Freitag, 15. Februar 2008

Anthroposophen: Auch Neue (nicht-monotheistische) Religiosität in westlichen Gesellschaften erhöht Geburtenrate

Religionswissenschaftler Michael Blume vermutete gelegentlich in verstreuten Diskussionen, daß die leicht überdurchschnittliche Geburtenrate der Anthroposophen (St. gen. 1, 2) darauf zurückgeführt werden könnte, daß sie betonter als die Durchschnitts-Bevölkerung christlich-religiös wären. (Blume, Abgefischt 1, 2, 3) Er erwähnt, daß Rudolf Steiner selbst eine "Christengemeinschaft" gegründet hätte, die heute noch fortbesteht. Zu ergänzen ist zu letzterem zunächst, daß Rudolf Steiner selbst dieser Christengemeinschaft offenbar nie beigetreten ist. (1, S. 137)

Die religionssoziologische Literatur zu den Anthroposophen zeichnet nun aber doch ein wesentlich vielschichtigeres Bild, als offenbar von Michael vermutet. (1) 1.124 frühere Absolventen von Waldorf-Schulen wurden Ende 2004, Anfang 2005 - auch - zu ihrer religiösen Orientierung befragt (1, S. 134ff). (pdf.)

Die Kompliziertheit der bezüglich einer solchen Menschengruppe wie den Anthroposophen vorliegenden Verhältnisse wird zunächst besonders verdeutlicht durch die Tatsache, daß 60 % der Waldorfschul-Absolventen der Anthroposophie selbst indifferent, skeptisch oder negativ gegenüber stehen! (!!!) (1, S. 137) Und dennoch würden 80 % der Befragten wieder auf eine Waldorf-Schule gehen. (1, S. 139) (!!!) Also offenbar liegt hier, wie von mir schon vermutet, eine religionsdemographische Untersuchungs-Gruppe vor, deren Gemeinsamkeit vor allem erst einmal nur in einem gewissen Lebensgefühl besteht (z.B. "Öko" und "Birkenstock") und viel weniger in der Orientierung an einer bestimmten festumrissenen Ideologie, Weltanschauung oder Religion.

43 % Kirchenfreie unter den Waldorf-Schul-Absolventen - Tendenz steigend

Da man nun schon der Anthroposophie selbst so indifferent gegenüber steht, werden sich diese Umstände noch einmal verstärkt kundtun im Verhältnis zu den überkommenen christlichen Religionen. Hierzu einige Daten:

Während es
- in Deutschland insgesamt im Jahr 2005
32 % Kirchenfreie (Konfessionslose) und 65 % Kirchenmitglieder unter der Bevölkerung gab,
- in den neuen Bundesländern jedoch
70 % Kirchenfreie und 30 % Kirchenmitglieder,
gab es unter den 2004/05 befragten früheren Absolventen von Waldorf-Schulen (alles Westdeutsche):
43 % Kirchenfreie und 57 % Kirchenmitglieder. (1, S. 134f) Also eine Kirchlichkeitsrate, die ziemlich genau auf der Mitte zwischen all den "Namenschristen" der alten Bundesländer und all den "Atheisten" der neuen Bundesländer angesiedelt ist.

Ich denke also, Michael wird einige Gehirn-Akrobatik aufwenden müssen, um eine gegenüber der Normalbevölkerung leicht überdurchschnittliche Geburtenrate durch eine gegenüber der Normalbevölkerung deutlich unterdurchschnittliche Kirchlichkeitsrate erklären zu können.

Dabei ist noch festzustellen, daß die Nichtkirchlichkeitsrate unter den Anthroposophen (bzw. hier: Waldorfschul-Absolventen) zu steigen scheint, daß sie aber schon bei den älteren Jahrgängen überdurchschnittlich hoch war. Bei den 30 - 37-Jährigen lag sie im 2004/05 bei 47 % Kirchenfreie (53 % Kirchenmitglieder), während schon die älteren Jahrgänge (62 - 66-Jährige) eine gegenüber der heutigen Durchschnittsbevölkerung überdurchschnittlichen Anteil an Kirchenfreien/Konfessionslosen aufwiesen: 38 % Konfessionslose gegenüber 62 % Kirchenmitgliedern.

Also noch einmal wiederholt: Die Waldorfschul-Absolventen der letzten Jahrzehnte weisen (anzunehmenderweise) eine leicht überdurchschnittliche Geburtenrate bei zugleich leicht bis deutlich unterdurchschnittlicher Kirchlichkeitsrate auf. Sie stehen was Kirchenmitgliedschaft betrifft, zwischen der Durchschnittsbevölkerung der alten und der der neuen Bundesländer, und zwar auch schon die älteren Jahrgänge. Und zwar obwohl sie in ihrer weit überwiegenden Mehrheit Bewohner der alten Bundesländer sind. Von einer betonteren Nähe zu Kirche und Christentum scheint hier nirgends die Rede sein zu können.

