Die neue, inflationäre Verwendung des Begriffes "Frühkindliche Bildung", bezogen auf Kinder unter drei Jahren, macht mehr als je bewußt, wie weit wir uns von seelenvolleren Zeitaltern der abendländischen Geschichte entfernt haben.
Die abendländische Kulturgeschichte kann zurückblicken auf eine lange, intensive gedankliche und emotionale Auseinandersetzung mit dem Phänomen Kindheit, mit dem, was eigentlich das Wesen, der Sinn dieser Lebensphase ist, dieser frühesten Lebensjahre. Warum gibt es eigentlich eine so "unnütze" Lebensphase, in der der Mensch so hilflos ist? Der Mensch kommt ja hilfloser auf die Welt als ein großer Teil der anderen Säugetiere - die sogleich als "Nestflüchter" laufen können. Warum eigentlich? Warum ist der Mensch ein "Nesthocker"?
Der Biologe Adolf Portmann ist diesen Fragen in immer neuen Ansätzen in seiner Forschung nachgegangen. Gerade das erste Lebensjahr des Menschen ist es, daß ihn schon gleich am stärksten - und nicht am geringsten - von den Primaten und den anderen Säugetieren unterscheidet. Die Evolution dieses ersten, "extrauterinen Frühjahrs" ist also mit der Evolution des Menschen an sich verwoben, ist eines der tieferen Wesensbestandteile dessen, was Mensch ausmacht, ist Teil seines Humanums.
Vielleicht war es kein anderer als Friedrich Hölderlin, der das, was das Wesen der Kindheit ausmacht, in seinen Worten schon am Tiefsten erfaßt hat, und der unserer verwirrten Zeit auch auf diesem Gebiet zu neuem Nachdenken veranlassen könnte, ihr wieder neuen Maßstab und Richtung geben könnte. Er war Philosoph - der Münchner Philosoph Dieter Henrich und andere haben die grundlegende Bedeutung des Hölderlin'schen Philosophierens für die Philosophiegeschichte des Abendlandes herausgearbeitet -, mehr aber noch, er war Dichter. Und es gibt wohl wenige Dichter oder Denker seines Ranges, die sich - immer wieder von Neuem - in das Wesen des Kindseins so tief hineingesonnen haben.
Für ihn gibt es nicht nur eine Kindheit im individuellen Leben, sondern auch im Leben von Gesellschaften, von Völkern - und er bezieht beide Formen der Kindheit eng aufeinander. Ich möchte hier einige Zitate bringen - ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit. Sicherlich gibt es fachwissenschaftliche und umfassende Studien darüber, wie Hölderlin über Kinder und Kindheit gedacht hat. Diese sollten nicht im Elfenbeinturm der Wissenschaft verschimmeln, sondern die Gegenwart befruchten. Vielleicht kann dieser Beitrag dazu anregen, indem einfach einige "Lesefrüchte" gebracht werden. (Hervorhebungen durch mich, I.B.)
Friedrich Hölderlin über Kindheit
Lasst von der Wiege an den Menschen ungestört! treibt aus der engvereinten Knospe seines Wesens, treibt aus dem Hüttchen seiner Kindheit ihn nicht heraus! tut nicht zu wenig, daß er euch nicht entbehre und so von ihm euch unterscheide, tut nicht zu viel, daß er eure oder seine Gewalt nicht fühle, und so von ihm euch unterscheide, kurz, laßt den Menschen spät erst wissen, daß es Menschen, daß es irgend etwas außer ihm gibt, denn so nur wird er Mensch. Der Mensch ist aber ein Gott, so bald er Mensch ist. Und ist er ein Gott, so ist er schön.
Vollendete Natur muß in dem Menschenkinde leben, eh' es in die Schule geht, damit das Bild der Kindheit ihm die Rükkehr zeige aus der Schule zu vollendeter Natur.
Denn wer nicht einmal ein vollkommenes Kind war, der wird schwerlich ein vollkommener Mann.
(Hyperion, Erster Band, Zweites Buch)
Ruhe der Kindheit! himmlische Ruhe! wie oft steh ich stille vor dir in liebender Betrachtung, und möchte dich denken! Aber wir haben ja nur Begriffe von dem, was einmal schlecht gewesen und wieder gut gemacht ist; von Kindheit, Unschuld haben wir keine Begriffe.
