 2.000 v. Ztr.)
A2 Italienisch-Sulcitan Phase (etwa 2000 bis 1900 v. Ztr. 
A1 maritime-international phase (c. 2100-2000 BC)
A2 Italian-Sulcitan phase (c. 2000-1900 BC)

("Sulcitan" bezieht sich auf zwei kleine Inseln vor der Südküste Sardiniens.) Damit würde sich wiederum ein komplexes Geschehen für die Geschichte Sardiniens und zeitgleich anderer Regionen des Mittelmeer-Raumes andeuten. Womöglich ist dies zeitlich auch zuzuordnen der Ausbreitung der Urnenfelder-Kultur nach Italien hinein, worüber wir jüngst auch andernorts hier auf dem Blog (Stgen2019) das folgende nachgetragen hatten: Eine neue Studie macht auf die lange Frühgeschichte der Urnenfelder-Kultur - sprich, der nachmaligen Italiker, Iberer, Ligurer und Kelten - ab 2000 v. Ztr. aus dem Raum der ungarischen Tiefebene heraus aufmerksam (11). Ab 1900 v. Ztr. sei sie im nordöstlichen Serbien südlich des Eisernen Tores anzutreffen. Während des darauffolgenden Zusammenbruchs des Tell-Systems um 1500 v. Ztr. breitete sich das Urnenfelder-Modell in einige benachbarte Regionen aus, in die südliche Poebene, in die Sava/Drava/Untere Tisza-Ebene, während es in vielen dazwischenliegenden Regionen hybride Kulturen mit weniger radikaler Übernahme der Urnenfelder-Kultur-Elemente gegeben habe (11).

_______

*) Original (2):
"(1) a patron-elite (merchants?) residing in  the  south  (Monte  Claro,  Cagliari/southern sub-facies)  with trans-Mediterranean  engagements (trade?), differentiated by their Near Eastern-styled trapezoidal hous- ing and shaft tombs with pithos-sherd  interments (see Webster  2019b for a full analysis), tanged copper daggers and finely  made, distinctive flute-decorated ceramics; 
(2) client/mixed households (Monte Claro elsewhere in the island) socio-economically  entangled with the patron-elite (e.g. culture brokers, traders, miners, metal workers, textile workers), and archaeologically distinguished (with greater difficulty) by traditional and emulative housing  architecture,   and burial  in  traditional  sepulchres  with hybrid (Filigosa-Abealzu/Monte Claro,  e.g.  Santu  Pedru-Alghero) and/or  locally imported Cagliari  sub-facies  ceramics  and   occasionally metal objects (daggers, awls); 
(3) traditional (Filigosa-Abealzu) enclaves,  archaeologically  detectable  in  habitations   and  tombs  mainly in the interior of  the island  (e.g.  Mind  ‘e  Gureu-Gesturi—see  Figures 3 [marked  as  ‘Gureu’] and 4d, below), with variable relations to the above two groups including resistance, conflict, mutual  exploitation, accommodation and emulation; and 
(4) unfree statuses, the least ascertainable archaeologically, but possibly detectable  for example in the high-status Monte Claro (Cagliari sub-facies) burials at Gannì near the Gulf of Cagliari, suggesting the presence of household servants."
**) Ergänzung 28.1.23: Es wäre überlegenswert, ob die zeitgleiche Entstehung der Griechen in Griechenland nicht ähnlich erklärt werden könnte (s. Stugen2023). Auch dort gibt es ja auf Delos die Sage, daß der Apollonkult durch zwei Jungfrauen eingeführt worden wäre, die von den "Hyperboräern" gesandt worden wären (Wiki). Die Insel wäre zuvor in Besitz der Karer (Wiki) gewesen. Diese sprachen ebenfalls - wie die Hethiter - eine indogermanische Sprache, trugen aber womöglich - wie die Hethiter - keine indogermanische Genetik in sich. Sie gehörten zur Sprachgruppe der Luwier. 
Somit könnte es ja fast denkbar sein, daß es diese Luwier waren - oder westanatolische Vorgänger-Kulturen der Luwier - die auch auf Sardinien als ausländische Elite aufgetreten sind, die aus dem Nahen Osten stammte. Womöglich ist jedenfalls der Apollonkult auf Delos im Widerstreit mit Götterkulten, die von einer aus Anatolien stammenden Elite zuvor eingeführt worden waren, eingeführt worden. Vielleicht deshalb auch die Notwendigkeit der wiederholten "Reinigungen" der Insel von vormals angelegten Gräbern. Nur die Gräber der beiden genannten Jungfrauen sind dabei nie beseitigt worden bei solchen mehrmaligen Reinigungen, so daß sie in die 1950er Jahre auf Delos ausgegraben werden konnten.  

