Sonntag, 1. August 2021

Parallel-Gesellschaften in der Schweiz im 3. Jahrtausend v. Ztr.

Als die Indogermanen kamen

Wer sich den aktuellen Kenntnisstand der Archäogenetik zur Geschichte Europas (nicht Ostasiens, wo es keineswegs so viel "Bewegung" wie in Europa gegeben hat!) noch einmal von dem bedeutendsten deutschen Archäogenetiker erklären lassen möchte - das nämlich ist Johannes Krause - der schaue sich das unten eingebundene Video an (1).

Abb. 1: Die zeitlich versetzte Ankunft und der örtliche Zeitraum der Durchsetzung der indogermanischen Steppen-Genetik für: die Schweiz (2.800 v. Ztr.), England (2.800 v. Ztr.), Mitteldeutschland (2.500 v. Ztr.) und Spanien (2.700 v. Ztr.) (aus: 2)

Zum Beispiel ab 32:20 macht Johannes Krause darin noch einmal deutlich, daß die Archäogenetiker noch nicht so richtig "verstanden" haben, warum die iranischen-neolithischen Ackerbauern genetisch so außerordentlich unterschiedlich sind zu den anatolisch-neolithischen Ackerbauern. Diese Frage beschäftigt uns hier auf dem Blog auch schon seit gut fünf Jahren. Und wir möchten vermuten, daß die traditionelle Physische Anthropologie etwa rund um Professor Bernhard in Mainz (und Ilse Schwidetzky) dazu schon Aussagen gemacht haben könnten. Aber wir haben uns dazu die Literatur noch nicht genauer angesehen.

Diese Frage ist ja nicht unerheblich. Schließlich liegt in ihr eine Antwort auf die Frage, warum Europa genetisch heute so ist wie es ist, auch von seiner Begabungs- und Verhaltensgenetik her. In ihr liegt die Antwort auf die Frage nach der "Einzigartigkeit" der Indogermanen beschlossen, die sich ab dem Spätneolithikum über ganz Europa ausbreiten (als 50/50-Mischung zwischen iranisch-neolithischen Bauern und osteuropäischen Jägern und Sammlern).

Archäogenetische Studie zur Schweiz (2000)

Im zweiten Teil seines Vortrages arbeitet Krause heraus, daß man für das 3. Jahrtausend - wie schon in früheren Artikeln hier auf dem Blog behandelt - über Jahrhunderte hinweg "Parallel-Gesellschaften" in Europa vorfindet. Er zeigt dies auf anhand von archäogenetischen Forschungen in der Schweiz (2, 3) (Abb. 1). Noch fast 1000 Jahre nach der Zuwanderung der Indogermanen in die Schweiz findet man hier nämlich männliche Indogermanen verheiratet mit einheimischen Frauen, die immer noch die typische reine europäische mittelneolithische genetische Signatur aufweisen. Entweder stammen diese Frauen also aus Unterschichten, die sich in den bisherigen Gräbern sonst gar nicht finden. Oder sie stammen aus entlegenen Alpentälern, in die sich die Indogermanen erst sehr spät eingemischt haben.

In der Studie selbst heißt es zur Ankunft der Steppen-Genetik in der Nordschweiz um 2.800 v. Ztr. (2):

Nach dieser schnellen Zunahme der individuellen Jamnaja-Herkunfts-Komponente von 0 auf 60 % kann über die nächsten 1000 Jahre ein Rückgang derselben auf 25 bis 30 % beobachtet werden. Wir stellen außerdem vier weibliche Individuen fest, die modelliert werden können ohne jede Steppen-Genetik noch 1000 Jahre nach dem Auftreten dieser genetischen Komponente in diesem Gebiet.
After this rapid increase in individual proportions of YAM-related ancestry from 0% to ~60%, a decrease down to 25–35% can be observed over the next thousand years. We also note four female individuals that can be modeled without any YAM-related ancestry even 1000 years after the appearance of that genetic component in the area. 

Und (2):

... Dies weist auf einen hohen Grad genetischer Strukturierung in dieser Regin am Beginn der Bronzezeit hin mit etwaigen Parallel-Gesellschaften, die in großer Nähe zueinander existierten.
Remarkably, we identified several female individuals without any detectable steppe-related ancestry up to 1000 years after this ancestry arrives in the region, with the most recent woman without such ancestry dating to 2213–2031 calBCE. This suggests a high level of genetic structure in this region at the beginning of the Bronze Age with potential parallel societies living in close proximity to each other. 

Zur etwaigen Herkunft der genetisch reinen mittelneolithischen Frauen wird noch ausgeführt (2):

Wenn man die Ergebnisse von Mittnik et al. mit ähnlichen Erscheinungen im Lechtal berücksichtigt, muß der Ursprung jener Bevölkerung, die noch keine Steppenherkunft aufweist, gar nicht unbedingt so weit südlich gelegen haben.
Considering the results of Mittnik et al. with similar patterns in the Lech valley, the origin of this steppe-related ancestry component lacking population does not necessarily lie that far south.

