Unter dem Titel "Gesellschaften sind sterblich" veröffentlichte Hubertus Breuer vor zwei Tagen ein Interview mit dem Mittelalter-Historiker Johannes Fried (Spl2008). Fried
"hält alle Zivilisationen für vergänglich. Die Möglichkeiten der Selbstzerstörung der Menschheit sind heute größer denn je. Trotzdem hat der Mittelalterexperte eine gute Nachricht: Jedem Untergang folgt ein neuer Aufstieg."
So wird das Interview eingeleitet. Fried sagt darin:
"Für einen gesellschaftlichen Niedergang gibt es immer viele Gründe. Deshalb versuche ich als Geschichtswissenschaftler, verschiedenste Faktoren zusammen zu sehen: Produktionsverhältnisse, klimatische Bedingungen, Ernährung, religiöses Denken, das Verhältnis von Freund und Feind, die geistigen Debatten einer Epoche. Und dennoch können einzelne, scheinbar kleine Änderungen große Wirkungen entfalten.Frage: So wie der Schmetterling, der nach Ansicht der Chaostheorie einen Wirbelsturm am anderen Weltende auslöst?Fried: Ja. Ein Beispiel: In der Steinzeit kannte man nur aufrecht stehende Webstühle, mit denen sich Tücher nur in bestimmter Größe produzieren ließen. Im zehnten Jahrhundert kam dann der horizontale mechanische Trittwebstuhl auf, mit dem sich prinzipiell Tücher jeder Größe produzieren ließen. Diese Innovation führte zu erheblichen Veränderungen in der ganzen Gesellschaft, sogar über die Grenzen hinweg. Das Weben ging von den Frauen auf die Männer über, weil es fortan viel mehr Kraft verlangte. Es entstanden ganz neue Produktionszentren in England, in den Niederlanden oder in Florenz. Diese Industrien finanzierten dann den Aufstieg von Städten und Ländern mit – und führten zum Untergang anderer. Auch die Entwicklung des Pflugs lässt ähnliche systemische Folgen erkennen."
Das Interview befriedigt nicht.
Stabilität und Wandel in der Weltgeschichte
Es wird auch kein konkreter Anlaß für dasselbe genannt. Bei einem so grundsätzlichen Thema müssen doch weitere Perspektiven ins Auge gefaßt werden. Wir kennen in der Weltgeschichte sehr wohl sehr stabile Gesellschaften, die sich über tausende, ja, wohl sogar zehntausende von Jahren wenig verändert haben. Man denke etwa an die Buschleute in Südafrika (neuerdings: Nature2024) oder die australischen Ureinwohner und viele andere Jäger-Sammler-Völker.
Buschleute in Südafrika |
Auch die Gesellschaft Chinas hat über die Jahrtausende hinweg eine ganz erstaunliche Stabilität aufgewiesen - bis heute. Das heißt: Gesellschaften sind nicht per se "sterblich" wie sonstige sterbliche Lebewesen, die gesetzmäßig ablaufende Lebensphasen durchlaufen und nach einer biologisch programmierten Lebensdauer sterben und untergehen.
Andererseits gibt es in der Weltgeschichte durchaus auch sehr kurz "aufblühende" Gesellschaften, die sehr bald wieder in sich zusammenfallen. All das müßte wohl noch wesentlich präziser vergleichend untersucht werden.
Zunahme gesellschaftlicher Komplexität in der Weltgeschichte
Außerdem muß natürlich die stufenweise Zunahme von gesellschaftlicher Komplexität in der Weltgeschichte beachtet werden. Sie begann mit Seßhaftigkeit und Ackerbau in Kernräumen wie dem "Fruchtbaren Halbmond" und einigen anderen Ursprungsregionen und weitete sich dann vor allem nach Norden (und auch nach Süden) schrittweise aus. Der Schwerpunkt gesellschaftlicher Komplexität blieb bis vor 2.000 Jahren im geographischen Breitengrad des Mittelmeer-Raumes. Erst innerhalb der letzten 2.000 Jahre hat er sich in Europa, Ostasien und Nordamerika nach Norden verschoben.
Solche genannten Grundzüge der Weltgeschichte muß doch ein Nachdenken mit in den Blick nehmen, das versucht zu eruieren, welche "Lebensgesetze" menschliche Gesellschaften hier auf dieser Erde befolgen.
Auch steht jede einzelne technische Innovation in einem dichten Kausalzusammenhang mit allen anderen gesellschaftlichen Entwicklungen, vor allem auch den demographischen Entwicklungen. Sicherlich wäre es ebenfalls nicht richtig, da allzu viele "Schmetterlingseffekte" anzunehmen, die überhaupt nicht zu berechnen sind. Früher oder später "muß" unter den gegebenen Bedingungen die jeweilige technische oder wissenschaftliche Erfindung oder der religiöse oder geistige Fortschritt kommen. Das liegt einfach "im Zug der Zeit".
Und insofern wird man auch für die Weltgeschichte insgesamt einen Fortschritt im menschlichen Können und Wissen erkennen, der dem Reichtum der biologischen Evolution auf der Erde sehr wohl an die Seite gestellt werden kann.
Menschliches Wissen stellt einen Faktor in der Weltgeschichte dar
Und unser menschliches Wissen verändert auch die Lebensgesetze von Gesellschaften. Wer mehr weiß und kann, trägt mehr Verantwortung. Das war schon die Grundaussage des "Prinzips Verantwortung" von Hans Jonas. Wenn also Fried zu der Aussage
"Unsere derzeitige westliche Zivilisation hat mehr Wissen angehäuft als alle Kulturen vor uns. Wird das unsere Gesellschaft vor dem Kollaps retten?"
antwortet:
"Das kann nur behaupten, wer die Geschichte nicht kennt. Die Psyche spielt mit. Da gibt es zum Beispiel den Neid. Das ist bei Nationen nicht viel anders. Und daß gerade eine Gesellschaft, die so stark durch Konkurrenz geprägt ist wie die unsrige, einen Garantieschein auf Bestand haben sollte, bezweifle ich. Konkurrenz geht nicht ohne Opfer ab."
so muß man auch diese Aussage nicht für vollständig dem Gegenstand angemessen halten. Sehr wohl bedeutet Wissen "Macht". Und es kommt sehr wohl darauf an, daß das heute erworbene Wissen zum Wohl der Menschheit und ihrer Gesellschaften, und nicht zu ihrem Schaden angewendet wird. Es ist nur schlecht denkbar, daß es richtig ist, wenn Neidgefühle und Machtkonkurrenz den letzten Ausschlag geben sollen, wenn es um das Schicksal der Menschheit und ihrer Gesellschaften heute geht. Da macht man es sich doch weitaus zu einfach.
Weltgeschichtlich ist auch die heutige Situation der Menschheit mit keiner anderen Phase der Menschheit zu vergleichen.
Weltgeschichtlich einmalige Situation heute
All solche Aspekte müßten mit in den Blick genommen werden. Über solche Themen wird in der derzeitigen Gesellschaft auch viel zu wenig nachgedacht.
Die Verantwortung der heutigen Wissenschaft könnte viel größer sein, als viele ahnen, als sich das auch allzu gern die Wissenschaftler selbst klar machen wollen.
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