__________________

  1. Bading, Ingo: 4.700 v. Ztr. - Indogermanen am Mittellauf der Donau?, https://studgendeutsch.blogspot.com/2021/07/4700-v-ztr-indogermanen-am-mittellauf.html  
  2. Gary Webster: Biriai: A Possible Refugee Settlement in Late Third-Millennium bc Sardinia. Journal of Mediterranean Archaeology 34.1 (2021) 3-27, https://doi.org/10.1558/jma.43200
  3. Svend Hansen und J. Müller (eds.), Rebellion and Inequality in Archaeology. Proceedings of the Kiel Workshops "Archaeology of Rebellion" (2014) and "Social Inequality as a Topic in Archaeology" (2015). Habelt, Bonn 2017 (pdf
  4. Bading, Ingo: Völkerbewegungen im Mittelmeer-Raum ab 2.400 v. Ztr., 26.2.2020, https://studgendeutsch.blogspot.com/2020/02/volkerbewegungen-im-mittelmeer-raum-ab.html
  5. Bading, Ingo: 2.200 v. Ztr. - Kriegerische Glockenbecherleute im westlichen Mittelmeer-Raum, kriegerische Hethiter in Anatolien, 3.4.2019, https://studgendeutsch.blogspot.com/2019/04/2200-v-ztr-kriegerische.html
  6. Bading, Ingo: Die westeuropäischen Fischer, Jäger und Sammler (13.000 bis 2.700 v. Ztr.), 1.4.2021, https://studgendeutsch.blogspot.com/2020/06/die-westeuropaischen-jager-und-sammler.html
  7. Die Fundamente Europas - Sie wurden in einer Umbruchzeit gelegt (3.500 bis 2.700 v. Ztr.), https://studgendeutsch.blogspot.com/2021/05/das-fundament-europas-in-einer.html  
  8. Juliane Wetzel, Displaced Persons (DPs), publiziert am 26.03.2013; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Displaced_Persons_(DPs)> (20.08.2021) 
  9. Harald Meller trifft Roberto Risch - Neue Forschungen zur europäischen Frühbronzezeit, 21.12.2020, https://youtu.be/rhaqmH8Caq0
  10. Ceramiche. Storia, linguaggio e prospettive in Sardegna, Maria Rosaria Manunza, p.26
  11. Cavazzuti, C., Arena, A., Cardarelli, A., Fritzl, M., Gavranović, M., Hajdu, T., ... & Szeverényi, V. (2022). The First ‘Urnfields’ in the Plains of the Danube and the Po. Journal of World Prehistory, 1-42, https://link.springer.com/article/10.1007/s10963-022-09164-0.  

Montag, 16. August 2021

Evoluiert in Europa? Die Vorfahren der Australopithecinen? Unter anderem auf Kreta?

Frühe Zweibeinigkeit gab es schon vor 12 Millionen Jahren in den tropischen Wäldern des Allgäu
- Aufsehenerregende Funde, die im November 2019 publiziert worden sind

Die Humanevolution der letzten 5 Millionen Jahre wird für Afrika seit vielen Jahrzehnten immer lückenloser belegt: Australopithecus - Homo habilis - Homo erectus und immer zahlreicher werdende Zwischen- und Nebenformen. In Afrika sind die ältesten Funde allerdings nicht älter als 4,5 Millionen Jahre alt. Ältere Menschenaffen-Funde haben sich in Afrika trotz Jahrzehnte langer Forschung bislang nicht gefunden!

