Die "Evangelische Zentrale für Weltanschauungsfragen" in Berlin (EZW) behandelt immer wieder einmal interessante Themen. Im gerade erschienen August-Heft ihres "Materialdienstes" findet sich ein augenscheinlich sehr überlegter Beitrag von Ingo Wiwjorra zum Thema "Was wissen wir über die Religionen 'unserer Ahnen'?" (EZW2008).
2003 |
Zur Überlieferung der Ureinwohner Australiens gehören Felszeichnungen, die zum Teil bis zu 40.000 Jahre alt sein sollen. Die Sitte, mythologische Bilder auf Felswänden festzuhalten, wird in Australien stellenweise noch bis in unsere Zeit geübt. Es heißt, daß die Bildwerke sowie eine lange Kette mündlicher Überlieferung eine für heutige Vorstellungen kaum zu begreifende Kulturkontinuität widerspiegeln. Die „Aborigines“ begreifen diese Zeitspanne als „Traumzeit“, in der sie sich in einer ewigen Verbindung zwischen den Ahnen und den zukünftigen Geschlechtern eingereiht sehen.
Auch das Beispiel der Juden verweist auf eine ungebrochene Weitergabe von Religion und Kultur über immerhin etwa 3000 Jahre. Allerdings ist die historische Verifizierung der mythischen Entstehung des jüdischen Volkes und seines Glaubens vor dem Hintergrund neuerer archäologischer Studien nicht unproblematisch.
Derartig lange Wege der Religions- und Kulturweitergabe haben eine große Anziehungskraft für viele Menschen unserer Zeit, die teils Bewunderung, teils Neid erkennen lassen. Die Anteilnahme bezieht sich weniger auf die Religionsinhalte, sondern schlicht auf die Attraktion des Alters und die Faszination der langen Kontinuität, die im Kontrast zur Kurzlebigkeit und Bindungslosigkeit unserer Gegenwart steht. Daß die Überlieferungen ethnisch bzw. an strenge Zugehörigkeitsregeln gebunden sind, verstärkt die Faszination eher noch, wirken sie in diesen Gruppen doch in erheblichem Maße identitätsprägend. Zwar hat bei den australischen Ureinwohnern der erzwungene und nahezu vollständige Traditionsabriß deren Existenz massiv in Frage gestellt, dennoch sehen manche von ihnen im Aufgreifen der Überlieferungen die essentielle Voraussetzung ihres ethnischen und kulturellen Fortbestehens. Auch für die Juden war das Wissen um die uralte religiöse und kulturelle Überlieferung stets ein Anlaß zur Selbstvergewisserung als Schicksalsgemeinschaft oder sogar als Nation und half, antisemitischen Ressentiments zu widerstehen.
Und dann kommt Wiwjorra auf die christianisierten Völker der Welt zu sprechen. Er sagt unter anderem wohl sehr richtig: "Aufgrund ihres Universalitätsanspruchs sieht sich die christliche Weltreligion nicht dazu berufen, das Bewußtsein ethnischer Identität hervorzukehren." Im Zusammenhang sagt er dazu:
Anders als die Juden und ähnlich wie die australischen Ureinwohner mußten die christianisierten Völker Europas (und der übrigen Welt) einen Glaubenswechsel verkraften. Die klischeehafte Vorstellung von der abrupten und nur gewaltsamen Missionierung „mit Feuer und Schwert“ verstellt jedoch den Blick auf die vielschichtigen historischen Prozesse, die in Mittel- und Nordeuropa etwa zwischen dem 8. und dem 13. Jahrhundert mit der Christianisierung verbunden waren. Aufgrund ihres Universalitätsanspruchs sieht sich die christliche Weltreligion nicht dazu berufen, das Bewußtsein ethnischer Identität hervorzukehren. Andererseits ist zu konstatieren, daß sich die europäischen Nationsvorstellungen gerade im Anschluß an das christliche Mittelalter herausbildeten. Die Frage, ob dies so auch ohne den Glaubenswechsel geschehen wäre, bleibt fiktional. Aber ebenso konstruiert und vor allem politisch motiviert ist die von radikalen Anhängern einer neuheidnischen Glaubensrenaissance unterstellte Behauptung, die Christianisierung hätte bewußt auf eine Identitätsabschneidung hingearbeitet.
