Donnerstag, 31. Mai 2007

Charles Lindbergh ist souverän gestorben

Charles Lindbergh, der berühmte Erst-Überflieger des Atlantischen Ozeans, ist souverän gestorben. Eher durch Zufall ist man an eine Biographie über diesen Amerikaner geraten (1). Ein aufregendes Leben (1902 - 1974). Abbruch des Studiums, Kunst-, Post- und Militärflieger, schließlich die bis zu jenem Zeitpunkt in der Geschichte nie dagewesene Popularität eines einzelnen, ganz bescheidenen, jungen Menschen aufgrund der Atlantik-Überquerung im Jahr 1927.

Seine Ehe mit der Schriftstellerin Anne Morrow Lindbergh. Die Entführung und Ermordung ihres ersten Baby's. Die weiteren sechs Kinder. Das geradezu zwanghafte, ständige "Unterwegs-Sein" in der ganzen Welt. Die Kontakte zur Wissenschaft, zur Technik, zur Politik, auch zum nationalsozialistischen Deutschland. Schließlich der führende Kopf des Widerstandes gegen den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg (1939 - 1941) ("America First"). Viele halten ihn für einen geeigneten Präsidentschafts-Kandidaten. Doch seine Niederlage in dieser Auseinandersetzung prägt das geschichtliche Urteil über ihn bis heute: "Defaitist, "Nazi", "Antisemit".

Schließlich aktiver Militärflieger im Krieg gegen Japan. Im Alter noch einmal zusammen mit seinen Kindern aktive Teilnahme an der Umweltschutzbewegung. Alle diese "Stationen meines Lebens" (so der deutsche Titel seiner Lebenserinnerungen) sind aufregend genug von einem in seiner Jugend äußerlich so schlacksig daher kommenden, jungenhaft wirkenden Amerikaner, der vom Typ her äußerlich zumeist sehr "easy-going" wirkt.

Aber was auch immer sonst an seinem Leben bestaunens- oder beklagenswert sein mag, sein Tod war außerordentlich souverän (1, S. 504-516). Am 24. Juli 1974 sagen die Ärzte dem krebskranken Lindbergh in einem Krankenhaus in New York, nachdem eine Chemotherapie nicht durchgeschlagen ist, dass sie ihm "keine Hoffnung auf Genesung" mehr machen können.
Sie wollten die Chemotherapie intensivieren, gaben ihm aber nur noch ein paar Wochen. Lindbergh, der den Tod noch weit von sich wies, stellte alle möglichen medizinischen Fragen. "Es ist als ob das Feuer der Krankheit in ihm wütet und ihn verschlingt," versicherte Anne (...) (seine Frau). "Er hatte immer ein feuriges Wesen, und so passt es irgendwie zu ihm."
Seine Kinder versammeln sich um ihn, kommen aus aller Welt angereist. Auch der jüngste Sohn, mit dem er bis dahin über viele Jahre hin in erbittertem Streit gelebt hatte. Lindbergh trifft letzte Absprachen über seine unveröffentlichten Lebenserinnerungen ("Autobiography of Values"). Er geht sein Testament noch einmal durch. Und er setzt überall zwischen die Namen seiner Kinder nun auch noch den Namen seines jüngsten Sohnes.

Zu Hause sterben
Ein wenig später erschreckte er alle Anwesenden mit einer unerwarteten Forderung. "Ich will heim", sagte er zu Anne, "nach Maui."
Er will nicht im Krankenhaus sterben, sondern auf Hawaii. Dies ist einer seiner letzten Wohn- und Lebensorte. Alle Ärzte raten ab. Alles wird immer wieder neu erwogen. Alles zögert. Schließlich wird der Hausarzt in Hawaii Dr. Milton Howell angerufen und Lindbergh erklärt ihm:
"Milton, ich habe hier elf Ärzte ... und sie sagen, sie können mir nicht mehr helfen. Ich habe noch acht bis zehn Tage, und ich will zum Sterben nach Hause. Lieber lebe ich noch zwei Tage in Maui als zwei Monate in diesem Krankenhaus in New York."
Obwohl alle die Köpfe schütteln, besorgt sind, ob er überhaupt noch den Flug überlebt, setzt er es durch.
Die Ärzte warfen dem Patienten vor, er wolle nichts mehr von der Medizin wissen. Lindbergh erwiderte, die Medizin habe getan, was sie tun konnte, das Problem sei nun nicht mehr medizinischer, sondern philosophischer Natur.
In erster Reaktion muss man als Leser geradezu schmunzeln darüber, was da in New Yorker Krankenhäusern im Jahr 1973 alles so "debattiert" worden ist. Auch bei vielem, was nun folgt. Aber es wird spürbar, dass hinter all dem mehr steckt. Es klingt schon in diesem schlichten Satz an, dass und wie ernst Charles Lindbergh über den Tod an sich dachte. Dass es Lindbergh ernst ist, wird auch an kleinen Details erkennbar:
Ein junger Arzt untersuchte Lindbergh flüchtig - nach der Landung in Honolulu - und sagte fröhlich, er werde im Handumdrehen wieder gesund sein. Obwohl der junge Mann es gut gemeint hatte, ärgerte sich Lindbergh über seine törichte Bemerkung und schimpfte ihn aus.
Zu Milton Howell sagte er schließlich zur Begrüßung:
"Ich weiß, dass ich sterben muss ... Ich weiß, dass ich nur noch wenig Zeit habe. Ich will nichts Unnötiges. Ich will keine großen Worte." Er bat Howell, ihm dabei zu helfen, seinen Tod "konstruktiv zu gestalten".
Lindbergh's ganze Familie ist schließlich in dem Landhaus über dem Meer auf Hawaii versammelt. Alles ist geheim. Denn sonst wäre die Ruhe vor der Weltpresse dahin.
Lindbergh begann diese Reise wie alle anderen mit Checklisten. Meist widmete er morgens, wenn er sich relativ stark fühlte, alle Kraft den letzten Vorbereitungen und gab genau an, wie er jeden Schritt seines Abschieds ausgeführt haben wollte. "Dermaßen detailliert," schrieb Jon (ein Sohn) in ein Tagebuch, "dass wir anderen alle entsetzt sind. Wie spricht man über solche Dinge mit jemandem, der einem so nahesteht, und der sterben muß. Es mag ganz vernünftig sein, aber man muß sich erst daran gewöhnen ... Er betrachtet den Tod als ein letztes Abenteuer und stürzt sich mit aller Kraft auf seine Vorbereitung."
"Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer ..."

Jede Einzelheit wird durchgegangen. Das Grab, dessen Ort er sich schon früher ausgesucht hatte, soll jetzt schon ausgehoben werden. Dies tun seine Söhne. Die Entwässerung des Grabes wird sachlich durchdiskutiert. Das Holz des Sarges - "sägerauh", "einheimisch", "zolldicke Bretter" - ohne alle Schnörkel. Lindbergh legt Wert auf die Auskleidung des Sarges mit "biologisch abbaubaren Materialien". Noch nicht einmal eine metallene Gürtelschnalle will er an der Hose haben. Alle Einzelheit des Grabsteines und seiner Inschrift werden festgelegt. Ein Psalm aus der Bibel soll darauf stehen:
"Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer ..."
(Die nicht eingemeißelte Fortsetzung dieser Zeilen lautet: "... so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.")
Als nächstes wandten sie ihre Aufmerksamkeit der Begräbniszeremonie zu. Lindbergh wollte vor der Beerdigung einen kurzen Gottesdienst, am Grab ein Gebet und ein geistliches Lied, und einen oder zwei Tage später einen nur wenig längeren Gedenkgottesdienst. Er verbat sich jegliche Lobreden. Statt dessen wollte er mehrere Textstellen der unterschiedlichsten Denker vorlesen lassen als sichtbares Zeichen seiner Überzeugung, dass keine Kultur oder Religion ein Monopol auf die Wahrheit habe. Anne legte ihm eine Reihe von Texten vor, aus denen er Jesajas, Bernhard von Clairvaux, Gandhi, Augustinus, die Mundaka-Upanischaden und ein Navajo-Gebet auswählte. Anne schlug ihrem Mann auch mehrere Lieder vor. Als sie ihm eins vor sang, das sie für geeignet hielt, schüttelte Charles den Kopf und sagte, das sei nicht gut. "Aber die Melodie ist von Bach", erwiderte Anne, "etwas Besseres gibt es nicht." - "Die Musik ist in Ordnung", erwiderte Charles, "aber die Worte sind kitschig." Anne überlegte, was sich da machen ließ, aber er löste das Problem: "Wir nehmen einfach hawaiische Lieder," sagte er, "da versteht keiner, was es heißt."
 Lindbergh bittet auch den Arzt, die Familie vor der Weltpresse zu vertreten:
"Dann hätte ich gern, dass sie ihre Fragen beantworten. Ich wünsche mir, dass dabei eine gewisse Würde bewahrt bleibt, was Sie gewiss gut können."
"Der Tod ist gleich hier, neben dir."
Stundenlang saß zumindest ein Familienmitglied bei Lindbergh, wenn er zwischen seinen Nickerchen oder am Abend seinen Erinnerungen nach hing - an seine Mutter, an "Brother", an die frühen Tage der Luftfahrt, an den Krieg. Auch "America First" war ihm noch gegenwärtig, und eines Tages sagte er zu Land (einem Sohn): "Lass nicht zu, dass deine Mutter mich großartig verteidigt." Jeden Abend musste man ihm berichten, wie weit sein Grab war. Eines abends fragte Anne Charles im Kreise der Söhne, ob er beschreiben wolle, wie er sich fühle, denn, so sagte sie, "du erlebst jetzt etwas, was wir alle einmal durchmachen müssen". Er antwortete, er habe bisher nicht erkannt, dass "der Tod ständig so nahe ist - er ist gleich hier, neben dir", und er fühle sich dabei völlig "entspannt". "Für euch, die ihr zuschaut, ist es schwerer als für mich", fügte er hinzu.
Am 25. August war das Grab fertig. Als Lindbergh am Abend ein Ventil für seine bereitliegende Sauerstoffmaske verstellen wollte,
damit er mehr Luft bekam, fiel sein Arm herab und er versank ins Koma. Anne, Land und eine Krankenschwester blieben die ganze Nacht hindurch bei ihm, und seine Frau hielt seine Hand. Am nächsten Morgen, Montag, den 26. August, schien Lindbergh friedlich da zu liegen. Nach einem zeitigen Frühstück gingen Anne und Land ins Schlafzimmer; da atmete er kaum noch. (...) Mehr als zehn Minuten saßen sie da, und es wurde immer stiller im Zimmer. "Und dann", erinnerte sich Land, "ging er einfach."
Stillschweigend verließen alle den Raum und ließen Anne mit Charles allein. Sie küsste ihn ein letztes Mal. Gern wäre sie noch länger mit ihm allein geblieben. - - - Seine Lebenserinnerungen "Stationen meines Lebens" erschienen 1978. Sie endeten mit den Worten:
"Nach meinem Tod kehren die Moleküle, aus denen ich bestanden habe, zur Erde und zum Himmel zurück. Sie kamen von den Sternen. Ich stamme von den Sternen."
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  1. Berg, A. Scott: Charles Lindbergh. Karl Blessing Verlag, München 1999

Mittwoch, 30. Mai 2007

Ein deutscher Sozialreformer unter Konrad Adenauer - Gerhard Mackenroth (1903 - 1955) und die deutsche Bevölkerungssoziologie - Teil II

Zweiter Beitrag der Reihe "Warum Erziehungsgehalt?"

Es geht in dem "Mackenroth-Plan" von 1952 (Stud. gen.) um die Erwirtschaftung und Verteilung der "Soziallasten", es geht um Kindergeld, Erziehungsgeld, Ausbildungsförderung, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Krankengeld, Pflegegeld, Renten und Hinterbliebenen-Renten. Es geht um Steuern und Sozialabgaben. Und dabei geht es vor allem um eine sozial gerechte Verteilung all dieser Dinge zwischen Kinderlosen, kinderarmen und kinderreichen Familien. Noch heute gibt es auf all diesen Gebieten wenig "Übersichtlichkeit", 1952, kurz nach dem Krieg, nach Flucht und Vertreibung, nach Verwitwung, Verarmung und Hilfebedürftigkeit von Millionen Menschen herrschte auf diesem Gebiet aber noch eine viel größere Unübersichtlichkeit, die geradezu zwangsläufig nach großen Reformen rief.