Abb. 1: Kreta vor 6 Millionen Jahren - Drei ausgewählte Fußabdrücke (aus: Gierliński 2017)

Seit 2010 werden auf Kreta versteinerte Fußspuren im Sand erforscht (Abb. 1). Sie sind von aufrecht gehenden Vormenschen vor 6 Millionen Jahren hinterlassen worden (Wiki) (Gierliński 2017). Die Ergebnisse sind 2017 an entlegener Stelle publiziert worden, nachdem die Publikation von anderen Zeitschriften - unter anderem von "Nature" - als zu unglaubhaft zurück gewiesen worden war (Scinexx 2017).

Welche Art genau die Spuren auf Kreta hinterlassen hat, ist bis heute ungeklärt. Aber mit solchen Funden treten immer mehr der Mittelmeerraum und Europa in den Brennpunkt der Forschung, was die evolutionäre Entwicklung seit 12 Millionen Jahren von den Vorfahren der heutigen Menschenaffen bis hin zu ihnen selbst und bis hin zum Australopithecus und Homo habilis betrifft. Diesbezüglich erfahren wir (Hopp 2019):

Unter Fachleuten ist es Konsens, daß im Zeitraum von ca. 15 Mio. bis 7 Mio. Jahren vor unserer Zeit die Menschenaffen überall in Afrika, Asien und Europa verbreitet und weitaus artenreicher als heute waren. Danach verschwanden sie (vor allem durch Klimaveränderungen bedingt) vollständig aus Europa und bis auf die Vorfahren der Orang-Utans auch aus Asien. Es blieben die Populationen in Afrika, von deren Nachkommenschaft letztendlich die Gorillas, die Schimpansen (inklusive Bonobos) und die Menschen bis heute fortbestehen. 

Der Artenreichtum der Menschenaffen des Miozän

Zeugnisse für den Artenreichtum dieser Menschenaffen des Miozän sammeln sich immer mehr an. Eine neue Art wurde seit 2016 in einer Tongrube im Allgäu entdeckt, veröffentlicht im November 2019: "Danuvius guggenmosi" (Wiki, engl). Er weist neben ebenso "primitiven" Merkmalen wie bei den Menschenaffen auch anatomische Merkmale auf, die ihn näher zu den modernen Menschen rücken als alle übrigen Menschenaffen, und die hinwiederum - womöglich - auch die 6 Millionen Jahre alten Fußspuren auf Kreta plausibler machen können. Daß die heutigen Menschenaffen nicht - sozusagen - die direkten Vorfahren von uns Menschen oder auch der Australopithecinen sein können, dafür sammeln sich in der Wissenschaft immer mehr Zeugnisse an (Hopp 2019):

Bereits vor rund zehn Jahren legten mehrere anatomische Studien nahe, daß Gorilla und Schimpanse den vierbeinigen Knöchelgang unabhängig voneinander entwickelt haben und eine Kombination aus Klettern und zweibeinigem Gang die ursprüngliche Fortbewegungsweise der Menschenaffen sein dürfte. Genau für diese Hypothese haben wir mit Danuvius jetzt einen Beleg.

Abb. 2: Bonobo
Schimpansen, Orang-Utans und Gorillas, sie alle können sich zwar auch zweibeinig fortbewegen. Aber sie können das nur sehr unbeholfen. Sie scheinen von Menschenaffen-Arten abzustammen, deren aufrechte Körperhaltung schon sehr viel deutlicher ausgeprägt gewesen ist als sie bei ihnen, und die sich weniger unbeholfen auf zwei Beinen fortbewegt haben - sowohl in Bäumen wie auf dem Boden. Ihr Gehirngewicht wird nicht über dem der Schimpansen und Australopithecinen gelegen haben. Aber damit wird die lange Ahnenreihe der Australopithecinen, bzw. ihre lange Vorgeschichte innerhalb der tropischen Wälder Europas im Miozän nach und nach immer anschaulicher und eindrucksvoller.

Die berühmte, oft wiedergegebene Grafik mit der Menschenreihe, in der sich die Menschenaffen über die Vormenschen der Australopithecinen "hinauf" zu den Menschen allmählich aufrichten, ist vermutlich zu simpel gestrickt, wie die Entdeckerin des "Danuvius", Professor Madelaine Böhme (geb. 1967) (Wiki) von der Universität Tübingen, im November 2019 bei der Pressekonferenz auch gleich sehr deutlich gemacht hat. Evoluierten womöglich die Vorfahren der Australopithecinen in Europa, unter anderem auf Kreta?

