Mittwoch, 6. August 2008

Wir können unsere Kinder nicht verbessern, nur verschlechtern …

In der „Welt“ vom 28. März findet sich ein spannendes Interview (von Sylke Tempel) mit der Psychologie-Professorin Karen Wynn über neue Verhaltensstudien an sechs und zehn Monate alten Babys. Zwei längere Auszüge daraus:
WELT ONLINE: Frau Wynn, in welchem Alter erlernt ein Kind positives Sozialverhalten?

Karen Wynn: Schon sehr kleine Babys zeigen ein deutliches und meines Erachtens auch angeborenes oder wenigstens evolutionär eingebautes Sozialverhalten. Wir haben Studien durchgeführt mit sechs und zehn Monate alten Babys. Dafür machten wir die Babys mit „Puppen“ vertraut, die aus je einem runden, quadratischen und dreieckigen Holzklotz bestanden, denen wir große Augen angeklebt hatten. Je eine der „Puppen“ mühte sich ab, einen Hügel zu erklimmen. Eine half ihr dabei. Eine andere schubste sie hinunter. Danach forderten wir die Babys auf, sich eine Puppe auszusuchen. Fast alle zogen die „Helferpuppe“ der „Verhindererpuppe“ vor.

WELT ONLINE: Warum sollte dieses Verhalten „eingebaut“ und nicht erlernt sein? Schließlich leben auch Babys in keinem sozialen Vakuum.

Wynn: Zehn Monate alte Kinder sind sicherlich einem hohen Grad an Prägung ausgesetzt. Aber sechs Monate alte Babys hatten noch keine ausreichende Gelegenheit, dieses Verhalten zu erlernen. Sie können gerade sitzen, reagieren auf ihren Namen, verfügen aber noch nicht über sprachliche Ausdrucksmittel. Eine größere „soziale Welt“ eröffnet sich erst, wenn sie beginnen zu krabbeln und Entscheidungen treffen, auf wen sie „zugehen“. Wir haben ähnliche Resultate auch schon bei drei Monate alten Babys gesehen. Das lässt doch sehr darauf schließen, dass wir es mit einer Fähigkeit zu tun haben, die bereits ganz stark und ausgeprägt vorhanden ist.

WELT ONLINE: Entscheidet das den uralten Streit, was unser Sozialverhalten formt – Umwelt oder Genetik?

Wynn: Menschen wie viele Tierarten leben in sozialen Gruppierungen. Sie müssen beständig Entscheidungen treffen, mit welchen Angehörigen ihrer Gruppe sie agieren wollen oder nicht, wer ein guter Sozialpartner ist, mit dem sie Kontakt pflegen wollen und wen sie lieber vermeiden. Meines Erachtens stehen jetzt diejenigen in der Beweispflicht, die solche sozialen Verhaltensweisen mit den Einflüssen der Umwelt erklären wollen. Unsere Ergebnisse zeigen doch sehr stark, dass wir es mit einer bereits vorhandenen Fähigkeit zu tun haben.

WELT ONLINE: Dann gäbe es ein „eingebautes“ moralisches Empfinden?

Wynn: Positives Sozialverhalten muss nicht eindeutig moralisch sein. Es ist vielmehr eine Frage des eigenen Vorteils oder sogar Überlebens. Babys sind absolut hilflos – und obendrein sehr anstrengend. Eigentlich spricht sehr viel gegen sie. Also sind sie abhängig davon, sich in ein soziales Netz einzufügen, das sie mit allen physischen und emotionalen Notwendigkeiten versorgt. Deshalb brauchen sie – wie eben alle anderen sozialen Spezies – eine eingebaute Fähigkeit, gute Sozialpartner eindeutig zu identifizieren und sie für sich zu gewinnen. Es gibt starke evolutionäre Gründe, sich an jene zu halten, die sich einfügen, und jene zu meiden, die diese „Sozialverträge“ nur zu ihren eigenen Gunsten ausnutzen.
Und dann wird eine interessante Frage gestellt:
WELT ONLINE: Wir gehen davon aus, Kindern ein positives Sozialverhalten beibringen zu müssen. Verhält es sich also nicht umgekehrt: Sie besitzen es bereits, und es ist Umwelt, die sie verdirbt?