"Eine Rangliste der sozialen Ansprüche"

Und Mackenroth war der Mann, der solche Reformen auch gleich wirklich zu Ende dachte. Er trifft zunächst eine sehr wichtige Unterscheidung. Er fordert, daß eine
"Rangliste der sozialen Ansprüche an das Volkseinkommen"
aufgestellt werden müsse. Und diese solle nicht "von Tag zu Tag" je nach den verfügbaren Mitteln geordnet und neu geordnet werden, sondern ganz unabhängig vom täglich erwirtschafteten Volkseinkommen aufgestellt sein und bleiben. Es geht ihm also um neutrale Objektivität in der Sozialpolitik und darum, von vornherein möglichst viele, sich einschleichende Egoismen aller Art auszuschließen. Er sagt ganz unmißverständlich:
"Die Rangordnung der sozialen Ansprüche (...) hat mit der jeweiligen wirtschaftlichen Lage der betreffenden Volkswirtschaft nichts zu tun. Sie ergibt sich in einem innerlich gefestigten Gemeinwesen aus den Forderungen des sozialen Gewissens und der Einheit des ethischen Bewußtseins. Wo in einer sich desintegrierenden Gesellschaft diese Werte zerfallen, ergibt sie sich allein aus den politischen Machtpositionen der Interessengruppen, und die Gefahr aller demokratischen Gemeinwesen, in denen der Nichtbesitzende politische Macht übt, besteht darin, daß sich die zufällig an der Macht befindlichen Interessentengruppen große Beträge aus dem Staatssäckel bewilligen oder bewilligen lassen, während andere leer ausgehen, die sie dringender brauchen." (4, S. 48)
Gerhard Mackenroth spricht hier auf den ersten Blick fast selbstverständliche Prinzipien aus. Wendet man sie aber direkt und konsequent auf die Wirklichkeit an - und wozu werden solche Prinzipien denn sonst ausgesprochen? -, stellen sich - zumindest heute - geradezu haufenweise "Unmöglichkeiten" ein. Und weitergehend erläutert er diesen seinen Grundgedanken:
"Interessentenorganisationen sollen und müssen sein, nur muß es darüber noch eine höhere Instanz geben, die sie in ihre Grenzen und Schranken verweist und sie miteinander koordiniert und schließlich auch die zum Zuge kommen läßt, die durch Interessentenorganisationen noch nicht vertreten sind. Ich kenne noch keine Vertretung der ungeborenen Säuglinge und kann mir eine solche auch schlecht vorstellen. In Amerika hat es freilich einmal eine Organisation gegeben, der 'Veterans of future wars', aber das war ein Studentenulk und keine politische Wirklichkeit." (4, S. 48f)
"Nur Bagatellen im Vergleich zu einem neuen Krieg" (Exkurs)

Beißende Polemik. Mackenroth lebte, das sollte man sich an dieser Stelle ins Bewußtsein rufen, in der Zeit der "Wiederbewaffnung". Dazu erfahren wir an etwas späterer Stelle:
"Ich ergebe mich auch nicht der Schwarzmalerei: Wenn wir unsere Sozialpolitik nicht reformieren, sondern weiterwursteln, brechen wir auch nicht gleich zusammen. Solange wir mit Erfolg den nächsten Krieg vermeiden, können wir uns eine Menge Unproduktivitäten und Irrationalitäten gestatten. Im Vergleich mit einem neuen Krieg sind es alles nur Bagatellen. Im Gegenteil: Gerade weil heute vielleicht im Beginn einer partiellen Boomperiode die Dinge nicht so drängend sind, haben wir endlich einmal eine Atempause, um solide Arbeit auf lange Sicht zu leisten. Diese Chance sollten wir ergreifen. Wer weiß, wie schnell sie verspielt sein kann." (4, S. 72)
- Das war 1952. Ob man diese Atempause bis heute ausreichend genutzt hat? Oder ob nicht schon längst allerhand - - -"verspielt" ist?

Und auch wie er den Begriff "Atempause" versteht, erläutert er, indem er von "schnellen Sensationserfolgen" spricht, die wenig später "gleich wieder abgeschafft" wurden, wobei er auf die deutsche Politik der drei zurückliegenden Jahrzehnte Bezug nimmt:
"Wir müssen einmal wieder zur guten alten Praxis zurückkehren, eine gesetzgeberische Maßnahme wirklich von langer Hand vorzubereiten, wie es in Deutschland im alten Staate war und wie es auch heute die Praxis in jeder guten und solide arbeitenden Demokratie ist." "Es sitzt uns allen noch vom Kriege her die hektische Ungeduld im Genick, als könnten wir morgen damit zu spät kommen." (4, S. 72)
Dann aber spricht Mackenroth einen Gedanken aus, der noch heute nicht vollständig das öffentliche und politische Bewußtsein durchdrungen hat, denn auch heute noch denkt man in den Prinzipien, daß man sich durch "Sparen", Geldeinzahlen in Fonds, Versicherungen jene "Reserven" "ansparen" würde, die man dann bei Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Alter gerechterweise aufbrauchen könne. Ein solches Denken war - folgen wir Mackenroth - schon im Jahr 1952 völlig veraltet. Ganz besonders merkwürdig aus dieser Sicht, daß es noch im Jahr 2007 so allseits vorherrschend ist.

Gesellschaften haben noch niemals "Vorratswirtschaft" betrieben, die nicht aus Kindern bestand - und werden es auch niemals können

Mackenroth:
"Nun gilt der einfache und klare Satz, daß aller Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden muß. Es gibt gar keine andere Quelle und hat nie eine andere Quelle gegeben, aus der Sozialaufwand fließen könnte, es gibt keine Ansammlung von Fonds, keine Übertragung von Einkommensteilen von Periode zu Periode, kein 'Sparen' im privatwirtschaftlichen Sinne -, es gibt einfach gar nichts anderes als das laufende Volkseinkommen als Quelle für den Sozialaufwnad. Das ist auch nicht eine besondere Tücke oder Ungunst unserer Zeit, die von der Hand in den Mund lebt, sondern das ist immer so gewesen und kann nie anders sein. Ich darf dabei wohl absehen von den Fällen einer vorindustriellen Naturalwirtschaft, wo man Sozialpolitik treibt durch Anlage von Getreidemagazinen u.a.." (4, S. 45)
Und Mackenroth präzisiert in verschärfter Weise:
"Es gibt volkswirtschaftlich gesehen keine Möglichkeit einer Versicherung gegen irgendwelche sozialen Risiken, nicht einmal gegen die mit Sicherheit eintretenden Ereignisse wie Alter und Invalidität, ganz abgesehen von einem so allgemeinen in seiner Versicherungsfähigkeit angezweifelten Risiko wie der Arbeitslosigkeit. (...) Die volkswirtschaftliche Problematik läßt sich nicht dadurch lösen oder beiseite schieben, daß man nach den Grundsätzen eines ordentlichen Kaufmanns private Risiken versichert. (...) Das Versicherungsprinzip ist geeignet, den einzelnen zu sichern gegen die Abweichung seines Falles von der sozialen Norm, es kann aber nicht die Volkswirtschaft sichern gegen eine Änderung der sozialen Norm, gegen eine soziale Katastrophe." (4, S. 45f)

"Diese Tatsache bezeichne ich hier und anderswo als das Prinzip der Einheit des Sozialbudgets: Es gibt nur eine Quelle allen Sozialaufwandes, das laufende Volkseinkommen." (4, S. 47)
Natürlich beginnt sich dieser Gedanke in Zeiten der zahlenmäßig abnehmenden Nachkommenzahlen und in Zeiten, wo man absehen kann, wozu "Versicherungs-Einzahlungen" der Vergangenheit gut waren, wenn künftig keine Menschen mehr da sind, die die Rückzahlungen der Einzahlungen erwirtschaften, allmählich, langsam, langsam durchzusetzen. Dazu ist aber zu sagen:

1. Es wäre wohl besser gewesen, wenn sich diese Erkenntnisse schon Jahrzehnte früher "langsam, langsam" durchgesetzt hätten. Hier haben vielleicht inzwischen schon abgetretene Generationen auf Kosten der gegenwärtigen und künftigen Generationen gelebt.
2. Noch heute könnte man es also für notwendig halten, daß viel zur Beschleunigung der Durchsetzung solcher Einsicht getan wird.

Die heute noch geradezu revolutionären Kernteile des Mackenroth-Planes aber befinden sich dann in dem Abschnitt "Sozialpolitik und Familie". Es sollen hier die wichtigsten Passagen gebracht werden.

"Die sozialpolitische Großaufgabe des 20. Jahrhunderts:
Familienlastenausgleich"


"... Ich greife nur eine Aufgabe heraus, die uns noch bevorsteht, und die mir besonders am Herzen liegt: an Stelle einer Klasse muß heute Objekt der Sozialpolitik die Familie werden, und zwar quer durch alle Klassen und Schichten, es gibt da überhaupt keine Unterschiede mehr." (4, S. 60)
Das ist lange vor 1968 gesprochen worden. Und dabei ist Mackenroth keineswegs einem veralteten Familienbild verhaftet. Er sagt zum Beispiel, man bedenke, schon im Jahr 1952:
"Wir können nicht einen widerstrebenden jugendlichen Arbeitslosen in eine ebenso widerstrebende Familie hineinzwingen und ihn damit der patria potestas" (der väterlichen [Erziehungs-]Gewalt) "ausliefern. Solche Holzhammermethoden würden mehr zerstören als erhalten. Die patriarchalische Familie ist im Abbau und kann nicht über die Sozialpolitik konserviert werden. Die Familie der industriellen Gesellschaft ist ein ganz anders konstruiertes Gebilde und in der Beziehung zwischen den Erwachsenen viel lockerer, sie gewinnt aber gerade bei dieser äußerlich gelockerten Beziehung eine eigentümliche innere Festigkeit.
Dennoch bedarf sie der Stützung durch die Sozialpolitik, besonders was die Stellung der Kinder angeht, und hier beginnt die zweite Schicht der Sozialpolitik und setzt ihre aktive Aufgabe ein. In der alten bäuerlichen Wirtschaft und im Frühkapitalismus mit seiner Kinderarbeit waren Kinder von früher Jugend an Miterwerber im Rahmen des Familieneinkommens. In der bäuerlichen, besonders in der kleinbürgerlichen Wirtschaft sind sie gelegentlich heute noch willkommene Arbeitskräfte. In der Arbeiter- und Angestelltenfamilie der heutigen industriellen Gesellschaft sind Kinder - um es auf eine einfache Formel zu bringen - zu reinen Kostenelementen in der Familie geworden, nicht zuletzt durch unsere sozialpolitischen Errungenschaften, wie das Verbot der Kinderarbeit, oder auch ganz allgemein durch die höheren Anforderungen an Aufwand und Ausbildung, die wir heute für unsere Kinder stellen. Damit hat sich unsere ganze Verteilungsordnung entscheidend geändert, und zwar nicht zwischen Sozialklassen oder Einkommensschichten, sondern innerhalb jeder Sozialklasse und Einkommensschicht zwischen den familienmäßig Ungebundenen und den Familien mit keinem oder wenigen Kindern auf der einen und denen, die die volle ökonomische Last einer notwendigen Kinderaufzucht übernehmen, auf der anderen Seite. Ich weise in meiner 'Bevölkerungslehre' nach, daß darin einer der Hauptfaktoren für den Geburtenrückgang, jedenfalls für seine extremeren Ausmaße, zu suchen ist. Er ist, so gesehen, gewissermaßen eine unerwünschte Nebenwirkung der Sozialpolitik und des sozialen Fortschritts." (4, S. 60f)

"Hier erwächst der Sozialpolitik noch einmal eine neue Großaufgabe, die sozialpolitische Großaufgabe des 20. Jahrhunderts: Familienlastenausgleich, m.E. der einzig sozial sinnvolle Lastenausgleich, denn sein Richtmaß ist nicht vergangener Verlust, sondern eine gegenwärtige Leistung, deren Lasten ausgeglichen werden sollen: die Lasten für das Aufbringen der jungen Generation, ohne die kein Volk und keine Kultur ihre Werte erhalten und tradieren können, müssen gerecht verteilt werden, so daß das Volk nicht durch falsche Verteilung dieser Lasten seinen Bestand gefährdet." (4, S. 61)
"Keine Politik der kleinen Mittel"
"Ich möchte nur keinen Zweifel daran lassen, daß es mit einer Politik der kleinen Mittel nicht getan ist - alle solche Maßnahmen würden hoffnungslos verpuffen -, sondern daß es sich hier um eine ganz große Einkommenumschichtung und eine grundsätzliche Neugestaltung der Verteilungsordnung handeln muß, wenn man damit etwas ausrichten will, eine Umschichtung nicht zwischen Einkommens- und Sozialschichten, sondern innerhalb jeder Schicht zwischen den Familien." (4, S. 62)

"Das Familienprinzip auch in der laufenden Sozialpolitik muß über eine viel stärkere Berücksichtigung des Kindes und des Jugendlichen durchgesetzt werden, des noch nicht arbeitsfähigen Schulkindes und der Lehrlinge, bis zum Abschluß ihrer Ausbildung. Wir werden überhaupt früher oder später vor der Notwendigkeit stehen, unser Interesse und auch unsere Mittel in Politik und Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik viel mehr auf unsere Jugend zu konzentrieren, wenn uns nicht der Osten darin den Rang ablaufen soll." (4, S. 62)
- Hatte hier jemand "1968" vermeiden wollen? Hätte hier jemand "1968" vermieden, wenn man auf ihn gehört hätte?

"Ein Stachel bis in die Gegenwart geblieben"

Dieser "Mackenroth-Plan", der hier gar nicht in seiner Vollständigkeit dargestellt werden kann, ist dann von Wilfried Schreiber für die Reformen der Adenauer-Regierung in einen praktischen politischen Plan umgeschrieben worden. Die genannte neue Studie von 2007 (2) sagt zu diesem "Mackenroth-Plan" wohl mit großem Recht:
"Wegen der darin erhobenen Forderungen, denen die Politik nicht in allen Punkten nachgekommen ist, ist der aufrüttelnde Text ein Stachel bis in die Gegenwart geblieben." (2, S. 255) "Mackenroth war der Urheber des Paradigmenwechsels in der Sozialpolitik. (...) Es ist die Institution Familie, die dem bisherigen Denken in sozialen Hierarchien entgangen ist und entsprechend ihrer Wichtigkeit und Umsetzbarkeit neu verankert werden muß." (2, S. 255)
Zusammengefaßt wird Mackenroth's Forderung referiert:
"Die Zwei-Kinder-Familie gilt als die Norm und wird geschont; wer im Familienstand darunter liegt, wird übersteuert; wer darüber liegt, wird entlastet." (2, S. 256)
Und weiter referiert die neuen Studie Mackenroth:
"Die neue Sozialpolitik muß dem 'Familienprinzip' Rechnung tragen, wie der Tatsache, daß die Qualitätsanforderungen an Kindererziehung und Jugendbildung steigt. (...) Der Wertkonflikt zwischen der Gratifikation der Einzelleistung in Lohn und Gehalt und der Anerkennung der gesellschaftlich notwendigen, nur schwer monetarisierbaren Familienleistung war somit klar zutage getreten. Er ist in der Folge von der westdeutschen Gesellschaft nicht korrigiert worden." (2, S. 256)
Bemühungen zur Korrektur hat es sehr wohl gegeben. Sie werden vielleicht in künftigen Beiträgen noch referiert. Vor allem lagen exakt die gleichen Grundgedanken wie die hier vorgetragenen von Gerhard Mackenroth - und in vielen Punkten schon wesentlich präzisierter - dem "Fünften Familienbericht der Bundesrepublik Deutschland" von 1994 (1993 fertiggestellt) zugrunde. Dieser war unter der Federführung von Rosemarie von Schweitzer erstellt worden. Auch die Bemühungen dieses "Fünften Familienberichts" scheinen bis heute in Kernpunkten "verpufft" zu sein, so, als wäre er nie erstellt und nie von einer deutschen Bundesregierung abgesegnet worden. Es wird seit fünf Jahrzehnten "weitergewurstelt" mit "einer Menge Unproduktivitäten und Irrationalitäten". (s.o.) An "Zusammenbruch" wagen wenige nur zu denken.

