1933 kam in Altenstadt in der Wetterau (Wiki), gelegen 16 Kilometer südöstlich jener Stadt Friedberg in der Wetterau (GMaps), nach der die "Friedberg-Planig-Kultur" der Zeit um 4.600 v. Ztr. benannt worden ist (Stg25), der örtliche Reichsarbeitsdienst auf die offenbar sehr "glorreiche" Idee, einen großen Stein inmitten des Waldes nahe dem Kloster Engelthal zu sprengen. Dieser große Stein war gelegen auf einer Anhöhe, die "Haale Berg" genannt wurde (Abb. 1).
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Abb. 1: Der Felsen im Wald bei Altenstadt in der Wetterau vor seiner Sprengung im Jahr 1933 (aus: 2017) |
Dieser Felsen war den Menschen, die in früheren Jahrtausenden hier lebten, offenbar heilig. Seither ist er aber nur noch in gesprengter Form zu besichtigen (s. GMaps). Sprachbewußten Menschen hätte immerhin schon 1933 bewußt gewesen sein können, daß der Name "Haale Berg" von "Heiliger Berg" abgeleitet sein könnte. Wenn dem so wäre, hätte sich eine Ahnung der religiösen Bedeutung dieses Berges über diese Namengebung sogar bis heute in der Bevölkerung erhalten - allerdings ohne daß diese Ahnung scheint Einfluß genommen zu haben auf das Handeln des Reichsarbeitsdienstes im Jahr 1933.
Jedenfalls wurden bei der Sprengung mehrere Steinbeil-Klingen aus Jade entdeckt, die an diesem Felsen von Menschen des 5. Jahrtausends v. Ztr. niedergelegt worden waren - vermutlich in heiliger Andacht und Ehrfurcht vor der Gottheit, die man in diesem Felsen gesehen haben mochte (Abb. 2). Heilige Steine werden wohl von Naturvölkern weltweit verehrt, sie wurden spätestens seit dem Mittel- und Spätneolithikum über ganz Europa hinweg und bis nach Arabien hinunter verehrt (Stg19), und so auch hier im Wald bei Altenstadt in der Wetterau.
Die meisten Bestandteile dieses Fundes vom "Haale Berg" bei Altenstadt in der Wetterau verbrannten höchstwahrscheinlich 1945 in einem provisorischen, nur sechs Kilometer entfernt gelegenen archäologischen Glauberg-Museum (dem "Jakob Sprenger-Hauses"). Oder sie gingen auf andere Weise verloren. Zuverlässig erhalten scheint bislang jedenfalls nur eines der dort gefundenen Steinbeil-Klingen. Der ganze Fund war auch bis 1990 niemals gründlich wissenschaftlich publiziert worden (Baitinger2017):
Einen entscheidenden Wendepunkt bildete 1991 ein Beitrag von Manfred Menke, der als Vorarbeit zu einem geplanten "Corpus der Jadeitbeile in Hessen" verstanden werden sollte.
Irrtümlicherweise wurden in diesem Beitrag aber nun die Steinbeil-Funde vom Haale Berg bei Altenstadt identifiziert mit ...