Da ich noch ein stilles Kind war und von dem allem, was uns umgibt, nichts wußte, war ich da nicht mehr, als jetzt, nach all den Mühen des Herzens und all dem Sinnen und Ringen?
Ja! ein göttlich Wesen ist das Kind, solang es nicht in die Chamäleonsfarbe der Menschen getaucht ist.
Es ist ganz, was es ist, und darum ist es so schön.
Der Zwang des Gesetzes und des Schicksals betastet es nicht; im Kind ist Freiheit allein.
In ihm ist Frieden; es ist noch mit sich selber nicht zerfallen. Reichtum ist in ihm; es kennt sein Herz, die Dürftigkeit des Lebens nicht. Es ist unsterblich, denn es weiß vom Tode nichts.
Aber das können die Menschen nicht leiden. Das Göttliche muß werden, wie ihrer einer, muß erfahren, daß sie auch da sind, und eh es die Natur aus seinem Paradiese treibt, so schmeicheln und schleppen die Menschen es heraus, auf das Feld des Fluchs, daß es, wie sie, im Schweiße des Angesichts sich abarbeite.
(Hyperion, Erster Band, Erstes Buch)
Den modernen Barbaren, die kleine Kinder in die "Chamäleonsfarbe der Menschen" tauchen und den lächerlichen Glauben besitzen, sie könnten den Kinder etwas geben - frühkindliche "Bildung" - und nicht viel mehr nur allein immer nur wieder die Kinder ihnen etwas - - - ihnen muß all dies natürlich ins Stammbuch geschrieben werden - es muß ihnen natürlich noch so vieles andere ins Stammbuch geschrieben werden. Die Art, wie ich mit Kindern umgehe, sagt viel, wenn nicht alles über mein Menschsein aus.
Heutige Diskussionen um dieses Thema muten mir an wie - ja, wie: der tiefste Rückfall in die Barbarei. Aber so etwas geschieht natürlich immer dann am besten, wenn man dabei nicht das geringste schlechteste Gewissen hat. Und das kann man am wenigsten haben, wenn man möglichst wenig weiß und möglichst viel ignoriert.
Die abendländische Kulturgeschichte kann zurückblicken auf eine lange, intensive gedankliche und emotionale Auseinandersetzung mit dem Phänomen Kindheit, mit dem, was eigentlich das Wesen, der Sinn dieser Lebensphase ist, dieser frühesten Lebensjahre. Warum gibt es eigentlich eine so "unnütze" Lebensphase, in der der Mensch so hilflos ist? Der Mensch kommt ja hilfloser auf die Welt als ein großer Teil der anderen Säugetiere - die sogleich als "Nestflüchter" laufen können. Warum eigentlich? Warum ist der Mensch ein "Nesthocker"?
Der Biologe Adolf Portmann ist diesen Fragen in immer neuen Ansätzen in seiner Forschung nachgegangen. Gerade das erste Lebensjahr des Menschen ist es, daß ihn schon gleich am stärksten - und nicht am geringsten - von den Primaten und den anderen Säugetieren unterscheidet. Die Evolution dieses ersten, "extrauterinen Frühjahrs" ist also mit der Evolution des Menschen an sich verwoben, ist eines der tieferen Wesensbestandteile dessen, was Mensch ausmacht, ist Teil seines Humanums.
Vielleicht war es kein anderer als Friedrich Hölderlin, der das, was das Wesen der Kindheit ausmacht, in seinen Worten schon am Tiefsten erfaßt hat, und der unserer verwirrten Zeit auch auf diesem Gebiet zu neuem Nachdenken veranlassen könnte, ihr wieder neuen Maßstab und Richtung geben könnte. Er war Philosoph - der Münchner Philosoph Dieter Henrich und andere haben die grundlegende Bedeutung des Hölderlin'schen Philosophierens für die Philosophiegeschichte des Abendlandes herausgearbeitet -, mehr aber noch, er war Dichter. Und es gibt wohl wenige Dichter oder Denker seines Ranges, die sich - immer wieder von Neuem - in das Wesen des Kindseins so tief hineingesonnen haben.