Nachwuchsprobleme der anthroposophischen "Christengemeinschaft"

Aber noch weitere Tatsachen können Hinweise geben:

Von den Kirchenmitgliedern unter den Waldorfschul-Absolventen (also von den genannten 57 %) gehören
55 % protestantischen Kirchen
17 % der katholischen Kirche
17 % der (schon eingangs genannten anthroposophischen) "Christengemeinschaft" und
10 % jüdischen, buddhistischen und anderen Glaubensgemeinschaften an. (1, S. 136)

Bei den jüngeren Jahrgangsgruppen ist nun aber auffälligerweise der Anteil der Mitglieder bei der "Christengemeinschaft" auf 12 % gesunken, der Anteil der Katholiken jedoch auf 27 % gestiegen. "Was auch," wie die Studie vermutet, "auf erhebliche Nachwuchsprobleme dieser Weltanschauungsgemeinschaft" (nämlich der Christengemeinschaft) "schließen läßt". (1, S. 137)
[Achtung, die folgenden beiden Absätze sind unklar, deshalb verkleinert. Die Dinge werden in einem späteren Beitrag besser geklärt. Genaueres dazu siehe ---> hier.]
Es drängt sich also auch hier der Eindruck auf: Die von Michael genannte "Christengemeinschaft" selbst und eine betont christliche Orientierung unter Anthroposophen scheinen es nicht zu sein, die ihre leicht überdurchschnittliche Geburtenrate hervorrufen. Wie denn auch, wenn es offenbar die etwa 20.000 Mitglieder der "Christengemeinschaft" in Deutschland sind, also offenbar der "Kerntruppe" der christlich Gesonnenen unter den Anthroposophen, die die deutlichsten Nachwuchsprobleme unter ihnen haben. Wenn die leicht überdurchschnittliche Geburtenrate der Anthroposophen auf eine betontere Christlichkeit zurückzuführen sein sollte, dann sollte doch genau dieser Umstand noch einmal am Mitgliederzuwachs der "Christengemeinde" zusätzlich deutlich und prägnant festzustellen sein.
Aber genau das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Viel mehr:
Es eine leicht überdurchschnittliche Geburtenrate bei überdurchschnittlicher und stetig wachsenden Anteilen von Konfessionslosigkeit.
Ich denke, diese Tatsachen sind ausreichend, um die Hypothese (von Michael) zurückzuweisen, es wäre eine überdurchschnittliche Christlichkeit, die die überdurchschnittliche Geburtenrate bei den Anthroposophen hervorruft.


Aber welche Art von Religiosität könnte es dann sein, die das typische Lebensgefühl von anthroposophisch orientierten Menschen (hier: Waldorfschul-Absolventen) ausmacht? Dies wird in den weiteren Ausführungen der Studie etwas verdeutlicht. Es sind bei der Befragung von 2004/05 auch Aussagen abgefragt wie die folgenden: "Der Gedanke an eine höhere kosmische Ordnung gibt mir Sinn und Orientierung in meinem Leben." Dieser Satz wird von 58 % der Befragten bejaht. (1, S. 141) Weiterhin werden Wiedergeburts-Glaube, Karma-Glaube, "Existenz höherer Wesensglieder" und "meditative/kontemplative Erfahrung" abgefragt jeweils mit hier nicht genauer aufzuschlüsselnden - aber interessanten - Ergebnissen.

Und im "Ausblick" der hier benutzten Studie heißt es noch deutlicher:
"Auf dem Hintergrund der hier vorgelegten Analyse vermute ich unter den Befragten neben einigen (wenigen) christlichen und nicht-christlichen Theisten, die an eine höhere, außerweltliche Macht glauben, zu der jeder einzelne eine Beziehung aufbauen kann, eine - je jünger sie sind - starke Majorität an so genannten 'Vitalisten', welche die persönliche Existenz durch Wiedergeburt in einem Kreislauf des Lebens und der Natur eingespannt sehen und den Sinn des Lebens in ihm selbst sehen." (1, S. 158)
Fazit: Die Anthroposophen wird man in ihrer Gesamtheit keineswegs als prononciert oder überdurchschnittlich durch Monotheismus geprägte Menschen ansehen können. Und auch ihre leicht überdurchschnittliche Geburtenrate wird man deshalb auf andere Ursachen zurückführen müssen, als gerade auf eine solchartige Prägung.

_______________

Abschließend noch einmal Originaltext der Studie:
"Läßt die Gesamtbevölkerung in Deutschland aller religiösen und weltanschaulichen Pluralität zum Trotz immer noch eine ziemlich klare Präferenz für das Christentum und die beiden großen Konfessionskirchen erkennen, zumindest was die formale Zugehörigkeit angeht, wird man hiervon bei den ehemaligen Waldorfschülerinnen und -schülern immer weniger ausgehen können. Sie stellen keinen religiöse Mikrokosmos der religiösen Landschaft in Deutschland dar. Eine starke Minderheit, nämlich gut zwei Fünftel der Befragten, ist religiös nicht organisiert (43 %); je jünger die Befragten sind, desto geringer ist dere Anteil der religiös Organisierten (30 - 37jährige: 53%). Diese machen bei den älteren Alterskohorten immerhin noch zwei Drittel aus (62-66jährige: 62%). (...)

Die Nähe und Ferne zur Anthroposophie scheint hierbei in keinem signifikanten Zusammenhang zu stehen; die Wahrscheinlichkeit ist nur etwas größer, unter den der Anthroposophie nahe stehenden Absolventinnen und Absolventen auch auf religiös Organisierte zu stoßen. (...) Mehr Frauen (60 %) als Männer (52 %) unter den Befragten gehören einer Religionsgemeinschaft an."

"Bereits die vergleichsweise schwache konfessionelle Bindung der ehemaligen Waldorfschüler weist darauf hin, daß sie - jedenfalls ein Großteil unter ihnen - nicht zum Pol der institutionalisierten Religion tendieren."

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Benutzte Literatur:

1. Ebertz, Michael N.: Was glauben die Ehemaligen? In: Barz, Heiner; Randoll, Dirk (Hg.): Absolventen von Waldorfschulen. Eine empirische Studie zu Bildung und Lebensgestaltung. 2. Aufl. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2007 (St. gen.-Buchladen), S. 133 - 160 [wesentliche Auszüge - der Fragebogen, alle Rohdaten und die Einleitung - auch auf: www.waldorf-absolventen.de]

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