... drei im Schloßmuseum zu Büdingen aufbewahrten Beile(n). (...) Mit M. Menkes Artikel war der Fundkomplex - fast 60 Jahre nach seiner Entdeckung - scheinbar endlich in angemessener Form in die Fachliteratur eingeführt worden, und tatsächlich beziehen sich sämtliche seither erschienenen Publikationen auch auf diesen Beitrag. Dies gilt ebenso und besonders für die europaweite Gesamtaufnahme von Jadebeilen, die Pierre Pétrequin und seine Mitarbeiter seit den 1990er und in den 2000er Jahren durchgeführt haben. Das Depot stand Pate für den relativ späten "Beiltyp Altenstadt", den eine flache, dreieckige Klinge mit geraden oder allenfalls leicht konvexen Kanten und einer breiten Schneide kennzeichnet; der »Typ Altenstadt« ist etwas breiter und nicht ganz so lang gestreckt wie der »Typ Greenlaw«, mit dem er jedoch eine »famille typologique« bildet. Verbreitet sind solche Beile insbesondere in Großbritannien, Nordostfrankreich, Belgien sowie in West- und Mitteldeutschland; datiert werden die in Deutschland gefundenen Exemplare nach 4300-4200 v. Chr., also in die Zeit der Michelsberger Kultur. Als charakteristischer Vertreter für den "Typ Altenstadt" steht das Beil, dessen im Feuer verzogene Kunststoffkopie den Brand des Glauberg-Museums überdauert hat. Diese Wahl erweist sich im Nachhinein als überaus glücklich, weil es das einzige der von M. Menke publizierten Beile ist, das tatsächlich aus dem Depot von Altenstadt stammt, wohingegen die drei anderen Stücke nicht zu diesem Komplex gehören.
Dieser Umstand wird 2017 anhand eines Kataloges des Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Mainz aus den 1930er Jahren aufgezeigt.
Dort war der Altenstädter Depotfund nämlich mitsamt Abbildungen (Abb. 2) verzeichnet worden (2017):
Die drei im Büdinger Schloßmuseum aufbewahrten Beile gehören nicht zum Depot aus Altenstadt, sondern stellen tatsächlich einen eigenständigen Fundkomplex aus dem »Büdinger Land« dar, wie es K. Dielmann 1956 postuliert hat. Ihre Zuweisung an das Altenstädter Depot durch M. Menke war ein Irrtum, der sich anhand der Inventare des RGZM korrigieren läßt, sodaß das Depot von Altenstadt - 84 Jahre nach seiner Entdeckung - nun in korrekter Weise wiedergewonnen werden kann.
Wie also in den Zitaten ausgeführt, leitet sich von einem der Beil-Klingen des Altenstädter Depots - aufgrund der Arbeiten des französischen Archäologen Pierre Pétrequin - ein vielleicht schon mit der Friedberg-Planig-Kultur, aber auch mit der Michelsberger Kultur europaweit verbreiteter Jadebeil-Typ ab, nämlich die Jade-Beil-Form "Typ Altenstadt" (s. Abb. 3). Altenstadt in der Wetterau liegt - wie schon erwähnt - nur sechs Kilometer westlich des Glauberges und des dortigen Keltenmuseums (Baitinger2017):
Die wahrscheinlich sakral motivierte Niederlegung unter einem großen Steinblock bei Altenstadt würde gut ins Bild passen, weil die Deponierung solcher Beile auch andernorts oft "an große natürliche Steinblöcke, aufgerichtete Menhire, Flußufer, Wasserfälle oder Moore gebunden" ist. Auch in der Wetterau lassen sich ähnliche Befunde aus der Jungsteinzeit anführen: Im unweit von Altenstadt gelegenen Ortenberg (Wetteraukreis) kam 1922 unter einem Felsblock ein aus drei Steinbeilen bestehendes Depot zutage, in Rockenberg (Wetteraukreis) wurde 1900 unter einem Findling ein Hort aus neun Feuersteinklingen entdeckt.
Auf die Fund- und Überlieferungsumstände des Altenstädter Depotfundes wird auf diesem Blog deshalb so ausführlich eingegangen, weil die Erforschung der Jade-Beile des Mittelneolithikums durch den französischen Archäologe Pierre Pétrequin seit 2007 im sogenannten "Jade-Projekt" zu einem völlig neuen Bild des Mittelneolithikums in Europa insgesamt geführt hat (Stg25).
Es ging bei dem "Projekt Jade" seit 2007 um (1) ...