Für ihn gibt es nicht nur eine Kindheit im individuellen Leben, sondern auch im Leben von Gesellschaften, von Völkern - und er bezieht beide Formen der Kindheit eng aufeinander. Ich möchte hier einige Zitate bringen - ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit. Sicherlich gibt es fachwissenschaftliche und umfassende Studien darüber, wie Hölderlin über Kinder und Kindheit gedacht hat. Diese sollten nicht im Elfenbeinturm der Wissenschaft verschimmeln, sondern die Gegenwart befruchten. Vielleicht kann dieser Beitrag dazu anregen, indem einfach einige "Lesefrüchte" gebracht werden. (Hervorhebungen durch mich, I.B.)
Friedrich Hölderlin über Kindheit
Lasst von der Wiege an den Menschen ungestört! treibt aus der engvereinten Knospe seines Wesens, treibt aus dem Hüttchen seiner Kindheit ihn nicht heraus! tut nicht zu wenig, daß er euch nicht entbehre und so von ihm euch unterscheide, tut nicht zu viel, daß er eure oder seine Gewalt nicht fühle, und so von ihm euch unterscheide, kurz, laßt den Menschen spät erst wissen, daß es Menschen, daß es irgend etwas außer ihm gibt, denn so nur wird er Mensch. Der Mensch ist aber ein Gott, so bald er Mensch ist. Und ist er ein Gott, so ist er schön.
Vollendete Natur muß in dem Menschenkinde leben, eh' es in die Schule geht, damit das Bild der Kindheit ihm die Rükkehr zeige aus der Schule zu vollendeter Natur.
Denn wer nicht einmal ein vollkommenes Kind war, der wird schwerlich ein vollkommener Mann.
(Hyperion, Erster Band, Zweites Buch)
Ruhe der Kindheit! himmlische Ruhe! wie oft steh ich stille vor dir in liebender Betrachtung, und möchte dich denken! Aber wir haben ja nur Begriffe von dem, was einmal schlecht gewesen und wieder gut gemacht ist; von Kindheit, Unschuld haben wir keine Begriffe.
Da ich noch ein stilles Kind war und von dem allem, was uns umgibt, nichts wußte, war ich da nicht mehr, als jetzt, nach all den Mühen des Herzens und all dem Sinnen und Ringen?
Ja! ein göttlich Wesen ist das Kind, solang es nicht in die Chamäleonsfarbe der Menschen getaucht ist.
Es ist ganz, was es ist, und darum ist es so schön.
Der Zwang des Gesetzes und des Schicksals betastet es nicht; im Kind ist Freiheit allein.
In ihm ist Frieden; es ist noch mit sich selber nicht zerfallen. Reichtum ist in ihm; es kennt sein Herz, die Dürftigkeit des Lebens nicht. Es ist unsterblich, denn es weiß vom Tode nichts.
Aber das können die Menschen nicht leiden. Das Göttliche muß werden, wie ihrer einer, muß erfahren, daß sie auch da sind, und eh es die Natur aus seinem Paradiese treibt, so schmeicheln und schleppen die Menschen es heraus, auf das Feld des Fluchs, daß es, wie sie, im Schweiße des Angesichts sich abarbeite.
(Hyperion, Erster Band, Erstes Buch)
Den modernen Barbaren, die kleine Kinder in die "Chamäleonsfarbe der Menschen" tauchen und den lächerlichen Glauben besitzen, sie könnten den Kinder etwas geben - frühkindliche "Bildung" - und nicht viel mehr nur allein immer nur wieder die Kinder ihnen etwas - - - ihnen muß all dies natürlich ins Stammbuch geschrieben werden - es muß ihnen natürlich noch so vieles andere ins Stammbuch geschrieben werden. Die Art, wie ich mit Kindern umgehe, sagt viel, wenn nicht alles über mein Menschsein aus.
Heutige Diskussionen um dieses Thema muten mir an wie - ja, wie: der tiefste Rückfall in die Barbarei. Aber so etwas geschieht natürlich immer dann am besten, wenn man dabei nicht das geringste schlechteste Gewissen hat. Und das kann man am wenigsten haben, wenn man möglichst wenig weiß und möglichst viel ignoriert.
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