/Zum nächsten Beitrag in der Reihe "Warum Erziehungsgehalt?" ---> hier.

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  1. Mackenroth, Gerhard: Bevölkerungslehre. Theorie, Soziologie und Statistik der Bevölkerung. Springer-Verlag, Berlin u.a. 1953
  2. Henßler, Patrick: Bevölkerungswissenschaft im Werden - Die geistigen Grundlagen der deutschen Bevölkerungssoziologie. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2007
  3. Mackenroth, Gerhard: Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan. In: Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Neue Folge Band 4, Berlin 1952, S. 39-48, 56-59. Gekürzter Wiederabdruck in: 4., S. 43 - 74
  4. Böttcher, Erik (Hg.): Sozialpolitik und Sozialreform. Ein einführendes Lehr- und Handbuch der Sozialpolitik. J.C.B. Mohr, Tübingen 1957
  5. Chaunu, Pierre: Die verhütete Zukunft. Seewald Verlag, Stuttgart 1981

Dienstag, 29. Mai 2007

Muttersprache - ein Evolutionsfaktor?

Die Indogermanen und ihre atonale Sprache(n)

Die Völker auf der Welt sprechen zwei verschiedene Arten von Muttersprachen (Wikipedia): Tonale Sprachen (oder Tonsprachen) und nicht-tonale Sprachen. Die Sprachen der meisten südafrikanischen, afrikanischen, asiatischen und amerikanischen (Ureinwohner-)Völker sind tonale Sprachen, das heißt, die Bedeutung eines Wortes hängt (auch) von der Tonhöhe bei der Aussprache ab. Schon von dieser geschilderten geographischen Verteilung her geurteilt wird es sich bei den tonalen Sprachen um die - evolutiv gesehen - ursprünglichere Sprachform handeln.

Die meisten indo-europäischen Sprachen, so auch das Englische oder das Deutsche sind nicht-tonale Sprachen. Wenn nicht-tonale Sprachen tatsächlich erst mit der indo-germanischen Sprachfamilie in der Welt entstanden sind und sich mit ihr ausgebreitet haben sollten, dann wäre diese Art von Sprache weltgeschichtlich gesehen erst sehr spät entstanden (etwa 4.500 v. Ztr. nördlich des Schwarzen Meeres, wobei noch zu überlegen wäre, ob die vor-indogermanischen Sprachen in Europa nicht auch nicht-tonale Sprachen waren).

Es gibt aber auch überall wichtige Ausnahmen. Einige indo-germanische Sprachen wie das Schwedische, das Altgriechische und auch indischen Sprachen sind tonal, während zum Beispiel west-tibetische Sprachen im Gegensatz zu ost-tibetischen Sprachen nicht-tonal sind.


Abb.: Aus einer Powerpoint-Präsentation von Dan Dediu 2016

Nun haben zwei schottische Forscher aus Edinburgh staunenswerterweise entdeckt (Wissenschaft.de, Gene Expression, Heimatseite der Forscher, Times), daß die beiden von dem in Chicago arbeitenden chinesischen Humangenetiker Bruce Lahn erforschten Gehirnwachstumsgene, die erst vor 37.000 bzw. 6.000 Jahre selektiv bedeutsam wurden in der Humanevolution (siehe bspw. vorletzter Stud. gen.-Beitrag) sehr gut korrelieren mit der geographischen Verbreitung von tonalen und nicht-tonalen Sprachen, wobei die um 37.000 vor heute, bzw. 6.000 vor heute eingeführte genetische Variante dann mit der "moderneren" (europäischen) Sprachform korrelieren würde.

Diese Entdeckung verleitete die Forscher zu einem waghalsigen Schluß: Die Wahrscheinlichkeit des Vorkommens einer bestimmten Art von Sprache könnte (auch) genetische Ursachen haben. Das ist eine Hypothese, die man - ehrlich gesagt - bisher nie auch nur annähernd für möglich gehalten und in Erwägung gezogen hat. Bisher war man sehr sicher davon ausgegangen, daß es keine besonders direkte kausale Verbindung zwischen Muttersprache und (Gehirn-)Genen gibt, da Muttersprache etwas durch Prägung Erworbenes ist, und da ja jeder Mensch jede Muttersprache erwerben kann.

Sollte sich aber diese Forschungshypothese als richtig erweisen, dann wäre offenbar Muttersprache (zumindest) in den letzten Jahrtausenden auch ein sehr direkter Selektionsfaktor gewesen, das heißt, in Kulturräumen, in denen eine bestimmte Art von Muttersprache vorherrscht, wäre auf die Dauer gegen bestimmte Gehirn-Gene selektiert worden, das heißt, die Träger dieser Gene hätten in Kulturen mit dieser Art von Muttersprache wenig Fortpflanzungs-Erfolg gehabt. Dies würde sowohl für Europäer außerhalb Europas gelten, zum Beispiel in China - siehe als Beispiel das wahrscheinlich ausgestorbene Volk der Sogder. Aber auch für Außereuropäer in Europa, man könnte an mancherlei Westwanderung von asiatischen Völkern denken. Aber man beachte die in diesem Zusammenhang hochinteressante Tatsache, daß es gerade in Osteuropa viele tonale indogermanische Sprachen gibt: Litauisch, Serbisch, Kroatisch, Slowenisch. Das könnte gut parallel gesetzt werden zu mancherlei auch sonst bekannten, asiatischen, genetischen Einflüssen in diesen Räumen.

Gründe für diesen mangelnden Fortpflanzungserfolg in der jeweils anderen sprachlichen Umgebung kann man sich dann noch mancherlei ausdenken, also "Szenarien" der evolutiven Mechanismen. Natürlich kann es schlicht etwas mit einer angeborenen Leichtigkeit zu tun haben, eine bestimmte Art von Sprache zu verstehen. Aber es kann sich auch um subtilere Dinge handeln, also etwa könnte es auf die Dauer um das "psycho-physischen Wohlbefinden" in einer durch eine bestimmte Art von Sprache hervorgerufenen Mentaltität gehen. Oder noch mit ganz anderen Dingen. (Natürlich besteht auch die Möglichkeit, daß es sich um Folgen des Aufbauschens von mehr oder weniger zufälligen Gründereffekten handelt, also von "Drift". Es lägen dann gar keine direkteren selektiven Vorteile, bzw. Nachteile jeweilig vor.)

Für den Fall, daß man Selektion als mitbedingend ansieht, kann man es aber auch umgekehrt formulieren. Es könnte also sein, daß eine Gen-Mutation vor 37.000, bzw. 6.000 Jahren neue Wahrnehmungspräferenzen bei dem Hören von Sprachen auslöste und damit Menschen bestimmter genetischer Veranlagung in einer Kultur, in der eine bestimmte Art von Sprache gesprochen wird, bessere Fortpflanzungschancen haben. (Wieder: aufgrund welcher Art von detaillierten Szenarien auch immer.)

Aber nun noch der deutsche Bericht, der das Hypothetische der Forschungsthese noch bei weitem nicht deutlich genug herausstellen mag, aber sei's drum:

Wie die Gene die Sprache prägen

Forscher finden Zusammenhang zwischen Genen für die Hirnentwicklung und Tonsprachen

Die Unterschiede zwischen Englisch und Chinesisch lassen sich zumindest teilweise auf die genetische Veranlagung ihrer Sprecher zurückführen, haben zwei schottische Forscher entdeckt. Entscheidend sind dabei zwei Gene, die wichtig für die Gehirnentwicklung sind: Kommen davon bestimmte Varianten in einer Volksgruppe nur selten vor, tendieren die Menschen zur Entwicklung so genannter Tonsprachen wie Chinesisch, in denen die Bedeutung eines Wortes von der Tonhöhe bei der Aussprache abhängt. Dominieren diese Genformen hingegen in der Bevölkerung, neigen die Menschen eher dazu, Sprachen wie Englisch oder Deutsch zu sprechen, in denen es diese Abhängigkeit von der Tonhöhe nicht gibt.

Die Wissenschaftler konzentrierten sich in ihrer Studie auf zwei Gene namens Microcephalin und ASPM. Beide spielen wichtige, bisher aber noch unbekannte Rollen bei der Gehirnentwicklung und kommen jeweils in einer ursprünglichen und in einer neueren Variante vor. Bei Microcephalin entstand diese neuere Form vor etwa 37.000 und bei ASPM vor etwa 5.800 Jahren. Die unterschiedlichen Varianten sind allerdings nicht gleichmäßig auf der Erde verteilt. So ist die neue ASPM-Form beispielsweise in Asien, Europa und Nordafrika häufig und in Ostasien, Südafrika und Nord- sowie Südamerika sehr selten. Ein ähnliches Verteilungsmuster findet sich auch für die neuere Microcephalin-Variante.

Interessanterweise gibt es genau dort, wo die neuen Genformen kaum vorkommen, sehr häufig Tonsprachen, stellten die Wissenschaftler bei einem Vergleich verschiedener genetischer Marker mit linguistischen Eigenheiten der jeweiligen Bevölkerung fest. Ihre Erklärung: Die Gene prägen die individuelle Hirnstruktur ihrer Träger und damit auch ihre Fähigkeit, Sprachen zu lernen. Da eine Sprache jedoch nur dadurch weitergegeben wird, dass Kinder beim Lernen versuchen, die Laute ihrer Umgebung nachzuahmen, kann eine derartig veränderte Lernfähigkeit mit der Zeit die gesamte Sprache verändern – etwa dann, wenn sich eine Genvariante durchsetzt, die es dem Gehirn erschwert, Tonhöhen zu erfassen. In einem solchen Fall würde diese Eigenschaft der Sprache irgendwann verschwinden, so die Forscher.

Da im Fall von Microcephalin und ASPM die neueren Varianten mit einem selteneren Auftreten der Tonsprachen zusammenhängen, waren solche Sprachen ursprünglich wohl sehr viel häufiger vertreten als heute, schließen die Forscher. Allerdings sollte die Verbindung Gene und Sprache nicht überinterpretiert werden: Es stehe schließlich außer Frage, dass heute jedes kleine Kind jede Sprache lernen könne, es existieren also keine "Chinesisch-Gene".
Der Implikationen wären wohl sehr viele, wenn sich diese Forschungshypothese als richtig herausstellen sollte. Recht aufregend ... Das Thema wurde bisher in drei Beiträgen auf "Studium generale" behandelt (1, 2, 3).

Aktualisierung 5.12.2017: Dan Dediu hat die wissenschaftlichen Arbeiten rund um das Thema bis heute weiter verfolgt (2-4) und erörtert die verschiedenen, seither erörterten Thesen zur Erklärung der weltweiten Verteilung der tonalen und atonalen Sprachen in einer Powerpoint-Präsentationen des Jahres 2016 (5) (s.a. Abb. 1). Er geht von einer komplexen Gen-Kultur-Koevolution aus zur Erklärung der weltweiten Verteilung dieser Sprachen.
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  1. Dan Dediu and D. Robert Ladd: Linguistic tone is related to the population frequency of the adaptive haplogroups of two brain size genes, ASPM and Microcephalin. In: PNAS, Juni 2007, vol. 104 no. 26, 10944-10949, doi: 10.1073/pnas.0610848104, http://www.pnas.org/content/104/26/10944
  2. Dediu D (2011) Are languages really independent from genes? If not, what would a genetic bias affecting language diversity look like? Hum Biol 83:279–296
  3. Everett C, Blasi D & Roberts S (2015) Climate, vocal folds, and tonal languages: Connecting the physiological and geographic dots. PNAS 112:1322–1327. doi:10.1073/pnas.1417413112
  4. Siehe auch Debatte im Journal of Language Evolution Issue 1 2016
  5. Dan Dediu: Language and non-language - environmental factors, biological biases & cultural niche construction. 2016, http://www.mpi.nl/people/dediu-dan/EFL2016L3web.pdf

Ein deutscher Sozialreformer unter Konrad Adenauer - Gerhard Mackenroth (1903 - 1955) und die deutsche Bevölkerungssoziologie

Erster Beitrag der Reihe "Warum Erziehungsgehalt?"