... die Geschichte und Art der Nutzung grüner Gesteine aus den Alpen, ihren Produktionsweg ("Chaîne Opératoire") bei der Herstellung und bei der späteren Veränderung, ihre Verbreitung und Verwendung als Objekte, sowie ihre symbolische und ideologische Bedeutung sowohl in Bezug auf die Objektformen wie auch in Bezug auf die Materialauswahl. Das Projektteam analysierte zerstörungsfrei etwa 2100 große Axt- und Dechselklingen (sowie andere Artefakte) in ganz Europa sowie etwa 2500 Proben von Rohmaterial und Bearbeitungsabfällen und stellte so eine umfassende Referenzsammlung zusammen; es führte systematische Prospektionen und Ausgrabungen in hochgelegenen Abbaugebieten und Bearbeitungsstätten in den Westalpen durch; es trug alle Informationen zu Datierung, Fundkontexten und Darstellungen zusammen und es bewertete die Gesellschaften, die diese Objekte verwendeten, neu.... the history and nature of the exploitation of green Alpine stones, the chaîne opératoire of artefact manufacture and subsequent modification, the circulation and use of the objects and the symbolic and ideological significance both of the object forms and of the choice of material. The project team non-destructively analyzed some 2100 large axe- and adze-heads (plus other artefacts) across Europe, along with around 2500 specimens of raw material and working debris, thereby forming a comprehensive reference collection; undertook systematic prospection for, and excavation of, high-altitude source areas and working sites in the Western Alps; collated all information about dating, depositional contexts and representations; and reassessed the societies that used these objects.
Das Rohmaterial der grünen Jade-Gesteine, das in den Westalpen auf Höhen zwischen 1700 und 2400 Meter gefunden wird, ist während des Mittelneolithikums bis zu 200 Kilometer weiter transportiert worden, bevor es weiter verarbeitet worden ist. Angesägtes Rohmaterial fand sich nämlich 200 Kilometer von jenen Regionen entfernt, wo es natürlicherweise als Gestein vorkommt und gesammelt werden kann.
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Abb. 3: Typochronologie der europäischen Jade-Beile 5.500-3-000 v. Ztr. (aus 1) - Französische "vers" heißt "etwa |
Anhand von auf den ersten Blick geringen Form-Unterschieden zwischen einzelnen Jade-Beilen konnte eine Typochronologie erstellt werden (Abb. 3). Die Typen-Namen sind - wie schon einleitend illustriert - oft viele Jahrzehnte alt. Sie beziehen sich auf Jade-Beile, die nicht nur in Altenstadt in der Wetterau gefunden worden, sondern etwa auch in "Durrington Walls" (Wiki). Das ist eine proto-urbane, spätneolithische Siedlung des 4. Jahrtausends v. Ztr. bei Stonehenge (also vom Mittelneolithikum aus gesehen viele Jahrhunderte jünger). Dort verwendete Jade-Beil-Typen sind aber auch im Italien schon des 6. Jahrtausends v. Ztr. gefunden wurden. Man darf sich von solchen eher willkürlichen Benennungen also nicht beirren lassen. Der "Typ Bégude" wird benannt sein nach dem französischen Dorf La Bégude-de-Mazenc (Wiki) im Rhone-Tal, das also vergleichsweise nahe an den Fundorten der alpinen Jade-Gesteine gelegen war.
Die ersten Werkzeuge aus Jade-Gestein finden sich in der Cardial-Kultur ab 5.500 v. Ztr., und zwar über ganz Italien verbreitet. In Italien scheint dieses Gestein in dieser Zeit zunächst eher für Alltags-Gegenstände genutzt worden zu sein (1):
Die ersten hergestellten Objekte waren kleine (<13,5 cm) Axt- und Dechselklingen für den „alltäglichen“ Gebrauch, doch im späten 6. Jahrtausend wurden „speziellere“ Artefakte hergestellt: einige lange Dechsel-Klingen vom Typ Bégude und Dechselklingen vom flachen, tropfenförmigen Typ Durrington.The earliest objects to be made were small (<13.5 cm) axe- and adze-heads for “everyday” use, but more “special” artefacts were being made by the late 6th millennium: a few long adze-heads of Bégude type and adze-heads of flat, teardrop-shaped Durrington type.
