Montag, 16. August 2021

Evoluiert in Europa? Die Vorfahren der Australopithecinen? Unter anderem auf Kreta?

Frühe Zweibeinigkeit gab es schon vor 12 Millionen Jahren in den tropischen Wäldern des Allgäu
- Aufsehenerregende Funde, die im November 2019 publiziert worden sind

Die Humanevolution der letzten 5 Millionen Jahre wird für Afrika seit vielen Jahrzehnten immer lückenloser belegt: Australopithecus - Homo habilis - Homo erectus und immer zahlreicher werdende Zwischen- und Nebenformen. In Afrika sind die ältesten Funde allerdings nicht älter als 4,5 Millionen Jahre alt. Ältere Menschenaffen-Funde haben sich in Afrika trotz Jahrzehnte langer Forschung bislang nicht gefunden!

Abb. 1: Kreta vor 6 Millionen Jahren - Drei ausgewählte Fußabdrücke (aus: Gierliński 2017)

Seit 2010 werden auf Kreta versteinerte Fußspuren im Sand erforscht (Abb. 1). Sie sind von aufrecht gehenden Vormenschen vor 6 Millionen Jahren hinterlassen worden (Wiki) (Gierliński 2017). Die Ergebnisse sind 2017 an entlegener Stelle publiziert worden, nachdem die Publikation von anderen Zeitschriften - unter anderem von "Nature" - als zu unglaubhaft zurück gewiesen worden war (Scinexx 2017).

Welche Art genau die Spuren auf Kreta hinterlassen hat, ist bis heute ungeklärt. Aber mit solchen Funden treten immer mehr der Mittelmeerraum und Europa in den Brennpunkt der Forschung, was die evolutionäre Entwicklung seit 12 Millionen Jahren von den Vorfahren der heutigen Menschenaffen bis hin zu ihnen selbst und bis hin zum Australopithecus und Homo habilis betrifft. Diesbezüglich erfahren wir (Hopp 2019):

Unter Fachleuten ist es Konsens, daß im Zeitraum von ca. 15 Mio. bis 7 Mio. Jahren vor unserer Zeit die Menschenaffen überall in Afrika, Asien und Europa verbreitet und weitaus artenreicher als heute waren. Danach verschwanden sie (vor allem durch Klimaveränderungen bedingt) vollständig aus Europa und bis auf die Vorfahren der Orang-Utans auch aus Asien. Es blieben die Populationen in Afrika, von deren Nachkommenschaft letztendlich die Gorillas, die Schimpansen (inklusive Bonobos) und die Menschen bis heute fortbestehen. 

Der Artenreichtum der Menschenaffen des Miozän

Zeugnisse für den Artenreichtum dieser Menschenaffen des Miozän sammeln sich immer mehr an. Eine neue Art wurde seit 2016 in einer Tongrube im Allgäu entdeckt, veröffentlicht im November 2019: "Danuvius guggenmosi" (Wiki, engl). Er weist neben ebenso "primitiven" Merkmalen wie bei den Menschenaffen auch anatomische Merkmale auf, die ihn näher zu den modernen Menschen rücken als alle übrigen Menschenaffen, und die hinwiederum - womöglich - auch die 6 Millionen Jahre alten Fußspuren auf Kreta plausibler machen können. Daß die heutigen Menschenaffen nicht - sozusagen - die direkten Vorfahren von uns Menschen oder auch der Australopithecinen sein können, dafür sammeln sich in der Wissenschaft immer mehr Zeugnisse an (Hopp 2019):

Bereits vor rund zehn Jahren legten mehrere anatomische Studien nahe, daß Gorilla und Schimpanse den vierbeinigen Knöchelgang unabhängig voneinander entwickelt haben und eine Kombination aus Klettern und zweibeinigem Gang die ursprüngliche Fortbewegungsweise der Menschenaffen sein dürfte. Genau für diese Hypothese haben wir mit Danuvius jetzt einen Beleg.

Abb. 2: Bonobo
Schimpansen, Orang-Utans und Gorillas, sie alle können sich zwar auch zweibeinig fortbewegen. Aber sie können das nur sehr unbeholfen. Sie scheinen von Menschenaffen-Arten abzustammen, deren aufrechte Körperhaltung schon sehr viel deutlicher ausgeprägt gewesen ist als sie bei ihnen, und die sich weniger unbeholfen auf zwei Beinen fortbewegt haben - sowohl in Bäumen wie auf dem Boden. Ihr Gehirngewicht wird nicht über dem der Schimpansen und Australopithecinen gelegen haben. Aber damit wird die lange Ahnenreihe der Australopithecinen, bzw. ihre lange Vorgeschichte innerhalb der tropischen Wälder Europas im Miozän nach und nach immer anschaulicher und eindrucksvoller.