Wynn: Die meisten Babys sind sehr sozial. Im Fall von Soziopathen können wir aber gewiss behaupten, dass diese Fähigkeit geradezu zerstört wurde – wahrscheinlich in einer Mischung aus genetischen Komponenten und ungewöhnlichen Umständen in ihrer Biografie, die es ihnen nicht erlaubt haben, soziale Bindungen aufzubauen. Sie wissen zwar, was ihre Umwelt unter „Gut“ und „Böse“ versteht, sind aber völlig unsensibel für das Leiden anderer Menschen – oder genießen es, anderen Schmerzen zuzufügen. Auch verstehen sie wie unsere Babys unsere sozialen Verträge, haben sich aber entschlossen, dieses System auszunutzen und nur auf ihren eigenen Vorteil zu achten.
Es folgen noch Erörterungen darüber, inwieweit gruppenkonformes Verhalten von früh auf moralische Entscheidungen mit beeinflussen könnte. Diese sind auch interessant aber noch nicht mit so eindeutigen Forschungsergebnissen verknüpft wie die hier zitierten Erörterungen.

Die zitierten Forschungsergebnisse und ihre Deutung passen gut zu all dem, was wir bisher schon aus der Verhaltens- und Bindungsforschung über Kinderpsychologie wissen. So wissen wir schon seit längerem, daß Kinder mit drei Jahren noch nicht lügen „können“, und daß sie dies erst Schritt für Schritt in den nächsten beiden Lebensjahren sprichwörtlich „lernen“ müssen. (Darüber berichtete „Geo“ schon vor vielen Jahren sehr gut.) Auch das deutet darauf hin, daß Erziehung Kinder immer nur „verschlimmern“, kaum je „verbessern“ kann. Denn besser als wir sind sie, die Kinder, sowieso. Und zwar moralisch besser (um so jünger um so mehr).

Dieses intuitive Wissen, daß Kinder uns auf vielen Gebieten überlegen sind, ist wie in einem Flächenbrand in unserer Gesellschaft verloren gegangen, die sich so „erhaben“ und „weise“ vorkommt gegenüber Kindern, daß sie dauernd glaubt, ihnen alles Mögliche beibringen zu müssen, anstatt sich still zu ihnen zu setzen und erst einmal etwas von ihnen zu lernen. – Eben eine völlig „gottverlassene“ Gesellschaft, die so etwas vergißt, die so etwas überhaupt vergessen kann.

Sich zu Kindern zu setzen und ihr Vertrauen zu erwerben, kostet ja auch Zeit, die man anderweitig viel besser „nutzen“ kann. Zum Beispiel zum Geldverdienen. Zum Beispiel um kinder- und lebensfeindliche Politik zu machen. - Die 22-jährige Kindsmörderin von Nauen fürchtete, wie heute durch die Tagespresse ging, ein zweites Mal ihren Ausbildungsplatz als Zahnarzthelferin zu verlieren wie bei ihrem ersten Kind, wenn sie ihre Schwangerschaft nicht verheimlichen würde und ihr Neugeborenes nicht „beseitigen“ würde. Das ist exakt die Gesellschaft, die wir – offenbar – so lieben. Eine Gesellschaft, in der junge, schwangere Frauen solche „Überlegungen“ anstellen, anstellen können.

Eine Gesellschaft, in der jungen Menschen Ausbildungsplätze wichtiger sind als Kinder. Eine Gesellschaft, die NICHT in hohem Maße anerkennt, daß FRAUEN viele Lasten von Entscheidungen zu tragen haben und Leistungen erbringen, mit denen Männer so gut wie nie konfrontiert sind. Und aus denen sich Männer nur allzu gern zurückziehen und heraushalten. Was ihnen aber die Gesellschaft auch sehr „erleichtert“. Eben: Eine absolut ekelhafte Gesellschaft. Eine abartige, gottlose Gesellschaft.

Ergänzung 29.6.2020: Und Kinder können erst ab sechs Jahren ein Geheimnis für sich behalten, weil sie erst dann überhaupt wissen, was ein Geheimnis ist (1).

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  1. Fischer, Lars: Ab wann Kinder Geheimnisse für sich behalten. Spektrum d. Wiss., 29.6.2020, https://www.spektrum.de/news/ab-wann-kinder-geheimnisse-fuer-sich-behalten/1746972

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