In der Reihe "Warum Erziehungsgehalt?" ist in sieben Beiträgen aus dem Mai und Juni 2007 der Weg aufgezeichnet, auf dem der Autor dieser Zeilen sich in Auseinandersetzung mit einigen wichtigeren Neuerscheinungen in der Fachliteratur von der offensichtlichen Notwendigkeit eines Erziehungsgehaltes überzeugte. Jeder, der sich von dieser Notwendigkeit überzeugt, sieht so in etwa die gleichen Zusammenhänge. Aber jeder mag auch auf leicht unterschiedlichem Wege zu dieser Einsicht gekommen sein. - Bei Zeit und Gelegenheit muß der Faden dieser Beiträge anhand neuerer Fachliteratur auch wieder aufgenommen werden. (Letzte Überarbeitung 11.7.09)

1996/97 hat der Autor dieser Zeilen intensiviert begonnen, an einer Doktorarbeit zum Thema "Die Soziobiologie der arbeitsteiligen Gesellschaft" zu arbeiten. - Die wissenschaftstheoretischen Grundlagen und Voraussetzungen der dazugehörigen Fragestellung zu erläutern, würde an dieser Stelle zu weit führen. Der Ausgangspunkt ist das "e = mc2 der Evolutionären Psychologie", nämlich die Hamilton'sche Ungleichung für Verwandten-Altruismus K/N > r. Wenn man diese Formel auf die arbeitsteilige Gesellschaft anwendet, so ein stark begründeter Verdacht, kann ein sehr grundlegender und sehr umfassender Brückenschlag zwischen der Natur- zu allen Gesellschafts- und Sozial-Wissenschaften unternommen werden, von dem aus sich viele neue Forschungsperspektiven ergeben könnten. Ein ehrgeiziges Anliegen. Aber nicht das zentrale Thema dieses Beitrages. -

Die Soziobiologie der arbeitsteiligen Gesellschaft

Damals bestand natürlich auch Interesse daran, welche Theorien eigentlich schon in der Wirtschaftswissenschaft zum Thema "Arbeitsteilung" vorliegen. Natürlich gibt es da den Adam Smith. Und man kann auch noch mancherlei anderes, recht fruchtbares Denken finden. So zum Beispiel die grundlegende Aufteilung einer Volkswirtschaft in den primären, den sekundären und den tertiären Sektor (also grob Landwirtschaft, Handwerk/Handel, Dienstleistungsbereich) und die geschichtlichen Verschiebungen, die sich zwischen diesen drei Sektoren in der Entwicklung arbeitsteiliger Gesellschaften ergeben.

Aber so richtig "dick fündig" wurde man schließlich erst bei einem Denker, von dem man vorher noch niemals etwas gehört hatte, und der auch heute noch sehr unbekannt ist. Man stieß auf Gerhard Mackenroth's "Bevölkerungslehre" aus dem Jahr 1953 (1). Sie liefert rein von bevölkerungswissenschaftlicher, wirtschaftswissenschaftlicher, soziologischer Seite aus den umfassendsten theoretischen Ansatz, mit dem die Überlegungen von der Soziobiologie herkommend in Abgleich gebracht und - sozusagen "abgesichert" - weitergedacht werden konnten und können.

Die "Bevölkerungslehre" Gerhard Mackenroth's (1953)

Vor zehn Jahren spielte diese "Bevölkerungslehre" von Gerhard Mackenroth - soweit einem das damals erkennbar war - nur oder vornehmlich in der deutschen "Historischen Demographie", sowie Wirtschafts- und Sozialgeschichte eine wichtigere Rolle. Da Gerhard Mackenroth Anschauungsbeispiele für seine theoretischen Ansätze zur "Bevölkerungslehre" zu weiten Teilen aus der Frühen Neuzeit bezogen hatte (was auch tatsächlich naheliegend ist, was auch der Autor dieser Zeilen selbst eifrig betrieben hat und betreibt), war der Weg für Forscher der Wirtschafts- und Sozialgeschichte und der Historischen Demographie nicht sehr weit, um die Mackenroth'schen Denkansätze nun auch umgekehrt sehr konkret auf die eigenen Forschungen anzuwenden.

Es ist gegenwärtig nicht sehr leicht, sich einen Überblick darüber zu verschaffen, wo die Mackenroth'sche "Bevölkerungslehre" von 1953 überall befruchtend gewirkt hat oder ob an anderer Stelle Demographen schließlich unabhängig von Mackenroth zu ähnlichen Ergebnissen gekommen waren wie er. Manche Erkenntnisse liegen irgendwann "in der Luft" und ergeben sich aus der Natur der Sache. Vielfach wurden in den letzten Jahrzehnten Mackenroth'sche Gedankengänge sicherlich auch referiert, ohne daß auf Mackenroth selbst besonders hingewiesen worden wäre, ja vielleicht ohne daß man sich seiner "Bevölkerungslehre" überhaupt bewußt gewesen ist.

Ganz besonders wird dies für das Ausland gelten. Ein Buch, das der Autor dieser Zeilen zum Beispiel schon Jahre vorher mit sehr großem Gewinn gelesen hatte, und das er auch heute noch jedem Interessierten gern empfiehlt, Pierre Chaunu's "Verhütete Zukunft" (1979, 1981) (5), bringt viele ähnliche gedankliche Ansätze wie Mackenroth, ohne daß einem dort jemals der Name Mackenroth aufgestoßen wäre (oder daß man ihn jetzt beim Durchblättern und Durchsehen des Literatur-Verzeichnisses entdecken würde).

Ein 2007 neu erschienenes Buch über einen "einsamen Klassiker"

Bis hier also eine lange Einleitung, um zum eigentlichen Thema zu kommen. Unter den Buch-Neuanschaffungen der Universität fand sich in den letzten Wochen folgender unauffällige Titel: "Bevölkerungswissenschaft im Werden - Die geistigen Grundlagen der deutschen Bevölkerungssoziologie" (2). Da man aus dem Inhaltsverzeichnis sehr schnell ersehen konnte, daß in dem Buch auch von Gerhard Mackenroth die Rede war, nahm man es "halt" "mal" mit - eher gelangweilt, ohne besondere Erwartungen.

Aber wer versteht die Überraschung, als man beim Lesen feststellte, daß hier - scheinbar erstmals - ein Buch vorlag, daß in ganz umfassender Weise die Lebensleistung Gerhard Mackenroths zu würdigen und in die Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts einzuordnen versuchte? Fast scheint es, als sei das ganze Buch nur geschrieben worden, um das Lebenswerk Gerhard Mackenroths geschichtlich einordnen zu können. Das wird so deutlich zwar eigentlich nirgends gesagt (oder man hat es überlesen), es gibt dafür aber viel zu viele Hinweise. Viele Denker scheinen in diesem Buch vor allem deshalb referiert zu werden, weil sie irgendwann dann auch in Mackenroth's Vorlesungs-Gliederungen auftauchen (die im Anhang abgedruckt sind), und weil man verstehen will, wie Mackenroth eigentlich zu seiner eigenen "Bevölkerungslehre" kam. Wenn dieses neue Buch richtig gedeutet wird, dann ist der eigentliche "heimliche" Held dieses Buches, obwohl auch viele andere Personen behandelt werden, kein geringerer als Gerhard Mackenroth (1903 - 1955). Und im Grunde wird das ja auch ausgesprochen (2, S. 227):

"In der 1953 erschienenen 'Bevölkerungslehre' hat Gerhard Mackenroth eine Theorie entwickelt, die im deutschen Sprachraum starke Beachtung gefunden und inzwischen die Rolle eines einsamen Klassikers eingenommen hat."

So unumwundene Worte liest man hier zum ersten mal. (Einem selbst war das ja schon klar, aber daß das endlich auch einmal anderen klar zu werden beginnt ...?) Man weiß eigentlich nicht, warum Gerhard Mackenroth einem über engere Fachgrenzen hinausgehenden Publikum nicht schon längst näher bekannt geworden ist oder bekannt gemacht wurde. Auch dieses Buch "versteckt" ihn ja fast eher, als daß es ihn als bedeutenden Theoretiker herausstellt, als der er nach allen im Buch referierten Tatsachen tatsächlich angesehen werden muß. Weder im Titel, noch im Untertitel des Buches ist sein Name genannt, erst auf der zweiten Seite des Inhaltsverzeichnisses wird sein Name in Überschriften zu den Kapiteln 5.3, 6 und 7 genannt.

Gründe hierfür? Nun, erstens hatte sich die Bevölkerungswissenschaft in Deutschland an sich nach 1945 einer starken Mißachtung zu erwehren. Selbst heute ist ihr Selbstverständnis nicht in den letzten Zügen geklärt, obwohl sich längst Entkrampfungen eingestellt haben. Und zweitens kommt hinzu, was man erst aus diesem Buch erfährt, nämlich daß Gerhard Mackenroth - - - Nationalsozialist war. Sicherlich kein Fanatiker, sicherlich keiner, der sich durch irgend etwas hervorgetan hätte, was ihn nach 1945 noch besonders hätte kompromittieren können. All dem wird in dem Buch - erstmals - sehr ausführlich nachgegangen anhand der Unterlagen für sein "Entnazifizierungs"-Verfahren. Aber Nationalsozialist ist nun einmal Nationalsozialist. Und da das Fach Bevölkerungswissenschaft an sich noch heute nicht so recht das selbstverständlichste Ansehen in Deutschland genießt, glaubt man vielleicht, das Fach selbst noch zusätzlich zu kompromittieren, wenn man in aller Deutlichkeit herausstellt, daß der bedeutendste deutsche Vertreter dieses Faches im 20. Jahrhundert eben genau jener Gerhard Mackenroth gewesen ist.

"Mackenroth-These" von 1952

Wie auch immer. Im Grunde sind das nur zweitrangige Erwägungen gegenüber den eigentlichen innerwissenschaftlichen Fragestellungen und Erkenntnisfortschritten. Nach dieser überraschenden Schilderung des Lebensweges von Gerhard Mackenroth in der Zeit des Nationalsozialismus hätte man meinen sollen, es wären der Sensationen schon genug gewesen in diesem Buch. Zu ergänzen wäre wohl weiterhin noch, daß er auch Soldat im Zweiten Weltkrieg gewesen ist, und daß, während er selbst den Krieg überlebte, seine junge Familie, seine Frau und drei kleinen Kinder, im Bombensturm von Dresden im Februar 1945 ums Leben kamen. - - -

Aber selbst nachdem man all diese "Lebensstationen" zur Kenntnis genommen hat *), hat man noch nicht die vielleicht bedeutendste kennen gelernt. Kaum nämlich hat man all das bisher Geschilderte auf sich wirken lassen, wird man mit einem weiteren Kapitel konfrontiert: "Mackenroth-These", heißt es. Und man erfährt nun in diesem, daß Gerhard Mackenroth im Jahr 1952 vor dem berühmten "Verein für Socialpolitik", der unter anderem durch Max Weber geschichtlich so bekannt geworden ist, einen Vortrag gehalten hat. Der Titel: "Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan". (3) Und in diesem Vortrag ist ein - aus heutiger Sicht - geradezu revolutionärer Plan enthalten.

Gerhard Mackenroth starb schon drei Jahre später im Jahr 1955. (2, S. 257) Und einer seiner Schüler schrieb bei einem Wiederabdruck dieses Vortrages im Jahr 1957:

"Der Beitrag Mackenroths ist bemerkenswert eigenständig, es sind in ihn viele auch sehr persönliche Anliegen und Erwarungen eingegangen, was der Herausgeber aus jahrelanger sehr enger Mitarbeit feststellen kann." (4, S. 40, Anmerkung)

Und im Vorwort dieser Herausgabe von 1957 heißt es:

"Unser letzter Dank gilt einem Toten, dem verehrten Kieler Kollegen Gerhard Mackenroth. In seinen letzten Lebensjahren war er rastlos um eine sachliche Erläuterung zur Bewältigung der dringlichen sozialpolitischen Aufgaben in unserem Staat bemüht. Wir hoffen, mit der Herausgabe dieses Bandes dem gleichen Anliegen zu dienen." (4, S. X)

Die Beschäftigung mit diesem Vortrag nun läßt einen auf viele Gedanken kommen. Es scheint geradezu so, als ob wir im Jahr 2007 im Rückblick auf die Nachkriegsgeschichte seit 1945 beginnen, die Prioritäten ganz neu zu setzen. Wir sehen plötzlich, so scheint es, wo die wirklich vorausschauenden Denker waren - und wo nur politische Denker zweiten Ranges besonders viel Wind gemacht haben. So weiß heute "jedes Kind" etwas von der "Frankfurter Schule" und ihrem "Institut für Sozialforschung", einem Institut, das schon vom Titel eigentlich sehr ähnliche Themenfelder besetzt zu haben scheint, wie die Forschungen Mackenroth's. Aber waren es denn nun wirklich diese Leute, die zu ihrer Zeit die weiterführendsten Gedanken vertraten?

Eine grundlegende Weichenstellung in der deutschen Nachkriegsgeschichte

Die "Vordenker von 1968" belebten eine Art von "klassenkämpferischem Denken" wieder, so drängt sich ein unmittelbarer Eindruck während der Beschäftigung mit dieser "Mackenroth-These" auf, das vielleicht exakt von jenem Gerhard Mackenroth schon im Jahr 1952 theoretisch vollständig überwunden gewesen war. Da taucht dann plötzlich die Frage auf, wie ein Frankfurter "Institut für Sozialforschung" Jahre lang mit so veralteten Konzepten von Klassenkampf Wirbel machen konnte, während die eigentlich weiterführenden Konzepte, Konzepte, die noch heute als geradezu revolutionär, umwälzend empfunden werden können, schon im Jahr 1952 in ganz nüchterner und klarer Sprache hatten vorgetragen werden können, ohne bisher jemals wirklich geschichtlich wirksam zu werden.

Aber dann kommt auch schon die nächste Überraschung: Wer war verantwortlich dafür, daß die Konzepte Mackenroths bis heute nicht geschichtlich wirksam geworden sind? - So ziemlich der erz-konservativste deutsche Politiker, den die Nachkriegszeit kannte: - - - Konrad Adenauer. Und die nächste Überraschung: Das Wort Adenauers, das heute in aller Munde ist, und das - heute! - als Zeichen für die mangelnde Sensibilität eines greisen Politikers für die Erfordernisse einer Gesellschaft nach dem "demogaphischen Übergang" gilt - jenes

"Kinder kriegen die Leute immer"

- dieses Wort war nicht nur so ein irgendwann einmal in einer fröhlichen Minute dahingesprochenes Wort, wie zumindest bislang immer der Eindruck erweckt worden war für Interessierte, die ganz oberflächlich etwas über diese Themen lasen (also für solche Leute wie den Autor dieser Zeilen). Nein, es diente zur Begründung einer ganz grundlegenden Weichenstellung in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Und zwar, so möchte man sagen, eine Weichenstellung gegen die Vorstellungen eines der vielleicht bedeutendsten Sozialreformer der deutschen Geschichte. Und sein Name: Gerhard Mackenroth.