Die berühmte, oft wiedergegebene Grafik mit der Menschenreihe, in der sich die Menschenaffen über die Vormenschen der Australopithecinen "hinauf" zu den Menschen allmählich aufrichten, ist vermutlich zu simpel gestrickt, wie die Entdeckerin des "Danuvius", Professor Madelaine Böhme (geb. 1967) (Wiki) von der Universität Tübingen, im November 2019 bei der Pressekonferenz auch gleich sehr deutlich gemacht hat. Evoluierten womöglich die Vorfahren der Australopithecinen in Europa, unter anderem auf Kreta?

Die Beinproportionen von Danuvius ähneln am ehesten derjenigen der Bonobos (Abb. 2).  Aber in anderen Merkmalen steht er noch fortgeschritteneren Menschenformen näher. So erläuterte Frau Böhme in der Pressekonferenz im November 2019 sehr eindrucksvoll.

Menschenaffen bewegen sich auf zwei Beinen nur vergleichsweise unbeholfen und mit O-Beinen. Für sie ist die Fortbewegung auf dem Boden auf vier Beinen und mit Knöchelgang gewöhnlicher. Es scheint so zu sein, daß für ihre Vorfahren im Allgäu vor 12 Millionen Jahren das aufrechte Gehen auch auf dem Boden deutlich gewöhnlicher war, auch wenn das Klettern in Bäumen ebenfalls zu ihrer Lebensweise gehörte. Schon vor 12 Millionen Jahren sind also unsere Vorfahren viel aufrechter gegangen als das von ihren Nachfahren, den Bonbobos, Schimpansen, Gorillas und Orang-Utan für sich genommen abzuleiten wäre. Zur Evolution des aufrechten Ganges, der "Bipedie" lesen wir auch (Wiki):

Menschenkinder durchlaufen eine frühkindliche Entwicklungsphase, in der sie sich mit den Händen festhalten, um den aufrechten Gang zu üben. Entsprechend der biogenetischen Grundregel dürften daher die Menschenvorfahren ein entsprechendes stammesgeschichtliches Entwicklungsstadium durchlaufen haben.

Und es ist nicht unmöglich, daß dieses Entwicklungsstadium in den tropischen Wäldern des Allgäu und anderwärts in Europa durchlaufen wurde und schließlich vor 6 Millionen Jahren in die Fußspuren auf Kreta mündete, von wo sich aus die weitere Entwicklung dann nach Afrika verlagert haben könnte.

Waren also der Alpen- und Mittelmeer-Raum (zusammen mit Nordafrika) womöglichdas evolutionäre Innovations-Zentrum nicht nur in der Zeit vor 12.000 Jahren - bei der Entstehung des Ackerbaus - nicht nur wie vor 200 bis 300 tausend Jahren - bei der Entstehung des anatomisch modernen Menschen - sondern auch vor 12 Millionen Jahren bei der Entwicklung des aufrechten Ganges? (Allerdings noch ohne Wölbfuß, der erst vor 2 Millionen Jahren entstand.)

Abb. 3: Tongrube Hammerschmiede bei Pforzen im Allgäu (Wiki)

Dieser These geht die deutsche Paläoontologin Madelaine Böhme nach und unterstellt auch, daß die teilweise Austrocknung des Mittlemeeres und die wechselnde Durchlässigkeit und Undurchlässigkeit der Sahara zu räumlichen Isolationen geführt haben könnten, die solche evolutiven Weiterentwicklungen erleichtert haben könnten.

Erst durch ein Interview mit Jonas Hopf sind wir hier auf dem Blog auf diese beeindruckende Wissenschaftlerin und ihre Forschungen gestoßen (Hopf 2021). Eine Dokumentation gibt einen Überblick über den Weg der Forschung, der zu ihren Erkenntnissen führte (Wiege der Menschheit 2021). Und das von ihr veröffentlichte Buch ("Wie wir Menschen wurden", 2019) dürfte sicherlich spannend zu lesen sein. Einfach weil hier ein von unbändiger Neugier getriebener Mensch kennengelernt werden darf.