Die Beinproportionen von Danuvius ähneln am ehesten derjenigen der Bonobos (Abb. 2).  Aber in anderen Merkmalen steht er noch fortgeschritteneren Menschenformen näher. So erläuterte Frau Böhme in der Pressekonferenz im November 2019 sehr eindrucksvoll.

Menschenaffen bewegen sich auf zwei Beinen nur vergleichsweise unbeholfen und mit O-Beinen. Für sie ist die Fortbewegung auf dem Boden auf vier Beinen und mit Knöchelgang gewöhnlicher. Es scheint so zu sein, daß für ihre Vorfahren im Allgäu vor 12 Millionen Jahren das aufrechte Gehen auch auf dem Boden deutlich gewöhnlicher war, auch wenn das Klettern in Bäumen ebenfalls zu ihrer Lebensweise gehörte. Schon vor 12 Millionen Jahren sind also unsere Vorfahren viel aufrechter gegangen als das von ihren Nachfahren, den Bonbobos, Schimpansen, Gorillas und Orang-Utan für sich genommen abzuleiten wäre. Zur Evolution des aufrechten Ganges, der "Bipedie" lesen wir auch (Wiki):

Menschenkinder durchlaufen eine frühkindliche Entwicklungsphase, in der sie sich mit den Händen festhalten, um den aufrechten Gang zu üben. Entsprechend der biogenetischen Grundregel dürften daher die Menschenvorfahren ein entsprechendes stammesgeschichtliches Entwicklungsstadium durchlaufen haben.

Und es ist nicht unmöglich, daß dieses Entwicklungsstadium in den tropischen Wäldern des Allgäu und anderwärts in Europa durchlaufen wurde und schließlich vor 6 Millionen Jahren in die Fußspuren auf Kreta mündete, von wo sich aus die weitere Entwicklung dann nach Afrika verlagert haben könnte.

Waren also der Alpen- und Mittelmeer-Raum (zusammen mit Nordafrika) womöglichdas evolutionäre Innovations-Zentrum nicht nur in der Zeit vor 12.000 Jahren - bei der Entstehung des Ackerbaus - nicht nur wie vor 200 bis 300 tausend Jahren - bei der Entstehung des anatomisch modernen Menschen - sondern auch vor 12 Millionen Jahren bei der Entwicklung des aufrechten Ganges? (Allerdings noch ohne Wölbfuß, der erst vor 2 Millionen Jahren entstand.)

Abb. 3: Tongrube Hammerschmiede bei Pforzen im Allgäu (Wiki)

Dieser These geht die deutsche Paläoontologin Madelaine Böhme nach und unterstellt auch, daß die teilweise Austrocknung des Mittlemeeres und die wechselnde Durchlässigkeit und Undurchlässigkeit der Sahara zu räumlichen Isolationen geführt haben könnten, die solche evolutiven Weiterentwicklungen erleichtert haben könnten.

Erst durch ein Interview mit Jonas Hopf sind wir hier auf dem Blog auf diese beeindruckende Wissenschaftlerin und ihre Forschungen gestoßen (Hopf 2021). Eine Dokumentation gibt einen Überblick über den Weg der Forschung, der zu ihren Erkenntnissen führte (Wiege der Menschheit 2021). Und das von ihr veröffentlichte Buch ("Wie wir Menschen wurden", 2019) dürfte sicherlich spannend zu lesen sein. Einfach weil hier ein von unbändiger Neugier getriebener Mensch kennengelernt werden darf.

Wenn man es recht versteht, hat Madelaine Böhme schon viele Jahre zur Paläontologie und zu den Klimaveränderungen im Miozän geforscht, bevor sie begann, sich mit Primaten in Europa im Miozän zu beschäftigen. Zuvor hatte sie sich so gut wie gar nicht mit Primaten beschäftigt, sondern mit der großen sonstigen Vielfalt an Säugetieren und anderen Tieren im Miozän. Und das scheint zu großen Teilen ihre persönliche Leistung zu sein, daß all diese Primaten-Funde im Allgäu zutage kamen, bzw. auch ein älterer Fund aus Athen in Griechenland neu bewertet werden konnten. Einfach weil sie von einem bestimmten Zeitpunkt an genauer hingeguckt hat und auch weil sie sehr methodisch vorgegangen ist, weil sie zum Beispiel ausgräbt "wie Archäologen" (und nicht wie Paläoontologen - so erzählt sie). Da findet man dann auch viel mehr.