Und seine Ideen? - Nächster Beitrag!


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*) Ergänzung 4.5.2012: Schon im Jahr 2009 ist von dem Mackenroth-Forscher Patrick Henßler ein Folgeaufsatz zur geschichtlichen Einordnung von Gerhard Mackenroth erschienen (6). Erst heute kommt er einem in die Hände. (- Von etwaigen Blogkommentatoren wird man ja auf so etwas nicht hingewiesen!) Und hier schreibt Henßler nun:

Grundlegend für das gesamte Forschungsvorhaben (zu Gerhard Mackenroth und Umfeld) war die Hypothese, daß die historisch-soziologische Bevölkerungsweise (sic! gemeint wohl: Bevölkerungswissenschaft) immun gewesen sei gegen Biologismus, Rassismus und Naturalismus bzw. daß durch ihre einschlägige Genese eine epistemologische Barriere existiert habe, die das Eindringen oder die Adaption dieser konkurrierenden Konzepte im Umgang mit der Bevölkerungsthematik dauerhaft verhindert habe.

Aber: Gerhard Mackenroth war keineswegs "immun" gegen Interdisziplinarität. Das Fazit lautet vielmehr:

Gerhard Mackenroth war in seinem wissenschaftlichen Arbeiten keineswegs aufgrund seines wissenschaftstheoretischen Fundamentes immun gegen eugenische, biologistische und darwinistische Konzepte und Theorien. Das Rassenparadigma sowie rassen- bzw. sozialhygienische Vorstellungen sind Bestandteil seines wissenschaftlichen Weltbildes. Diese Feststellung ist für die Jahre vor 1933, zwischen 1933 und 1945 sowie nach 1945 gleichermaßen zutreffend.

Das weiß zwar jeder, der Gerhard Mackenroth's 1953 erschienene "klassische" "Bevölkerungslehre" genau liest. Nun wissen es aber auch jene, die das nicht so genau tun. 

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  1. Mackenroth, Gerhard: Bevölkerungslehre. Theorie, Soziologie und Statistik der Bevölkerung. Springer-Verlag, Berlin u.a. 1953
  2. Henßler, Patrick: Bevölkerungswissenschaft im Werden - Die geistigen Grundlagen der deutschen Bevölkerungssoziologie. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2007
  3. Mackenroth, Gerhard: Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan. In: Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Neue Folge Band 4, Berlin 1952, S. 39-48, 56-59.
    Gekürzter Wiederabdruck in: 4., S. 43-74
  4. Böttcher, Erik (Hg.): Sozialpolitik und Sozialreform. Ein einführendes Lehr- und Handbuch der Sozialpolitik. J.C.B. Mohr, Tübingen 1957
  5. Chaunu, Pierre: Die verhütete Zukunft. Seewald Verlag, Stuttgart 1981
  6. Henßler, Patrick: Abgrenzung, Anbiederung oder Überzeugung? Gerhard Mackenroth und die NS-Rassen- und Bevölkerungspolitik. In: R. Mackensen; J. Reulecke; J. Ehmer (Hg.): Ursprünge, Arten und Folgen des Konstrukts "Bevölkerung" vor, im und nach dem "Dritten Reich". Zur Geschichte der deutschen Bevölkerungswissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2009, S. 141-160  

Jüngste Humanevolution - eine Kolumne der "Berliner Morgenpost"

Ich entdecke erst jetzt in der "Berliner Morgenpost" eine Evolutions-Kolumne von Ulli Kulke mit - seit Mai 2006 - inzwischen 26 Artikeln. Sie weist sehr viele parallele Erkenntnis-Interessen zu "Studium generale" auf. (Berliner Morgenpost) Denn auch hier geht es um "jüngste Humanevolution" und um die Frage, ob und wie die Evolution weitergehen wird. Diese Dinge sind ja in der deutschen Öffentlichkeit bislang noch erstaunlich wenig thematisiert worden, obwohl ein inzwischen reicher Fundus von Forschungsergebnissen völlig neue Sichtweisen eröffnet hat.

Ist die Evolution zu Ende?

Ulli Kulke - der Name deutet auf Berliner Urgestein - geht die Sache recht locker, essayistisch an. Um überhaupt einmal einen Eindruck von dem Umfang der Neuerkenntnisse zu bekommen, ist diese Reihe sicher gut geeignet. Sie beginnt mit dem Titel: "Alles auf dem Prüfstand: Vom Adamsapfel bis zum Zahn":

Am 14. Mai 1856, heute vor 150 Jahren, begann Charles Darwin seine Arbeit "Natural Selection" - die Grundlage seiner Evolutionstheorie. Sie veränderte das Selbstverständnis der Menschheit. Keinen Schöpfungsakt gab es demnach, der mal eben Adam und Eva schuf. Es war ein unendlich langer Prozeß: Vom primitiven Einzeller über Haikonella, den kleinen Fisch in unserem Stammbaum, bis zu Franz Beckenbauer.

So aber wie eben dieser 1990 schon das Ende der Entwicklung im Fußball verkündete, weil er damals die Deutschen auf den Gipfel geführt hatte, so wie Francis Fukuyama gar schon das Ende der Geschichte ausrief - so schienen wir Charles Darwin auch nur im Blick zurück zu sehen. Als wäre die Evolution mit der Entwicklung zur Menschheit zu ihrer Erfüllung gelangt, am Ziel. Als wäre Homo sapiens doch die Krönung der Schöpfung, als stimme doch, insoweit jedenfalls, was uns die Genesis aus der Bibel erzählt.

Kurz vor dem Ende eines Jahrtausends konnte schon mal unterschwellig die Stimmung vom großen Erreichten aufkommen, vom nahen Ziel. Wie wir überhaupt uns oft bei dem Gedanken ertappen, daß der Lauf der Dinge in der Vergangenheit sehr dynamisch war, aber jetzt doch bitte wohl alles so bleiben wird, wie es ist. Kontinentalverschiebung, dramatischer Klimawandel, Eiszeiten, die großen Völkerwanderungen, ja auch die Abfolge von Friedensepochen und Kriegsperioden - alles nur Geschichte? Das wäre ein Trugschluß. Unser Planet ist ein dynamisches System, das Leben auf ihr erst recht. Alles geht weiter, dessen sollten wir jetzt, da ein neues Jahrtausend angebrochen ist, erst recht gewahr sein. Wie die Kontinentalverschiebung und auch das Weltklima sich weiter entwickeln, so auch das Leben, unsere Biologie. Langsam, sehr langsam, gewiß, aber deswegen müssen wir nur genauer hinsehen.

In der Kolumne "Fragen an die Evolution", die mit der heutigen Ausgabe startet, wollen wir diesen einen Aspekt unserer dynamischen Welt näher betrachten: Wir wollen den überraschendsten Dingen nachgehen, was unsere Vergangenheit und Zukunft angeht. Wo kommen wir her, wo gehen wir hin? ... Bis nächste Woche, da geht's dann richtig los. (Berliner Morgenpost)

Und der nächste (der zweite) Artikel titelt: "Ein steiler Zahn ist nicht mehr so sexy, wie er mal war." Es geht um den Trend zu grazileren Kiefern und kleineren Zähnen auf dem evolutionären Weg vom Schimpansen bis zu heutigen und künftigen Menschen vornehmlich durch geschlechtliche Zuchtwahl. (- Dabei haben einige Frauen meine Eckzähne schon sehr attraktiv gefunden! - Hm! -?) (Berliner Morgenpost)

Jüngste Intelligenz-Evolution

Hier nun Ausschnitte aus dem nächsten Artikel (Nummer 3) zur Intelligenz-Evolution: Wie stehen eigentlich unsere Chancen, noch klüger zu werden? (...) Bruce Lahn aus Chicago fand kürzlich durch Analysen der Erbanlagen bei verschiedensten Ethnien heraus, daß sich wahrscheinlich vor etwa 37 000 Jahren ein wichtiger Teil unseres Bauplanes stark veränderte. Microcephalin, ein Gen, das die Hirnentwicklung steuert, soll in jenen Jahren einen enormen Bedeutungszuwachs erfahren haben. Der neue Bauplan verbesserte nicht nur die Gehirnleistung, er bescherte den betroffenen Menschen auch mehr Nachkommen als den übrigen. 70 Prozent der Menschheit sollen nach ihm geschaffen sein. Das Frappante an Lahns Studie: Etwa zu dem Zeitpunkt, auf den der Forscher die genetische Mutation datiert, vollzog die Menschheit in der Tat große Sprünge, man entdeckte den Sinn fürs Musische: Malereien entstanden, Skulpturen, andere Kunstwerke.

Lahn kam noch einer zweiten Veränderung bei den menschlichen Erbanlagen auf die Spur, beim sogenannten "ASPM"-Gen, ebenfalls wichtig für den Aufbau des Gehirns. Vor etwa 5800 Jahren. Also etwa zur Zeit der neolithischen Revolution, als der Mensch Ackerbau und Viehzucht, die Schrift, das Rad erfand. Die ASPM-Variante hat sich nach Lahns Erkenntnissen allerdings nicht so weit verbreitet. Sie fand sich in 50 Prozent aller europäischen und asiatischen Blutproben - nicht aber bei den afrikanischen, und nur sehr selten bei der Urbevölkerung Amerikas. Eine politisch inkorrekte Verteilung - aus der allerdings keine voreiligen Schlüsse gezogen werden sollten: Im Blut der Papua aus Neuguinea fand sich das moderne ASPM-Gen sogar in 60 Prozent aller Proben. (Berliner Morgenpost)

Ist der Mensch ein Zufallsprodukt der Evolution?

Text 4: "Warum wir immer besser sehen, aber immer schlechter riechen können." (Berliner Morgenpost) Text 5: "Warum wir sprechen können, aber beim Biertrinken schweigen müssen." (Berliner Morgenpost) Na, und so weiter. Text 19 kehrt zu einer Grundsatzfrage zurück: "Ist der Mensch eigentlich ein Zufallsprodukt?" Hier referiert Kulke die neuen Gedanken des britischen Paläontologen Simon Conway Morris ("Life's Solution - Inevitable Humans in a Lonely Universe", 2003):

Einer Frage sind wir in dieser Kolumne noch gar nicht nachgegangen, obwohl viele sie ja für die allerwichtigste halten: Ist das eigentlich alles nur großer Zufall, dass die Evolution Pflanze und Tier, und schließlich den Menschen, so wie er heute lebt, hervorbrachte? Liefe es genauso, wenn wir alles noch einmal von vorn beginnen würden?

Wir, und auch Säugetiere und Vögel, sind nicht zuletzt das Produkt gewaltiger Erdkatastrophen. Vulkanausbrüche, die die Erde fast für Äonen verdunkelten, Meteoriten-Einschläge, globale Eiszeiten. Erdachse, Magnetfeld, Umlaufbahn - alles ist durchgeschüttelt, nichts ist mehr so wie einst im Kambrium. Und so wurden die Karten für das Glücksspiel Evolution immer wieder neu gemischt. Ein Armageddon ließ die Saurier entstehen, das nächste sie wieder verschwinden - und Platz schaffen für die Säugetiere. Dagmar Röhrlich schildert uns all dies so farbenfroh in ihrem neuen Buch "Evolution auf der Achterbahn".

Also doch alles Zufall? Wäre der Wind damals von Ost und nicht von West gekommen, befänden wir uns heute vielleicht im Stadium der Mikroben oder des Basaltklumpens? Ganz so beliebig ist es nun doch nicht verlaufen bei der Menschwerdung des Steins. Dazu gibt es zu viele parallele Entwicklungen: "Konvergenzen", aus völlig unterschiedlichen Herkünften. Komplett isoliert voneinander, lange nachdem die verwandtschaftlichen Bande gekappt waren, haben sich zum Beispiel bei den Insekten wie bei den Säugern die Augen parallel herausgebildet. Und zwar jeweils nach den besonderen Bedürfnissen: Die Fliege guckt schneller, der Mensch dafür räumlich und weiter. Auch der Oktopus hat sich seine Augen unabhängig von allen anderen beigebracht. Und obwohl sie nicht nur unverwandt, sondern nach geradezu gegensätzlichen Bauplänen konstruiert sind, haben sich beim Maulwurf mit seinem inwendigen genau wie bei der Maulwurfsgrille mit ihrem äußeren Skelett die Schaufeln herausgebildet. Einfach, weil beide sie brauchen in ihrem Untergrund.

Auch die unterschiedlichsten Tiere, die heute im Wasser leben, sind allesamt mit sinnvollen Fortbewegungswerkzeugen ausgestattet, unabhängig davon, ob sie schon immer im Ozean lebten oder ihre Extremitäten erst auf dem Land für die dortigen Bedingungen entwickelten und später, nach ihrem langen Marsch ins Wasser, umrüsten mussten.

Jeder einzelne Schritt in der Evolution mag eine zufällige Mutation sein. Wenn aber die Evolution Augen, die zu den diffizilsten Organen überhaupt gehören, an mehreren Orten, zu unterschiedlichen Zeiten in höchstverschiedenen Kreaturen erfand, so kann man ihr eine gewisse Zielorientiertheit wohl kaum absprechen.