Im Lechtal kamen die Frauen aus Böhmen und der Mittel-Elbe-Saale-Region. Ähnliches kann also auch für die Nordschweiz vermutet werden. Auch hier deutet sich wieder an, daß Beamten-Eliten von Großreichen sich über weite Räume hinweg bewegen konnten in jener Zeit.

Krause führt im hinteren Diskussionsteil des Videos auch aus, daß die Schnurkeramiker durch den Y-chromosomalen Haplotypen R1a gekennzeichnet sind, während die Glockenbecher durch den Y-chromosomalen Haplotypen R1b gekennzeichnet sind. Ersterer ist heute noch in Osteuropa, letzterer in Westeuropa verbreitet. Wie die von ihm benannte spätere West-Ost-Wanderung der Glockenbecher-Leute bis zum Altai-Gebirge (als Andronovo-Kultur) genauer ausgesehen hat, dürfte noch spannend sein zu erfahren.

Auch deutet er an, daß Norditalien von anderen Indogermanen über andere Wege besiedelt wurde als die Nordschweiz, womöglich auch ablesbar an den Y-Chromosomen. Bezüglich solcher Fragen wird sich das Bild sicherlich bald vervollständigen durch neue Studien, deren Veröffentlichung - etwa von Wolfgang Haak - auch schon angekündigt ist.

Noch einige Details

Die Schnurkeramiker siedelten besonders rund um den Züricher See und im Drei-Seen-Land (Wiki) der Westschweiz (mit Bielersee, Murtensee und Neuenburgersee). Rund um alle diese Seen fanden die zuwandernden Schnurkeramiker dicht besiedelte Pfahlbausiedlungen vor (deren Überreste heute zum UNESCO-Kulturerbe gehören).

Rund um den Züricher See wurde der Keramikstil der Schnurkeramiker schnell vorherrschend, während diese Entwicklung in der Westschweiz mehrere Jahrhunderte dauerte.

Die Siedlungsdichte der Pfahlbau-Siedlungen hatte sich nach 3.800 v. Ztr. beträchtlich erhöht. Aus dieser Region wurden in der archäogenetischen Studie die Genome von 96 Individuen sequenziert. In der Zeit vor 2.700 v. Ztr. standen die Bewohner der Pfahlbau-Siedlungen genetisch den Menschen der Kugelamphoren-Kultur und ähnlichen mittelneolithischen Kulturen nahe.

Es wurden auch Skelette aus einem großen Gräberfeld bei Singen/Hohentwiel sequenziert. Über dieses heißt es (Wiki):

In den 1950er Jahren wurde ein großes frühbronzezeitliches Gräberfeld entdeckt. Diese Entdeckung war namensgebend für die sogenannte Singener Gruppe. Sie ist etwa von 2300 bis 2000 v. Chr. nachweisbar und war in dem Gebiet zwischen Schwäbischer Alb und dem Bodensee sowie im württembergischen Schwaben und in Bayerisch-Schwaben verbreitet.
Und (Wiki):
Die dort ausgegrabene Nekropole ist eine der größten in Westdeutschland. (...) In 28 der 95 Gräber wurden Skelettreste gefunden. Sie waren in Flachgräbern in Hockerstellung bestattet. Die Bestatteten waren Nord-Süd orientiert, wobei elf Frauen und 17 Männer identifiziert werden konnten. Die Frauen lagen mit dem Kopf im Süden und der Blickrichtung nach Westen. Die Männer lagen mit dem Kopf im Norden und dem Blick nach Osten. Auffällig waren häufig auftretende Steineinbauten um die Bestatteten herum, deren Nutzen noch nicht endgültig geklärt ist.

Und die Studie zeigt auf (2):

Für Oberbipp, Aesch und Singen Familienstammbäume, die drei Generationen überspannen.
Family trees spanning three generations for Oberbipp, Aesch and Singen.
 
/ Erster Entwurf: 
25.4.2020 /

___________

  1. Johannes Krause: Die genetische Geschichte der Schweiz - Von der Steinzeit bis zur Eisenzeit, Live übertragen am 15.06.2021, https://youtu.be/CObOcPfRjIk.
  2. Ancient genomes reveal social and genetic structure of Late Neolithic Switzerland. Anja Furtwängler, A. B. Rohrlach, Thiseas C. Lamnidis, Luka Papac, Gunnar U. Neumann, Inga Siebke, Ella Reiter, Noah Steuri, Jürgen Hald, Anthony Denaire, Bernadette Schnitzler, Joachim Wahl, Marianne Ramstein, Verena J. Schuenemann, Philipp W. Stockhammer, Albert Hafner, Sandra Lösch, Wolfgang Haak, Stephan Schiffels & Johannes Krause. In: Nature Communications volume 11, Article number: 1915 (2020), Published: 20 April 2020, https://www.nature.com/articles/s41467-020-15560-x
  3. https://www.archaeologie-online.de/nachrichten/alte-genome-deuten-auf-parallelgesellschaften-in-der-schweizer-steinzeit-hin-4605/

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Herr Dr. Krause hat sich versprochen. Er hat nicht die Glockenbecher gemeint sondern die Schnurkeramiker die bis nach Altai Gebirge verbreitet haben.

Ingo Bading hat gesagt…

Danke.

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