Mittwoch, 11. April 2007

"Müssen wir zur eigenen Verteidigung selbst zorniger werden?"

Sloterdijks neues Buch "Zorn und Zeit"

/ Vorbemerkung (23.7.2025): Der Religionswissenschaftler Dr. Michael Blume trat im Jahr 2007 als einer der ersten deutschen Wissenschaftler auf, der auf dem Gebiet einer Evolutionäre Religionswissenschaft wichtige Erkenntnisse heraus gearbeitet hat und popularisiert hat (über den Zusammenhang zwischen Religion und Demographie). Dieser Umstand faszinierte damals auch den vorliegenden Blog und es hat damals zwischen dem vorliegenden Blog und dem Blog von Michael Blume mancherlei lebhaften Austausch gegeben. Es kam auch zwei mal zu persönlichen Begegnungen mit Michael (in Berlin und Frankfurt). Michael bedankte sich damals bei uns, daß wir schon zu einer Zeit auf seine Forschung aufmerksam geworden waren und auf diese aufmerksam machten, als er öffentlich noch keinerlei Bekanntheit hatte. Heute, im Jahr 2025 braucht der Antisemitismus-Beauftragte des Landes Baden-Württemberg nicht mehr die Fürsprache eines solchen Wissenschaftsblogs wie des unseren, um in der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit Fuß fassen zu können. Der Wissenschaftsblog von Michael Blume aus dem Jahr 2007 ist inzwischen leider auch längst gelöscht und nicht mehr zugänglich. Womöglich will Michael auch an manche Debatten aus damaliger Zeit gar nicht mehr erinnert sein. Denn im Kommentarbereich seines Blogs hatte es damals sehr lebhafte, völlig offene Auseinandersetzungen gegeben, an die ich gerne zurück denke. / 

***   

Da bei Michael Blume gerade Peter Sloterdijk erwähnt wurde  (1), könnte einem bewußt werden, daß man doch noch einmal genauere Auskünfte einholen sollte über sein neuestes Buch "Zorn und Zeit". Peter Sloterdijk macht in diesem Buch "viele Worte". Findet sich womöglich irgendwo auch eine Kurzfassung?

Vielleicht das Cicero-Interview aus dem November letzten Jahres, des Jahres 2006? (s. Cicero - aber Link funktioniert nicht mehr) Im folgenden ein paar Auszüge aus seinem Interview, das der interessiertere Leser natürlich sowieso selbst vollständig lesen wird. - Die folgende Antwort klingt schon einmal recht spannend (es ist die dritte des Interviews):

... Ihr neues Buch „Zorn und Zeit“ wirkt wesentlich programmatischer und ernster als Ihre vorigen Werke…
Das stimmt. Es ist das erste Buch aus meiner Feder, bei dem ich selbst das Gefühl habe, dass es dem Autor über den Kopf wachsen könnte, weil der Gegenstand so ernst und so titanisch ist und weltgeschichtliche Perspektiven einschließt. Dieses Ernstfallgefühl ist singulär. Es ist ja eine Auseinandersetzung mit dem Erbe des 19. und 20. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Zornverwaltung, der Stoff, aus dem die Katastrophen sind. Die Unheimlichkeit des Gegenstands hat mich in der Tat eingeholt.

Aber dann:

Nun sind Sie ein leidenschaftlicher Schöpfer neuer Begriffe, und einer dieser Begriffe im neuen Buch ist die „Zornbank“. Haben Sie den Begriff bewusst der ökonomischen Welt entlehnt?
Es geht im Hintergrund um eine allgemeine Theorie der Banken ...

Niemand möchte abstreiten, daß der Herr Sloterdijk Sinn für Humor hat. Aber im folgenden wird "wieder mal" "alles" auf das Ökonomische "heruntergeschraubt", wenn auch nur bildhaft. - Im weiteren geht es um ...

... Rollen für Philosophen (gemeint: heute). Da ist der Typus des kühlen Diagnostikers wie Kant, des ärztlichen Therapeuten wie Wittgenstein, des theologischen Visionärs wie Heidegger oder des Weltverbesserers wie Marx. Was sind Sie, der zornige Individualist des Gewerbes?
Mein Habitus ist eher Ungeduld als Zorn, auch wenn es da kurze Brücken gibt. Mein Zorn wirkt immer noch amateurhaft, ich habe ihn nie trainiert. Ich stehe also ungeduldig irgendwo zwischen Heidegger und Marx. ...

Ungeduld mag durchaus eine Eigenschaft sein, die man kultivieren kann. Und auch dieser Antwort kann man Sinn entnehmen, das heißt, man versteht die Absicht von Sloterdijk und könnte sie teilen. Weiter heißt es:

Das 20. Jahrhundert war doch gerade das Jahrhundert der Zornbanken, in den faschistischen und stalinistischen Bewegungen sammelte sich der Zorn und entartete dann…
Aber diese Bewegungen haben keine Sprache für sich gehabt, konnten die psychologische Wahrheit über sich selbst nicht aussprechen, es dominierte der Erotizismus (gemeint: von Sigmund Freud), insofern scheint mir eine Rückkehr zur bipolaren Psychologie der Griechen sinnvoll.