Dennoch bleibt die Frage offen, ob unbedingt alles auf den Menschen, auf Intelligenz, hinauslaufen musste. Da sind wir nämlich ziemlich einzigartig. Frühere Theorien, dass sich der moderne Homo sapiens an mehr als einer Stelle gleichzeitig herausmendelte, haben sich inzwischen als unhaltbar erwiesen. Wir hatten nur eine Chance, aber wir haben sie genutzt. (Berliner Morgenpost)

Die Evolution der Haarfarbe

(Text 21) ... Gewiss: blonde und rote Haare vererben sich rezessiv. Ist ein Elternteil blond, der andere schwarz, so setzt sich beim Kind fast immer das schwarze Element durch. Trotzdem können in seinen Erbanlagen die Blond-Gene vorhanden bleiben, so dass es sogar möglich ist, dass auch mal zwei schwarzhaarige ein hellhaariges Kind bekommen, heute, morgen, oder in tausend Jahren.

Früher war es dunkel um unseren Kopf, allüberall. Vor etwa 11 000 Jahren aber, zum Ende der letzten kleinen Eiszeit, irgendwo im nördlicheren Europa, bei irgend einem Menschen, muss es passiert sein: Die Mutation des Erbgutes, nach der sich die Produktion des Farbpigmentes Phäomelanin in die Körperchemie eingeschlichen hat. Der Stoff, aus dem Blondinen gemacht werden. Wenn wir den Genforschern glauben dürfen, so war dies zufällig zu einer Zeit, da die Großwildjagd immer gefährlicher oder die Nahrung für die so hungrigen Herren der Schöpfung immer knapper wurde - es gab jedenfalls nur noch wenige Männer. Die wenigen Überlebenden hatten deshalb für die Paarung in ihren Höhlen eine Vielzahl von Frauen zur Auswahl - und suchten sich zielstrebig die Blondinen. Evolutionsforscher sehen in so einer Ungleichheit der Geschlechter einen starken "Selektionsdruck", bei dem sich seltene, aber sexuell attraktive Merkmale sehr schnell durchsetzen können.

Warum die Blondinen besser ankamen als die Brünetten oder die Schwarzen - darüber können die Evolutionsforscher nur rätseln. Studien deuten darauf hin, dass blonde Frauen im Durchschnitt einen höhere Östrogenspiegel haben, der die Fruchtbarkeit fördert. Dies würde bedeuten, dass nicht nur blonde Frauen selbst, sondern auch diejenigen, die eine Vorliebe für dieselben hegen, mehr Nachkommen in die Welt setzen als andere - ergo setzt sich beides durch. Mit einem gewissen Handicap allerdings, weil sich der blonde Faktor eben nur rezessiv vererbt.

Dies könnte eine Ursache dafür sein, dass sich die blonde Haarpracht evolutionär doch nur in einem kleinen Teil der Welt durchsetzen konnte, in Mittel-, West- und Nordeuropa. Die Blonden in Nordamerika und Südafrika oder Australien stammen alle von dort her ab. Und die vielen Blonden, die in einer Bergregion im Libanon wohnen, sind Nachfahren der Kreuzfahrer.

Ähnlich dürfte es sich mit den Chachapoyas in Südamerika verhalten, einem blonden Volk, das einst von den Inkas unterworfen wurde. Bei ihnen, so vermuten jedenfalls einige Forscher, handelte es sich um Nachfahren von Einwanderern, die lange vor Kolumbus nach Amerika kamen. (Berliner Morgenpost)

Weitere jüngste Selektionsereignisse in der Humanevolution

Im Februar endete die Artikel-Serie. Eine der letzten Fragen lautete: Was sind unsere neuesten evolutionären Errungenschaften?

Beim Thema Evolution denken wir an Zeiträume von Hunderttausenden, oder Millionen von Jahren, gewiss nicht an die jüngste Vergangenheit. Und doch hat sich selbst in den letzten zehntausend Jahren noch einiges getan in unserem Erbgut. Der Mikrobiologe Jonathan Pritchard von der Universität Chicago hat herausgefunden, dass sich seither noch rund 700 Genregionen verändert haben, also durchaus in historischer Zeit, im Holozän, der "Jetztzeit". 8000 v. Chr. - das war in etwa das Datum, da der Mensch das Paddel und die Keramik erfand. Pritchard geht zum Beispiel davon aus, dass alle Europäer noch bis vor 7000 Jahren die dunkle Haut hatten, die die eingewanderten Vorfahren aus Afrika mitgebracht hatten, damit sie besser vor der tropischen Sonneneinstrahlung geschützt waren.

Doch erfand der Mensch damals nicht nur Bootszubehör und Töpfe, er stellte vielmehr nach und nach sein ganzes Leben um: Vom Dasein als Jäger und Sammler verwandelte er sich im Zuge der Neolithischen Revolution, je nach Neigung, in einen Ackerbauern oder Viehzüchter. Das brachte ihm einerseits Gewinn ein - er säte, erntete und wusste hinterher, was er sich in den Mund tat. Das führte andererseits zu einem Verlust: Der Geruchssinn, den er zuvor zur Prüfung von wilden Früchten und erlegten Tieren benötigte, büßte seine Bedeutung und deshalb auch seine Schärfe ein. Fast zwei Drittel seiner Riechgene verlor Homo sapiens seither. Mit der Vererbung der Sehkraft lief es ähnlich, Kurzsichtigkeit erfasste immer mehr Menschen, was für Jäger und Sammler tödlich gewesen wäre. Weder Beute noch Angreifer hätten sie in der Wildnis erkannt, doch die Bedeutung dieses Auslesemechanismus' ließ nach.

Die Tierhaltung brachte andere Selektionskriterien mit sich, weil durch das Vieh im Haushalt die Seuchengefahr drastisch anstieg. Gerade bei den Gensequenzen, die Forscher mit dem Immunsystem in Verbindung bringen, stießen sie bei 10 000 Jahre alten Funden auf eine ganze Reihe von Änderungen, die sie allerdings noch nicht vollständig zuordnen können.

Immerhin gehen sie davon aus, dass die Veränderung des "Globin-Gens" um diese Zeit damit zusammenhing, dass sich die Menschen dadurch vor Malaria schützen konnten, oder eben - beim Ausbleiben dieser Mutation - früh starben und so ihr Erbgut nicht mehr weitergeben konnten. Ebenso vermuten Wissenschaftler, dass in dieser Ära ein Gendefekt, der keine Schwierigkeiten bereitete und sich deshalb problemlos durchsetzten konnte, eine Abwehr gegen die Pest oder eine ähnliche Krankheit aufbaute, durch eine Veränderung, die die Produktion eines bestimmten Immunproteins betraf. Pest oder anderes - mit aktuellen Geißeln können die Forscher diesen Dreh des Abwehrsystems nicht in Verbindung bringen. Sie vermuten aber, dass es sich um eine heftige Seuche gehandelt haben muss, vor der die Mutation damals schützte, denn noch heute hat jeder fünfte Europäer diesen "Defekt" in seinen Erbanlagen, ohne dass er evolutionären Sinn ergäbe. Das könnte sich ändern. Denn zufällig sind heute die Träger dieses veränderten Protein-Gens - vor allem Europäer - resistent gegen HIV. (Berliner Morgenpost)

Die grundlegende Frage ist diese: ...

Die grundlegende Frage ist diese: Wie gelingt es einem selbst (oder gesellschaftskritischen Gruppierungen), die Unzufriedenheit an gesellschaftlichen (oder privat-familiären [oder privat-nicht-familiären]) Verhältnissen zu kultivieren, und dabei zugleich die Lebensfreude nicht zu verlieren, ja, sie vielleicht durch diese Kultivierung von Unzufriedenheit sogar noch zu steigern?

- Verwahrung Nr. 1 gegen mögliche Mißverständnisse: Der Masochist sucht die Verhältnisse auf, die ihn unzufrieden machen, hier ist schlicht von Verhältnissen die Rede, in die wir - in mehrerlei Sinne - "hineingeboren" wurden. Also sicherlich so einigermaßen im Sinne von Wilhelm Busch:
Das Leben ist vorherbestimmt,
das Schicksal führt uns in Bedrängnis
doch wie man sich dabei benimmt,
ist
unsere Schuld und nicht Verhängnis.
- Verwahrung Nr. 2 gegen mögliche Mißverständnisse: Man merkt, es kann hier nicht die Rede sein von banal-hedonistischer, banal-"selbstverwirklichender" Lebensfreude. Es scheint, als bestehe Notwendigkeit, noch andere Arten von Lebensfreude als möglich annehmen zu müssen.

Es will einem nun scheinen, der beste Weg dazu ist dieser: Fanatische Hinwendung zu Wissenschaft, Kunst und Philosophie in jeder freien Minute des eigenen gelebten Lebens, da Sachlichkeit, "Neutralität", Objektivität, "aus der Zeitlichkeit/Gegenwärtigkeit-Herausgehobenheit" dieser Lebensbereiche sicher stellen, daß man beiden Aspekten des Lebens hier auf dieser Erde gerecht wird: dem unendlich tiefen Leid (persönlicher oder gesellschaftlicher Art) und der - möglicherweise - unendlich erweiter- und vertiefbaren Freude am Leben.

Wege also zu einer "nachchristlichen Ethik"? Es war jedenfalls das gebrachte Zitat von Richard Dawkins (Stud. gen.), das einen in den letzten Tagen aufgerüttelt hat und diese Gedanken hier hervorgerufen hat. Auch Michael Blume's lebensoptimistisches Motto "Religionswissenschaft aus Freude" konnten man ja immer schon als einen gewissen "Stachel" ("im Fleische") empfinden.

Jedenfalls ist eines sicher: Der "hedonistischen Linken" ist es bis heute nicht ausreichend gelungen, ihre Unzufriedenheit - sozusagen mehrheitsbildend, konsensbildend - zu kultivieren. Das sieht wohl Peter Sloterdijk ebenso wie "Studium generale".

Montag, 28. Mai 2007

Psychosen bei Männern mit afrikanischer Herkunft neun mal häufiger

In Großbritannien werden schwarze Männer bis zu 18 mal häufiger als "psychotisch" diagnostiziert als weiße Männer (BBC [über gnxp-forum]). Und sie werden vier mal häufiger in geschlossene Anstalten eingewiesen. Dies hat zu massiven Vorwürfen von Seiten einer offziellen Untersuchungskommission geführt dahingehend, das britische Gesundheitssystem wäre durchtränkt von "institutionellem Rassismus". "Aber in den letzten Monaten hat das Institut für Psychiatrie in London das Argument auf den Kopf gestellt" bzw. richtiger wohl: vom Kopf auf die Füße. In einer Untersuchungen wurden Psychiatern Diagnose-Aufzeichnungen vorgelegt ohne ethnische Kennzeichnung und hierbei stellte sich heraus, daß schwarze Männer immer noch neun mal häufiger als psychotisch diagnostiziert wurden als weiße Männer. Nach Aussage eines Professors Robin Murray legen die Ergebnisse dieser Untersuchungen das Gegenteil des Erwarteten nahe: "Psychiater in Großbritannien neigen bei gleichen Symptomen weniger dazu, einen Menschen mit schwarzer Hautfarbe als psychotisch zu diagnostizieren als einen Menschen mit weißer Hautfarbe."

Es würde sich also tatsächlich um "institutionelle Diskriminierung" (Benachteilung) handeln, aber im umgekehrten Sinne als der Vorwurf lautete. Nämlich durch die zögerliche Diagnose gegenüber schwarzen Menschen werden deren Probleme eher vertuscht. Genau diese Zurückhaltung in der Diagnose wird jetzt als falsch beurteilt, denn sie würde dazu führen, daß man nicht genug auf die Beseitigung der Ursachen drängen würde. So sehen das auch Psychiater, die selbst karibischer oder afrikanischer Herkunft sind.

Im weiteren werden genetische (Mit-)Ursachen für Psychosen (noch) nicht diskutiert oder in Erwägung gezogen, sondern es wird davon ausgegangen, daß die Ursachen sozialer Art seien: "Geringer Familienzusammenhalt, mangelnde Integration, geringe Schulbildung, Arbeitslosigkeit und Cannabis-Konsum".

Aber angesichts so vieler inzwischen schon entdeckter ethnischer Unterschiede in der medizinischen Genetik, in der Verhaltensgenetik und in der IQ-Genetik sollte es eigentlich auch nicht gar so fernliegend sein, genetische Populations-Unterschiede bei Psychosen anzunehmen.

Wie in jedem anderen Fall auch würde die Feststellung einer besonderen genetischen Veranlagung nicht heißen, daß damit die Gesellschaft von ihrer Verantwortung für das Auftreten solcher Krankheiten entlastet wäre. Dies ist mir in Diskussionen hier auf dem Blog und privat inzwischen zum Beispiel bezüglich von ADHS klar geworden: Mit solchen Veranlagungen haben Menschen über Jahrhunderte leben und sich fortpflanzen können, warum sollte es dann heute nicht möglich sein, damit ein normales Leben zu führen? Das heißt, die gesellschaftlichen und sozialen Ursachen müssen auch, wenn genetische (Mit-)Verursachungen bekannt sind, genauso ernsthaft in Rechnung gestellt und abgestellt werden wie wenn keine genetischen (Mit-)Verursachungen bekannt sind. Das Wissen um eine genetische Veranlagung entlastet niemanden. Im Gegenteil, ich würde meinen, für ADHS gilt: Wenn man die genetischen Zusammenhänge genauer kennt, würde man die Details der Ursachen der Krankheit und ihre vielen Spielarten genauer kennen und noch viel "spezifischer" und an den Einzelfall angepaßter reagieren können.

Eine Mutter, mit Humor ....

Kinder oder Kunst? - oder Kunst, die bald keine Kinder mehr hat?

Dieser Beitrag hatte zunächst - aufmerksamkeits-erheischend - genannt werden sollen: "Zwei typische lesbische Intellektuelle ..." Nein, keine gute Idee ... 