Ergänzung [5.12.2021]: Der Tonfall in der Fachwelt gegenüber Madeleine Böhme kann ganz schön herablassend und abfällig sein wie man einer neuen Besprechung ihres inzwischen auf Englisch erschienenen Buches entnehmen kann (19). Man fragt sich, ob dieser Tonfall wirklich für nötig empfunden werden muß.

______________

  1. Madelaine Böhme, Paläoklimatologin, ARD-alpha, alpha-Forum, 26.07.2017, 43 Min (BR Mediathek)  
  2. Gerard D. Gierliński, Grzegorz Niedźwiedzki, Martin Lockley, Athanassios Athanassiou, Charalampos Fassoulas, Zofia Dubicka, Andrzej Boczarowski, Matthew R. Bennett, Per Erik Ahlberg: Possible hominin footprints from the late Miocene (c. 5.7 Ma) of Crete? In: Proceedings of the Geologists’ Association. Volume 128, Issues 5–6, October 2017, Pages 697-710, Online: 31.8.2017, https://doi.org/10.1016/j.pgeola.2017.07.006
  3. Gab es schon Vormenschen auf Kreta? 5,7 Millionen Jahre alte Fußspuren könnten von einem Menschenvorfahren stammen, 4.9.2017, https://www.scinexx.de/news/geowissen/gab-es-schon-vormenschen-auf-kreta/
  4. Madelaine Böhme, Nikolai Spassov, Jochen Fuss, Adrian Tröscher, Andrew S. Deane, Jérôme Prieto, Uwe Kirscher, Thomas Lechner & David R. Begun: A new Miocene ape and locomotion in the ancestor of great apes and humans. In: Nature, 6. November 2019, doi:10.1038/s41586-019-1731-0
  5. Tracy L. Kivell: Fossil ape hints at how walking on two feet evolved. In: Nature. Online-Vorabveröffentlichung vom 6. November 2019, doi:10.1038/d41586-019-03347-0 (pdf)
  6. Pressekonferenz mit Madelaine Böhme, Tübingen, 7.11.2019, https://youtu.be/qlFqgBq23PQ
  7. Science Talk mit Prof. Dr. Madelaine Böhme, 6.11.2019, https://youtu.be/v9SDK0OM7OQ
  8. Madelaine Böhme, Rüdiger Braun, Florian Beier: Wie wir Menschen wurden: Eine kriminalistische Spurensuche nach den Ursprüngen der Menschheit - Spektakuläre Funde im Alpenraum. Heyne Verlag (11. November 2019) 
  9. Dominic Hopp: Der Fall Danuvius guggenmosi: Muß die Menschheitsgeschichte umgeschrieben werden? 2011, Auf: https://www.ag-evolutionsbiologie.net/html/2019/Danuvius-guggenmosi.html
  10. Thamm, Andreas: Ich tue, was ich tun muß - Madelaine Böhme, TAZ, 14.12.2019, https://taz.de/Palaeontologin-Madeleine-Boehme/!5646000/ 
  11. Madelaine Böhme bei SWR1 Leute, 27.12.2021, https://youtu.be/iHbJrkoi5cc
  12. Die Wiege der Menschheit - Stammt der Mensch aus Afrika oder aus Europa? Einstein - SRF Wissen, 3.5.2021, https://youtu.be/Vm6J7EAjNlY
  13. Jonas Hopf: Interview mit Madelaine Böhme, 5.8.2021, https://youtu.be/JZhWAOPWFwA
  14. Kritik - und Antwort von Madelaine Böhme, 2020, https://www.nature.com/articles/s41586-020-2736-4.epdf
  15. 2020, https://www.zeit.de/2020/41/menschenaffe-udo-aufrechter-gang-forschung-streit?
  16. Kelley, Jay: Besprechung von Madeleine Böhme's et. al. "Ancient Bones. Unearthing the astonishing new story of how we became human" (2020, Deutsch 2019). In: The Quarterly Review of Biology 2021 96:3, 223-223, https://www.journals.uchicago.edu/doi/abs/10.1086/716131
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