Die eigentliche Hoch-Zeit der Jade-Beile begann ab 4.700 v. Ztr.. Nun wurden Werkzeuge aus Jade-Gestein auch in alle Regionen nördlich der Alpen exportiert. Also vor allem auf den Balkan und in die Ukraine, sowie nach Westfrankreich bis hinauf in die Bretagne (1):
Artefakte aus alpinem Gestein gelangten weiter und in neue Richtungen. Mehrere Jade-Beile von den Typen Bégude und flacher Durrington zirkulierten nordwärts bis nach Österreich und in die Slowakei und wurden in Lengyel-Kontexten deponiert, in Zusammenhang mit großen zeremoniellen Anlagen mit mehreren konzentrischen Gräben (Pétrequin et al. 2012, Kap. 11, 696; 2017, Kap. 18).Alpine artefacts travelled further, and in new directions (Fig. 6.6). Several adze-heads of Bégude and flat Durrington type circulated northwards as far as Austria and Slovakia, being deposited in Lengyel contexts including large ceremonial enclosures with multiple concentric ditches (Pétrequin et al. 2012, ch. 11, 696; 2017, ch. 18).
Die hier erwähnte Lengyel-Kultur (4.900-4.000 v. Ztr.) (Wiki) ist offenbar ebenfalls eine kulturell reiche und farbenprächtige Bauernkultur gewesen. Hier auf dem Blog hatte uns schon die "Venus von Unterpullendorf" als eines der ältesten Frauenporträts Europas beeindruckt (Stg21), das aus dieser hervorgegangen war. Die Keramik der Lengyel-Kultur hat Verbreitung gefunden bis zu Fischer-Dörfern an der Pommerschen Ostseeküste (Stg17). Die Lengyel-Kultur könnte - vergleichbar der Cucutenni-Tripolje-Kultur in der Ukraine - größere kulturelle und genetische Kontinuität aufgewiesen haben im Vergleich zur Rössener Kultur weiter im Westen. Wir lesen weiter (1):
Große Jade-Beile vom Bégude-Typ gelangten zusammen mit alpinen Scheibenringen auch nach Nordwesten in das Pariser Becken und bis 4600 v. Ztr. bis in die Bretagne (über das Languedoc), wo einige Jade-Beile vom Bégude-Typ offenbar zu einem als Bernon bekannten Typ umgeschliffen wurden.Large Bégude-type adze-heads, along with Alpine disc-rings, also travelled northwestwards into the Paris Basin and, by 4600 BC, as far as Brittany (via Languedoc), where some Bégude-type adze-heads appear to have been repolished into a type known as Bernon (Pétrequin et al. 2012, ch. 11, 108 Alison Sheridan, Pierre Pétrequin, Anne-Marie Pétrequin et al. figs 54 and 72).