Wenn man es recht versteht, hat Madelaine Böhme schon viele Jahre zur Paläontologie und zu den Klimaveränderungen im Miozän geforscht, bevor sie begann, sich mit Primaten in Europa im Miozän zu beschäftigen. Zuvor hatte sie sich so gut wie gar nicht mit Primaten beschäftigt, sondern mit der großen sonstigen Vielfalt an Säugetieren und anderen Tieren im Miozän. Und das scheint zu großen Teilen ihre persönliche Leistung zu sein, daß all diese Primaten-Funde im Allgäu zutage kamen, bzw. auch ein älterer Fund aus Athen in Griechenland neu bewertet werden konnten. Einfach weil sie von einem bestimmten Zeitpunkt an genauer hingeguckt hat und auch weil sie sehr methodisch vorgegangen ist, weil sie zum Beispiel ausgräbt "wie Archäologen" (und nicht wie Paläoontologen - so erzählt sie). Da findet man dann auch viel mehr.

Ergänzung [5.12.2021]: Der Tonfall in der Fachwelt gegenüber Madeleine Böhme kann ganz schön herablassend und abfällig sein wie man einer neuen Besprechung ihres inzwischen auf Englisch erschienenen Buches entnehmen kann (19). Man fragt sich, ob dieser Tonfall wirklich für nötig empfunden werden muß.

______________

  1. Madelaine Böhme, Paläoklimatologin, ARD-alpha, alpha-Forum, 26.07.2017, 43 Min (BR Mediathek)  
  2. Gerard D. Gierliński, Grzegorz Niedźwiedzki, Martin Lockley, Athanassios Athanassiou, Charalampos Fassoulas, Zofia Dubicka, Andrzej Boczarowski, Matthew R. Bennett, Per Erik Ahlberg: Possible hominin footprints from the late Miocene (c. 5.7 Ma) of Crete? In: Proceedings of the Geologists’ Association. Volume 128, Issues 5–6, October 2017, Pages 697-710, Online: 31.8.2017, https://doi.org/10.1016/j.pgeola.2017.07.006
  3. Gab es schon Vormenschen auf Kreta? 5,7 Millionen Jahre alte Fußspuren könnten von einem Menschenvorfahren stammen, 4.9.2017, https://www.scinexx.de/news/geowissen/gab-es-schon-vormenschen-auf-kreta/
  4. Madelaine Böhme, Nikolai Spassov, Jochen Fuss, Adrian Tröscher, Andrew S. Deane, Jérôme Prieto, Uwe Kirscher, Thomas Lechner & David R. Begun: A new Miocene ape and locomotion in the ancestor of great apes and humans. In: Nature, 6. November 2019, doi:10.1038/s41586-019-1731-0
  5. Tracy L. Kivell: Fossil ape hints at how walking on two feet evolved. In: Nature. Online-Vorabveröffentlichung vom 6. November 2019, doi:10.1038/d41586-019-03347-0 (pdf)
  6. Pressekonferenz mit Madelaine Böhme, Tübingen, 7.11.2019, https://youtu.be/qlFqgBq23PQ
  7. Science Talk mit Prof. Dr. Madelaine Böhme, 6.11.2019, https://youtu.be/v9SDK0OM7OQ
  8. Madelaine Böhme, Rüdiger Braun, Florian Beier: Wie wir Menschen wurden: Eine kriminalistische Spurensuche nach den Ursprüngen der Menschheit - Spektakuläre Funde im Alpenraum. Heyne Verlag (11. November 2019) 
  9. Dominic Hopp: Der Fall Danuvius guggenmosi: Muß die Menschheitsgeschichte umgeschrieben werden? 2011, Auf: https://www.ag-evolutionsbiologie.net/html/2019/Danuvius-guggenmosi.html
  10. Thamm, Andreas: Ich tue, was ich tun muß - Madelaine Böhme, TAZ, 14.12.2019, https://taz.de/Palaeontologin-Madeleine-Boehme/!5646000/ 
  11. Madelaine Böhme bei SWR1 Leute, 27.12.2021, https://youtu.be/iHbJrkoi5cc
  12. Die Wiege der Menschheit - Stammt der Mensch aus Afrika oder aus Europa? Einstein - SRF Wissen, 3.5.2021, https://youtu.be/Vm6J7EAjNlY
  13. Jonas Hopf: Interview mit Madelaine Böhme, 5.8.2021, https://youtu.be/JZhWAOPWFwA
  14. Kritik - und Antwort von Madelaine Böhme, 2020, https://www.nature.com/articles/s41586-020-2736-4.epdf
  15. 2020, https://www.zeit.de/2020/41/menschenaffe-udo-aufrechter-gang-forschung-streit?
  16. Kelley, Jay: Besprechung von Madeleine Böhme's et. al. "Ancient Bones. Unearthing the astonishing new story of how we became human" (2020, Deutsch 2019). In: The Quarterly Review of Biology 2021 96:3, 223-223, https://www.journals.uchicago.edu/doi/abs/10.1086/716131

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