Ab dieser Stelle wird es nun in diesem Interview wirklich spannend. "Eine Rückkehr zur bipolaren Psychologie der Griechen." Was für ein ungewöhnlicher Gedanke. Und die folgende Antwort kann einem dann sogar besonders gut gefallen:

.... Müssen wir zur eigenen Verteidigung selbst zorniger werden?
Nicht zornig, sondern stolz, wir müssen den ganzen Pol des Thymotischen erst wieder entdecken, auch in der Theorie müssen wir eine Psychologie entwickeln, nicht für Patienten, sondern für Kämpfer, oder anders und besser gesagt, für Leute, die in Form sind. Der Patient ist der Mensch ohne Stolz, das ist das Ergebnis von hundert Jahren Therapiekultur, das konvergiert mit dem Homo consumens, den der Kapitalismus herstellt, alles läuft auf diese Erotisierung hinaus, deswegen verstehen wir den Thymotiker (also den zornigen Menschen) auch nicht, und die Islamisten sind überwertige Thymotiker. Es wäre eine falsche, von der Psychoanalyse nahegelegte Herablassung zu sagen, der Stolz meldet sich nur bei Menschen, die erotisch nicht zum Zuge kommen, sozusagen ein Ersatzprogramm des Eros für die, die es nötig haben, der Stolz kommt allem Nötighaben zuvor, er ist die im Sein selbst gesetzte Tendenz, geltend zu machen, was man will und was man kann. Und wenn das zu sehr deformiert, entstehen ressentimenthafte Ausbildungen des Stolzes.

/ (23.7.2025) All das sind goldene Worte, goldene Worte. Man erstaunt auch noch im Jahr 2025, fast zwanzig Jahre später über sie!!! Noch heute, im Jahr 2025, wirken sie wie neu, völlig unverbraucht. Es hat sich in diesen zwanzig Jahren - so wird einem bewußt - in Bezug auf diese Thematik so gut wie nichts getan. Also Weiterführendes, Gelungenes. Weder auf der Ebene des gesellschaftlichen Handelns, noch auf der Ebene der theoretischen Durchdringung!!! / Dann geht es - natürlich - um den Monotheismus (Stichwort: "Ressentiment"). Aber, meine Güte, was soll dazu noch Neues gesagt werden. Aber dann dies:

... Und welche Herausforderungen hätten Sie da im Sinn?
Es spricht eigentlich alles für das Sportliche, die Griechen hatten einen öffentlichen Ringplatz, die Palaistra, auf dem junge Männer, die sich zeigen wollten, gegeneinander antreten konnten, darauf läuft es letzten Endes hinaus, und das ist Kulturarbeit, das ist die Arbeit der Zivilisierung der Gefühle überhaupt, daß man diesen Gefühlen ein Parlament gibt, eine Arena, in der sie sich zeigen und klären können, der Westen hat Erfahrungen hiermit ...

/ (23.7.2025) Ebenso große, goldene Worte, ebenso völlig unverbraucht. Denn in dem Sinne, in dem sie hier ausgesprochen sind, hat sich wiederum innerhalb der letzten 20 Jahre nichts getan, nichts. Im Gegenteil: Die Cancel-Kultur (Wiki) ist das genaue Gegenteil des Sportlichen, der angestrengten Bemühungen, des Wettkampfs. /  Tolle Antwort! - Und dann:

Nun gibt es auch – Habermas hat jüngst darauf hingewiesen – die totale Unterwerfung vor der Vernunft, der Machbarkeit, dem Naturalismus. Was rettet uns eigentlich beiderseitig in die Humanität?
Die Frauen. Sie sind der Schlüssel zur Zivilisierung. Der Islam hat sich vom Anfang des 20. Jahrhunderts, wo er zu einer marginalen Glaubensgruppe zählte, binnen eines Jahrhunderts verachtfacht, das heißt, hier ist Kampffortpflanzung in der Luft, und damit auch eine Form von zweiter Proletarisierung. In dem Augenblick, wo das weibliche Dabeisein – wir haben diese aufs Ganze wünschenswerte Entwicklung im Westen –, wo der weibliche Stolz gestärkt wird, stürzen auch die Geburtenraten auf vernünftige Werte herunter. Der Schlüssel liegt in der Ermächtigung der Frau. ...

Das ist alles mit Bezug auf den Konflikt mit dem Islam gesprochen. Als hätten Europa und die westliche Welt nicht auch ohne den Islam genügend Probleme. Man kann das alles von dem Sloterdijk jedenfalls mit Bezug auf diese Probleme, die es auch ganz ohne den Islam gibt, lesen. Und was Sloterdijk da jetzt genau von den Frauen erwartet, das sollte er wohl noch einmal genauer erläutern.

/ Weiterer Beitrag zum Thema, 
entstanden nach der Lektüre von "Zorn und Zeit"
siehe --> Stg07. /
___________________
  1. Blume, Michael: http://religionswissenschaft.twoday.net/stories/3546140/
  2. Bading, Ingo: Peter Sloterdijk - "thymotische Energien" zu Ende denken. Studium generale, 4. Juli 2007 (Stg07)

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