Abb. 1: Umschlagbild der Zeitschrift "Weltkunst", August 2023

Die "Kulturellen Welten" von Joern Borchert weisen den Leser auf einen Artikel hin, einen wunderschönen, in der eine schwangere Kunsthistorikerin über ihr Leben berichtet (1). Er ist so wunderschön, eine solche Seltenheit, eine solche Perle in der modernen Publizistik, daß man es nicht unterlassen kann, ihn hier vollständig wiederzugeben - oder bitteschön, wo könnte man hier irgend etwas kürzen? Denn wer, ich frage, wer, der mit Kindern auch nur irgendwo unterwegs war, wüßte nicht ähnliches zu berichten wie sie?

Ich bin Kunsthistorikerin und habe zeitweise als Reiseleiterin gearbeitet. Ich habe Lateinlehrer durch die Ruinen des Forum Romanum geführt und Renaissance-Experten durch die Uffizien. In Museen fühle ich mich zu Hause. Nun habe ich zwei kleine Söhne und bin im sechsten Monat schwanger mit dem dritten Kind.

In meiner Kindheit habe ich mit Puppen gespielt und mit meiner kleinen Schwester im Garten aus Moos Höhlen für Schlümpfe gebaut. Die Vorlieben meiner beiden Söhne, die in New York ohne Garten aufwachsen, gelten Autos und Zügen. Eine Babypuppe, die ich in einem Anflug von Naivität und Experimentierfreude gekauft habe, wurde schnell ausgezogen und landete dann in einer Ecke. Aber Eltern lernen, ihre Kinder zu verstehen und ihren Eigenheiten Raum zu geben. Ich zwinge meinen Söhnen keine Puppen mehr auf, sondern lerne Schienen aneinanderzureihen und Kugelbahnen zu konstruieren. An einem Wochenende in Berlin werden nicht mehr die Tempel der Kunst angesteuert, sondern Bahnhöfe oder Flughäfen. Anstatt Schloss Charlottenburg steht dann eben das Schiffshebewerk Niederfinow auf dem Programm. Aber wie kommt die Mutter trotzdem zur Kunst?

Zwar habe ich Puppen aufgegeben, aber ich versuche weiterhin, meinen Söhnen die Welt der Museen schmackhaft zu machen. Es gibt Kompromisse: das Museum of Natural History zum Beispiel. Die beeindruckenden Dioramen mit Eisbären oder Zebras und der riesige Blauwal in der Halle des ozeanischen Lebens sind faszinierend. Allerdings üben die für mich unbeachtlichen Aufzüge oder die ungesunden Snacks in der neonbeleuchteten Cafeteria auf meine beiden Racker einen weitaus größeren Zauber aus.

Am Wochenende waren wir im Brooklyn Museum of Art, wo mich besonders eine Ausstellung über den amerikanischen Landschaftsmaler Asher Durand und der neue Flügel für feministische Kunst interessiert haben. Arthur ist vier Jahre alt und geht mit den nötigen Versprechungen („nachher fahren wir mit dem Pferdekarussell“) schon brav für fünfzehn bis zwanzig Minuten durch die Galerien. Gustav ist ein zweieinhalbjähriges Energiebündel und lässt noch nicht mit sich handeln. Festgezurrt in seinem Kinderwagen blieb er nur ruhig, wenn er sich selbst aus einer großen Tüte mit „Kidzels“, das sind kleine Brezeln in Form von Autos oder Flugzeugen, bedienen durfte.

Wir betraten die dunkelrot gestrichene Galerie mit den heroischen Landschaften des neunzehnten Jahrhunderts. Aah! Hudson River School! Das verwaschene Wolkengrau, das herrliche Laubgrün, das warme Herbstrot, das Sonnengelb . . . Das Knistern der Kidzel-Tüte hielt sich im Rahmen, Gustavs Kauen war kaum hörbar. Mit Adleraugen achtete ich darauf, dass kein Krümel aufs Parkett fiel. Trotzdem kam natürlich sofort ein uniformierter Wärter mit erhobenem Zeigefinger auf uns zu: „Im Museum wird nicht gegessen.“ Ich antwortete mit viel Verständnis und flehendem Blick: „Nur so kann ich ihn ein paar Minuten ruhig halten. Bitte - ich passe auch auf.“ Da wir in Brooklyn und nicht in Manhattan waren, ließ der gute Mann Gnade vor Recht walten. Gustav durfte seine Brezeln behalten.

In der Zwischenzeit lief Arthur auf eines der Gemälde zu, Asher Durands berühmtes Werk „Kindred Spirits“, das die Public Library vor kurzem für mehr als 35 Millionen Dollar verkaufen musste und das nun als Leihgabe aus Arkansas in Brooklyn hing. Er hatte seinen Zeigefinger vorsichtig, fast schon rührend, nach der Leinwand ausgestreckt. Ich rannte hinter ihm her, um das Bild zu retten, wollte trotzdem aber meinem Sohn keinen Schreck einjagen. Einen Zentimeter vor der Berührung legte ich bestimmt, aber ruhig meine Hand um seinen kleinen Finger und erklärte ihm: „Arthürchen, dieses Bild ist über hundert Jahre alt. Hier darf man nichts anfassen, weil alle diese Bilder leicht kaputtgehen können. Manchmal fällt einfach ein Stückchen Farbe ab.“ Dann fügte ich noch hinzu: „Eigentlich darf man überhaupt nie etwas in einem Museum anfassen“ und hob zwei Stückchen Brezel vom Parkett auf.

Arthur wollte auch Brezeln. Ich steckte ihm einige in die Jackentasche. Asher Durand und die Hudson River School, amerikanische Wälder, Berge, Wasserfälle, Männerfreundschaft, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang zogen im Sauseschritt an mir vorbei, während die Räder des Kinderwagens über das Parkett quietschten und meine Augen Gustavs Brezeln folgten. Wie viele kann er noch essen, bevor es ihm langweilig wird? Schnell gleitet mein Blick über die Wände. Die Zeit reichte nicht, die Erläuterungen zu lesen oder mehr als eine Minute vor einem Bild stehen zu bleiben. „Schau mal hier, ein Reh an einem Fluss. Und was für riesige Bäume!“ Ich versuchte, Arthurs Interesse zu wecken. „Fressen Löwen Rehe?“, fragte er. „Ja, wenn sie eins erwischen, dann würden sie es wahrscheinlich fressen.“ Wir gehen weiter.

Trotz drohender Brezel-Fatigue versuchte ich nun auch noch, mir auf die Schnelle wenigstens einen ersten Eindruck des neuen feministischen Flügels zu bilden, mit achtzig zeitgenössischen Künstlerinnen, Skulptur, Malerei, viel Fotografie und Video. Ein Busen, aus dem Milch tropft, eine Frauenleiche im Wald, Alice im Wunderland, Märchen, Raben, Blut, Göttinnen und Kratzbürsten - alles aus dem Augenwinkel. Eine tätowierte Frau stillt ihren Säugling. „Schaut mal, Arthur und Gustav, das Baby trinkt am Busen von seiner Mama. So habe ich euch beide auch gefüttert, als ihr noch ganz klein wart.“ „Kommt aus meinem Busen auch Milch raus, wenn ich groß bin?“, will Arthur wissen. „Nein, das können nur Frauen und auch nur, wenn sie ein Baby haben. Männer können andere Sachen.“

Gustav schleudert die Kidzel-Tüte auf den Boden: „Will raus!“ Arthur: „Was können denn Männer?“ Ich hebe die Brezeln und die Tüte auf. „Das sage ich dir nachher.“ „Will raus!!!!“ Ich schiele auf den Eingang zum Hauptwerk der Ausstellung, das einen eigenen, sakral beleuchteten Raum belegt. Judy Chicagos ikonische „Dinner Party“ besteht aus einer im Dreieck installierten Tafel, die für mythologische und historische weibliche Persönlichkeiten gedeckt ist. Wegen Wartezeiten haben wir uns ein Extra-Ticket geholt. Wir dürfen jetzt hinein. Wenigstens einmal schnell im Dreieck gehen, denke ich und schiebe den Kinderwagen hinein.

„Will raaaaaaaauuuuuus!“ Gustav heult. Ich renne. Zwei lesbische Intellektuelle, typische Brooklyner Intelligenzija, werfen mir bitterböse Blicke zu. Weil ich renne? Weil ich schwanger bin und renne? Weil ich zwei Söhne mitgebracht habe, die nicht hier sein wollen? Ich will nur noch raus an die frische Luft, schleife Arthur hinter mir her, finde den Aufzug, renne aus der Lobby raus. Endlich kann ich Gustav abschnallen. Er rennt in Richtung Park. Er weiß, wo der Spielplatz ist, dessen Klettergerüste in den Farben Quietschlila und Gifttürkis gehalten sind und meinen Augen Schmerzen bereiten. Arthur rennt auch, und schon klettern, quieken und lachen sie. Ich habe acht Jahre Kunstgeschichte studiert. Ich schließe die Augen und versuche mich an Asher Durands Landschaften zu erinnern.

Der Text ist erschütternd. Er sagt genau das Identische aus, was ich auch - schon viel zu oft - erlebt habe. Genau identisch. Kleine Spielecken in Universitäts-Bibliotheken, Museen etc. könnten schon viel Erleichterungen schaffen. In den großen Häusern, in denen Autos verkauft und repariert werden - etwa bei Opel - haben sie solche Spielecken schon. (Man weiß: ... Autos ...) (Auch MacDonald's, wie man hört ...) Jetzt müßte man nur noch eine Person daneben stehen haben, die auf die Kinder achtet, wenn man - zufälligerweise - selber grad mal nicht auf sie hinschaut. Oder eben einfach - "irgendwie" - "unterstützende Verwandtschaft". Eine ältere, 15-jährige Cousine der eigenen Kinder wäre etwas, eine Großmutter, ja, auch ein Kindermädchen, na, ... Sie wissen schon!

Abb. 2: Umschlagbild der Zeitschrift "Weltkunst", Februar 2024

Ergänzung 2024: Die Autorin Lisa Zeitz (geb. 1970) (Wiki) ist seit 2012 Chefredakteurin des Magazins Weltkunst.

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  1. Lisa Zeitz: Museumsbesuch mit Kindern. Die große Brezel-Verschwörung, Text: F.A.Z., 19.05.2007, Nr. 115 / Seite Z4 (FAZ2007)

Die Kinderseele - ein Weg zu Gott für erwachsene Menschen

Die Beweggründe, die die derzeitige "Krippenpolitik" veranlassen, sind von vornherein die denkbar schlechtesten, ja verwerflichsten. Denn es wird ja ganz offensichtlich nicht an erster Stelle gefragt: Was ist gut für das Kind? Sondern es wird gefragt: Was schädigt das Kind nicht besonders stark, so daß man es ihm durchaus auch einmal antun kann? Und diese letztere Frage wird ganz klar gestellt nicht aus persönlicher, etwa wirtschaftlicher Not heraus, womit in früheren Jahrhunderten solche Überlegungen sicherlich berechtigterweise gerechtfertig sein konnten (- und selbst dann wurden sie vielleicht viel seltener angestellt als heute!), sondern um der schlichten persönlichen Selbstverwirklichung erwachsener Menschen willen. Das ist eine Feindschaft gegen elterliches Handeln an sich. Denn elterliches Handeln heißt per se Verzicht auf persönliche Selbstverwirklichung. Das ist ja der tragende Inhalt elterlichen Handelns.

Da ist also von vornherein unwahrscheinlich tief der Wurm drin, man kann kann das nicht anders sehen. Und wer dagegen auch nur "polemisiert", macht sich fast schon mitschuldig, da sich solche Haltungen im Grunde von vornherein gänzlich von selbst verurteilen. Wer möchte denn ein so schlechter Mensch sein, eine so schlechte Gesellschaft gestalten, in der trotz - geschichtlich gesehen - nie dagewesenem Reichtum das Kindeswohl nicht an erster Stelle steht, sondern die persönliche Selbstverwirklichung erwachsener Menschen?

Man mag sich also richtiggehend schämen für ein paar der emotionalen Stellungnahmen zu diesem Thema in den letzten Tagen. Man muß solche gesellschaftlich weit verbreiteten, ja vorherrschenden Haltungen einfach nur mit einer unwahrscheinlich kalten Verachtung strafen, anders wird man ihnen nicht mehr gerecht. Und man muß sich auch klar machen: Elternliebe ist keine Naturkonstante. Sondern sie unterliegt hoher Variabilität, die auch durch gesellschaftliche Umwelten stark beeinflußt werden kann.

Schon in einem früheren Beitrag haben wir auf die Kinderpsychologie einer gewissen Mathilde Ludendorff (1874 - 1966) hingewiesen (Studium generale). Aus ihrem Buch "Des Kindes Seele und der Eltern Amt - Eine Philosophie der Erziehung" (Erstauflage 1930) sollen nun noch einige Auszüge gebracht werden. Dabei muß natürlich berücksichtigt werden, daß die eine oder andere Redewendung der Entstehungszeit des Buches geschuldet ist, und daß die Autorin den "völkischen Lebensreformern" nahestand, die nicht zimperlich waren in politischen Aussagen. Natürlich wurde von diesen damals der Kommunismus als völkerzerstörend angesehen. Aber nicht nur dieser, sondern jede "Kollektivierung", also auch jene, die der Faschismus anstrebte. Was aber viel wesentlicher ist und worum es eigentlich geht, ist, daß einem selten eine so schöne Sprache über Kinder und Kinderseelen in anderen Büchern begegnet ist. Und die Autorin begründet auch, daß man bei all dem Hochpreisen der Kinderseele, die sie auf eine Stufe stellt mit so vielen anderen Schönheiten in der Natur, auch die "andere Seite" genauso sehen muß. In dem Kapitel "Das Geistern kommender Gefahr" schreibt sie zum Beispiel:
"... Aber unwahr wären wir, Selbstbetrüger und feige Schönfärber, wollten wir hiermit den Blick in die Kinderseele enden lassen. Wo immer uns die Natur ihre Schönheit zeigt, da ist sie von Gefahr umloht, von Vernichtung bedroht, von unerbittlichem Verderben umlauert, verschwenderisch in der Fülle der Gefahren wie in dem sinnvollen Schutz gegen sie, in beiden so ganz anders als Menschenwerk. Wer nicht die Kraft hat, voll Ernst auf diese andere Seite zu sehen, der hat sich gar nicht das Recht erworben, sich an der unerhörten Schönheit und Erhabenheit zu erfreuen und sie zu schildern!" (Auflage 1954, S. 187)
Nach dieser wichtigen Vorbemerkung sollen nun einige Auszüge gebracht werden, die aber von vornherein vollkommen unvollständig sein müssen, da es sich um Auszüge aus einem 470 Seiten starken Buch handelt.