Mit der unter antiklerikalen Vorzeichen stehenden Diskreditierung der Christianisierung zu einem moralisch nicht zu rechtfertigenden Gewaltakt wurde häufig die Annahme verknüpft, das Heidentum habe sich in bestimmten gesellschaftlichen Nischen über Jahrhunderte zumindest bruchstückhaft erhalten. Denkbar ist wohl, daß zum Teil Generationen vergingen, bis sich der christliche Glaube nicht nur in den Eliten, sondern auch in den unteren Volksschichten festigte, zumal die lateinische Liturgie einem individuellen Verständnis der Glaubensinhalte über Jahrhunderte hinderlich war. Dies mag zur Bildung synkretistischer Traditionen beigetragen haben. Inwieweit christliche Glaubensinhalte und noch gegenwärtiges heidnisches Brauchtum miteinander verschmolzen, war und ist eine von christlichen Theologen wie neuheidnischen Autoren leidenschaftlich diskutierte Frage. Bis heute wird darüber gestritten, ob Weihnachten und Ostern originär christlich sind oder ob die Bräuche dieser Jahresfeste auch Relikte heidnischer Glaubensformen enthalten.
Auf welch komplizierten Wegen sich die christlichen Nationen und Völker des Abendlandes herausbildeten und definierten, ist ja auch Thema des derzeitigen Wiener Forschungsprojektes um Walter Pohl (s. Stud. gen., siehe auch Schlagwort "Frühmittelalter" insgesamt).
"Unvereinbarkeit von moderner Naturwissenschaft und Bibel"
Weiter Wiwjorra:
Das hier unter dem Begriff des Neuheidentums zusammengefaßte Spektrum einer rückwärtsgewandten Religionssuche ist von den gleichzeitig spürbar werdenden Krisenerscheinungen der Moderne nicht zu trennen. Diese vor allem milieubedingt und dort vorwiegend subjektiv empfundene „Krise der Moderne“ läßt sich mit drei Beispielen illustrieren: Erstens sind soziale Verwerfungen zu verzeichnen, die (...) als Reaktion eine facettenreiche Reformkultur hervorbrachte. Zweitens (...) eine Radikalisierung des politischen Denkens (...). Drittens läßt sich die Zuspitzung einer Glaubenskrise konstatieren, die aus der Unvereinbarkeit von moderner Naturwissenschaft und Bibel resultierte. Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie traten in einen unversöhnlichen Gegensatz, der Formen eines massenmedial ausgetragenen Kulturkampfes annahm. Einzelne Inhalte und Formen der Krisenphänomene des ausgehenden 19. Jahrhunderts haben noch immer Aktualität. Das in dieser Zeit aufkommende Neuheidentum existiert bis heute und spiegelt die Identitäts- und Modernitätskrise in besonderem Maße wider.
Bei dem Versuch, die Frage zu beantworten „Was wissen wir über die Religionen ‚unserer Ahnen’?“, müssen die aus der umrissenen Modernitätskrise handlungsleitenden Motivationen berücksichtigt werden, weil diese die im 19. und 20. Jahrhundert gegebenen Antworten maßgeblich mitprägten und zum Teil noch heute relevant sind. Die mit der Frage verbundenen Erwartungshaltungen und Erkenntnisinteressen zwingen aber zu einer Präzisierung der Aufgabenstellung: Was meinen Neuheiden heute über die Religionen „unserer Ahnen“ zu wissen, und welchen methodischen Problemen und wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten stehen sie gegenüber?
Schade, daß der Weltnetz-Auszug hier endet. Aber natürlich ist schon absehbar, wie die Antwort lauten wird: Mit dem heutigen Stand des naturwissenschaftlichen Wissens sind auch die personalen Göttermythen "unserer Ahnen" nicht zu vereinbaren. Aber interessant ist immerhin, daß sich "unsere Ahnen" in der Bronzezeit, ja, schon in der Jungsteinzeit, offenbar so intensiv mit der Astronomie beschäftigt haben wie an den vielen Kreisgrabenanlagen, die sicherlich als "Volkssternwarten" gedeutet werden müssen, und manchem anderen ("Himmelsscheibe von Nebra") abzulesen ist.
Außerdem dürften sich in den "erzählten Geschichten" unserer Ahnen (siehe auch voriger Beitrag) viele Arten von Zugängen zum religiösen Bereich finden, die sich so in den erzählten Geschichten anderer Kulturen nicht finden. Darin wohl vor allem wird die Faszination, das dieses Thema ausübt, heute immer noch zu suchen sein. Jede Kultur auf dieser Erde ist einzigartig und universalistische Religionen neigen sehr stark dazu, diese Einzigartigkeit infrage zu stellen.
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