"... Eine Kinderseele will belauscht sein, lange und oft ..."
"... Eine Kinderseele will belauscht sein, lange und oft in allen Lebenslagen, und noch mehr als die des Erwachsenen gibt sie immer neue Rätsel auf. Ja, sie muß um deswillen noch sorgsamer beobachtet werden, weil mit Ausnahme entarteter und entartender Geschöpfe das Kind zwar wahrhaftiger und echter ist als die meisten Erwachsenen, aber eine wunderbare Keuschheit des Gefühls zeigt, die es ihm unmöglich macht, Fernstehenden gegenüber überhaupt aus sich heraus zu gehen. Deshalb habt Ihr Mütter, die Ihr Euch den Seelenreichtum der persönlichen Betreuung der Kinder vom ersten Tage des Lebens an habt entgehen lassen, Euch gewiß viel Mühe und Arbeit erspart, aber Ihr habt nie Eure eigenen Kinder und noch wahrscheinlicher nie die Kinderseele an sich kennengelernt. Hättet Ihr sie erleben dürfen, so wäret Ihr wahrscheinlich gar nicht imstande gewesen, Euch selbst eines so tiefen und reichen Lebensglückes, nämlich dieses Belauschens einer erwachenden Menschenseele, zu berauben. Es muß dies gesagt werden, wenngleich vielen durch die Not von den Kindern weggepeitschten Müttern und gar vielen Vätern hiermit doppelt bewußt wird, was sie sich nicht erhalten konnten. Glaubt nicht, Ihr hättet Euch das Glück Eures Elternamtes dadurch gesichert, daß die Behüter Eurer Kinder sie Euch täglich kurz vorführen! Ein Kind läßt sich nicht aufschlagen wie ein Buch, das man vom Bücherständer herunterholt. Es gibt nicht zu einer bestimmten Tageszeit Probeleistungen seiner Erkenntnisse, Gefühlsbeweise und Inhaltsverzeichnisse seiner Seele. Ja, weil Ihr es so selten seht, quält Ihr es gerade leicht mit solchem Verlangen, und dann schließt sich die Kinderseele wie eine Blüte, wenn die Sonne schwindet, und Ihr erhascht nur sehr selten blitzartige Einblicke in sie. Fremd und fern aber klingt ihm alles, was Ihr in gänzlicher Unkenntnis seiner Seele an das Kind hinhandelt, hinfühlt, hinredet. ..."
(Aus dem Kapitel "Der Gott und das Säugetierchen", Auflage 1954, S. 114f.)
"... Wer sich von solchem Umdichten, von solcher märchenhaften Verzauberung der Umwelt, die des Kindes Seele treibt, aus eigenem Erleben einen Beweis geben will, der erinnere sich zunächst recht lebhaft an die Wohnstätte seiner Kindheit, an den Garten, in dem er spielte, an die Landschaft, durch die er trippelte, und dann gehe er zu diesen Stätten als Erwachsener hin! Es schrumpft nicht nur alles in den Größenmaßen zusammen, weil er selbst als Größerer darin steht, sondern es ist alles so ganz anders, viel nüchterner als sein Erinnerungsbild. 'Entzaubert' ist der richtige Ausdruck für diesen Unterschied. Doch trotzdem genießt er den Aufenthalt wie eine seltsame wehe Freude, denn die Seelenverfassung, in der er diese Orte früher wahrnahm und zauberisch umkleidete, tritt ihm viel näher als sonst, und das Heimweh, das Brahms in dem Liede 'Oh, wüßt' ich doch den Weg zurück' in so innige Töne faßt, füllt sein Inneres ganz und gar."
(Aus dem Kapitel "Das träumerische Verweilen im Zauberreiche der Phantasie", S. 139)
"... Der größte Zauber, der hier von ihm erfrischend auf solche Erwachsenen übergeht, ist wohl der, daß das Kind seine Umgebung natürlich für ebenso unverdorben und ebenso gottdurchsonnt hält, als es selbst ist. Wie Balsam legt sich dies Vertrauen auf die verwundete Seele eines mit sich und den Menschen Verfallenen, mit einer Flut unwürdiger Taten und Worte Belasteten und vom Gotterleben getrennten Menschen. - Gar oft war ein Kind, ohne es ahnen zu können, dem Erwachsenen, der ihm Erzieher sein sollte, aber nicht werden konnte, ein Führer zur Freiheit. Seine Füße tippelten, ohne daß es sich dessen bewußt wurde, den Weg voran und führten den Lebwunden aus den krausen Irrgängen hinaus auf die sonnige freie Erde."
(Aus dem Kapitel "Der heilige Friede der Vorschöpferstunde", S. 153)
"... Bei der Betrachtung der Kinderseele erging es uns nicht anders als bei dem Beschauen der Blumenwelt. Unfaßliche Schönheiten sehen wir gepaart mit sinnvollen Fähigkeiten für das Leben. Man muß schon mit stumpfen Sinnen, ja blinden Augen durch das Leben gehen, wenn man angesichts solcher Offenbarung des Göttlichen, wie die Kinderseele sie uns vor Augen führt, zum 'Materialisten' entarten kann oder aber glaubt, man müsse einer solch staunenswerten Schöpfung abergläubische Zauber- und Wunderlehren erdichten, damit etwas 'Wunderbares' das Gemüt bewegen könne."
(Aus dem Kapitel "Die schirmende Hülle der Schöpferwerkstatt", S. 170)

"Vorzeitiges Herauszerren der Kinder aus ihrem Nestchen ..."
"... So können wir getrost sagen, daß nur ein kleiner Bruchteil all der möglichen Schädigung, die an das Kind herantritt, sich tatsächlich auf seine Seele auswirken und wir deshalb seine Schutzmaßnahmen, die es unbewußt anwendet, sehr bewundern müssen. Freilich setzt dieser Erfolg seiner Abwehr natürliche Aufzuchtverhältnisse voraus, vor allem also das Großwerden im Nestchen, im Schoße der Familie. (...)

Wir sind gewohnt, daß alle bewußten Volksvernichter und Volksschwächer vor allem die Familie zu zerstören trachten und die Kinder dem Elternhaus zu entziehen suchen, je früher, desto besser! Aber für gewöhnlich herrscht große Unklarheit über die Seelengesetze, die, ganz abgesehen von der Art der erzieherischen Einflüsse der Familie im Einzelfalle, das Aufwachsen im kleinen Kreise der Familie fast zu einem Lebensbedürfnis machen und ein Gedeihen der Kinderseele unter einer großen Schar von Altersgenossen fern vom Elternheim sehr erschweren.

Weil man bei der vielen Arbeit ja doch so wenig Zeit für die Erziehung der Kinder hat oder sich so wenig dazu eignet, glaubt man, an dem Kinde sogar ein gutes Werk zu tun, wenn man es früh in große Erziehungsanstalten gibt; und doch ist dem Kinde ein Elternheim, selbst wenn es seine Eltern nur kurze Zeit am Tage sieht, bekömmlicher als die Aufzucht in Anstalten, auch dann, wenn die Eltern nicht musterhafte Erzieher sind. Es gibt nur seltene, ganz außergewöhnlich ungünstig gelagerte Fälle, für die diese Gesetze nicht anwendbar sind. Des Kindes Seele will, wie das Jungvögelchen, im traulichen Neste sein. Im übrigen kann es seine schirmende Hülle um sich legen, wenn immer ein Schaden von außen sein Inneres zu zerstören droht. Unsere Besorgnis muß diesen Selbstschutz des Kindes voll in Rechnung ziehen, und die Seelengesetze, die die Ursache der Bekömmlichkeit der Familienaufzucht sind, müssen erkannt werden. Dann erst wird begreiflich, daß trotz aller Torheiten in der Aufzucht, trotz der vielen ungünstigen Vorbilder, die die Eltern geben, alljährlich so viel gesunde Jugend die Schwelle der Elternhäuser überschreitet, um hinaus in die 'große Welt', in den Kampf ums Dasein, zu treten oder zunächst in der Fremde die Ausbildung zu vollenden.

Der heilige Friede der Vorschöpferstunde in des Kindes Seele wird, so erwähnten wir, gesichert durch den Vorfeiertag des Lebens, und beides wird am besten in dem kleinen Kreis der Familie gehütet. Je näher wir der Kinder Schicksal betrachten, um so merkwürdiger will uns die Tatsache dünken, daß dem Kinde selbst eine so ungünstige Umgebung im Schoße der Familie besser bekömmlich ist als die wohldurchdachteste Aufzucht in großen, trefflich geleiteten und ausgestatteten Erziehungsheimen, in denen es inmitten einer großen Kinderschar aufgezogen wird. Diesen Gesetzen nachzugehen ist in einer Zeit, in der von Volksfeinden und Völkerverderbern dem Elternhaus Abbruch droht, doppelt wichtig. Die Kraftquelle des Volkes und des einzelnen Kindes ist die Familie, trotz aller ihrer Unvollkommenheiten im Einzelfall, trotz aller der erzieherischen Fehler einzelner Eltern, bis auf eine verschwindende Zahl von Ausnahmefällen größter häuslicher Mißstände. Woran liegt das?

Erinnern wir uns an eine Tatsache, die uns aus der Blumenpflege wohl bekannt ist, um dem hier herrschenden Gesetz auf die Spur zu kommen. Wenn wir eine Pflanze, um sie so recht zu hegen und zur Blüte zu bringen, in unseren Zimmern je nach dem Stande der Sonne herumtragen, so erreichen wir freilich, daß sie den ganzen Tag Sonnenschein genießt. Setzen wir eine zweite Pflanze der gleichen Art an ein und denselben Platz, der nur wenig Sonne am Tage hat, und wechseln ihren Standort nicht, so werden wir gar bald bemerken können, daß die Pflanze, die bei weitem weniger Sonnenlicht empfängt, aber ihren gewohnten Platz innehat, erheblich besser gedeiht als die andere, die den ganzen Tag Sonnenstrahlen schlürft, aber sich an mehrere wechselnde Standorte immer wieder neu anpassen muß. Jedes Blatt stellt sich in die für seinen Standort günstigste Winkelstellung zum Ast, und unsere herumgetragene Pflanze muß mit dieser großen Kraftleistung, die die allmähliche Umstellung der Blätter verlangt, immer wieder von neuem beginnen.

Ein ganz ähnliches Seelengesetz besteht für die Kinderseele. (...)

Hat es einen wilden, etwas grausamen, aber durch gewisse Gefälligkeiten zu besänftigenden älteren Bruder, so dauert es nicht lange, bis das Kind sich diesen Gefahren gegenüber so gut wie möglich schützt. So gedeiht es trotz Sonnenkargheit wie unsere Pflanze, weil es sich mit Leib und Seele auf den Platz, an dem es aufwächst, einstellt. Bringen wir es aber in die große Schar eines Erziehungsheimes, so hat es nicht nur viele erwachsene Erzieher, sondern alle Kameraden wirken auf das Kind ein und verletzen es nur zu oft. Es muß sich gegen alle wehren, steht also schon mitten im 'Lebenskampf'. Wenn nun auch die vorzüglichste Erziehungsanstalt für möglichst viel Sonnenstrahlen sorgt, so gedeiht es ganz wie die herumgetragene Pflanze nicht besser, sondern weniger gut als in der Familie. Es sieht sich in der gleichen Lage wie die Pflanze. Es muß den ganzen Tag mit seinen Abwehrmaßnahmen wechseln, arbeitet hierfür in seiner Seele mit steter Wachsamkeit, und der heilige Friede der Vorschöpferstunde ist vorüber. So ist der Übergang aus der Familie in eine größere Gemeinschaft für das Kind immer der Schritt hinaus ins Leben, ganz unabhängig davon wie alt es eigentlich ist. Bis zu einem gewissen Grade gilt dies schon, wenn es zur Schule geht. Das Umhegtsein im engen Kreise, am gewohnten Plätzchen, mit den gewohnten, gut abgewehrten Gefahren hört nun auf. Fortwährend muß die Seele sich schützen, will sie nicht bis ins Innerste verwundet werden. Hat aber das Kind nach den Schulstunden noch sein trautes Heim, so ruht nun sein Seelchen in dem Altgewohnten von dem Wechsel aus. (...)

Das stete Wechseln der Abwehrmaßnahmen, wie es für jedes Kind notwendig ist, das man früh aus seinem Elternheim vertrieb, raubt also der Kindheit viel von ihrer Ruhe. Es nimmt dem Vorfeiertag des Lebens, es nimmt der Vorschöpferstunde die Stille. (...) Vorzeitiges Herauszerren der Kinder aus ihrem Nestchen ist also ein seelengefährdendes Unheil. Eltern sollten sich ihre Kinder nie ablisten lassen; sie sollten sich auch nie durch die verführerischen Worte, daß andere ja die Aufzucht besser verständen als sie selbst, betrügen. Die Worte klingen sehr bescheiden, sind aber oft nichts anderes als schlecht verhohlene Bequemlichkeit. In einer Zeit, in der der Kinderraub dem Elternhaus mehr denn je droht, muß ganz besonders eindringlich erklärt werden, weshalb das warme Nest, das Elternhaus, dem Kinde unersetzlich ist."
(Aus dem Kapitel "Die schirmende Hülle der Schöpferwerkstatt", S. 174 - 178)
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