Pierre Pétrequin und Koautoren nehmen bei ihren Bericht über den Export von Jade aus den Westalpen nach Italien und Südosteuropa ab 4.700 v. Ztr. vor allem auch Bezug auf die hier auf dem Blog schon behandelten Gräber von Warna an der Küste des Schwarzen Meeres im heutigen Bulgarien (Stg21). Sie schreiben (2019, S. 109f):
... Die Verwendung umgestalteter Beilklingen aus den Alpen wurde auf dem Friedhof Warna I in Warna bis ins 45. Jahrhundert hinein fortgesetzt (Abb. 6.7: Pétrequin et al. 2012, Kap. 6). In Warna waren die Jade-Gesteine aus den Alpen nur eines von mehreren kostbaren, meist exotischen Materialien, die hochrangigen Toten begegeben wurden; zu den anderen gehörten Gold, hochwertiger Feuerstein, Obsidian und Spondylus-Muscheln. Die größte Konzentration alpiner Exporte in Südosteuropa stellt die Sammlung von mindestens 28 Axt- und Dechselköpfen unterschiedlicher Größe und Art alpiner Herkunft dar, die in Svoboda in Bulgarien niedergelegt wurden (Pétrequin et al. 2012, 1246‒1252). All diese Exporte aus den Alpen - darunter ein großer Anteil langer Axt- und Dechselklingen - waren eindeutig kostbare, exotische Besitztümer von Eliten innerhalb stark geschichteter Gesellschaften. Die Gesamtzahl der Alpenexporte nach Ost- und Südosteuropa war jedoch in dieser Zeit deutlich geringer als die Zahl der Exporte nach Frankreich. Vermutlich ist das darauf zurückzuführen, daß Kupfer in Ost- und Südosteuropa neben Gold das wichtigste Prestigematerial war: Tatsächlich haben wir es mit einem „Europa der Jade“ im Westen zu tun, wo Alpen-Jade das begehrteste Material war, und einem „Europa des Kupfers“ im Osten, wo Kupfer seinen Platz einnahm und zu schweren Werkzeugen und Schmuck verarbeitet wurde (Pétrequin et al. 2002; 2012, Kap. 27; 2017, Kap. 21, Abb. 12).... The use of remodelled Alpine axeheads at Varna continued into the 45th century, at the Varna I cemetery (Fig. 6.7: Pétrequin et al. 2012, ch. 6). At Varna the Alpine jades were just one of a series of precious, mostly exotic materials that were buried with the high-ranking dead, the others including gold, high-quality flint, obsidian and spondylus shell. The largest concentration of Alpine exports in southeast Europe is the set of at least 28 Alpine axe- and adze-heads of various sizes and types, deposited at Svoboda, Bulgaria (Pétrequin et al. 2012, 1246‒1252). All these exports from the Alps - which include a high proportion of long axe- and adze-heads - were clearly the precious, exotic possessions of elites within markedly ranked societies. The overall number of Alpine exports to eastern and southeast Europe was, however, dramatically lower than the number travelling to France at the time. This is probably due to the fact that copper was the principal prestige material of choice in eastern and southeast Europe, along with gold: in effect, we are dealing with a “Europe of jade” in the west, where Alpine jades were the most sought-after material, and a “Europe of copper” in the east, where copper took its place, being made into heavy tools and jewellery (Pétrequin et al. 2002; 2012, ch. 27; 2017, ch. 21, fig. 12).
Das Kupfer-Beil spielt ja auch in der Geschichte des Frühen Urvolks der Indogermanen von der Mittleren Wolga eine große Rolle, die in eben jener Zeit begann, als das Jade-Beil in der Bretagne Bedeutung bekam. Es gibt ja sogar Archäologen, die vermuten, daß die außerordentlich weite und schnelle Ausbreitungsbewegung der Urindogermanen von der Wolga bis zur Donau nach Ungarn davon geleitet gewesen sei, in jene Länder zu kommen, wo das Kupfer herstammte, das in Form von Kupferbeilen bis an die Wolga gehandelt worden ist. Jedenfalls können bei den Ethnogenesen an der Mittleren Wolga und in der Bretagne ähnliche Motive, Muster, Beweggründe und Mechanismen eine Rolle gespielt haben: Einheimische Jäger und Sammler treffen auf Bauernkulturen und bilden hierarchisch gegliederte Gesellschaften aus. Dabei bildet einerseits das Kupfer-Beil an der Wolga ein Faszinosum, während in der Bretagne das Jade-Beil ein Faszinosum bildet und zum begehrten Prestige-Objekt wird. Pétrequin und Koautoren schreiben weiter (1):
Die Entstehung einer hochdifferenzierten Gesellschaft am anderen Ende Europas, im Morbihan in der Südbretagne, ist mit der Nachfrage nach einer großen Zahl hochwertiger Axt- und Dechselklingen (insbesondere aus hellgrünem Porco-Jadeitit) sowie Scheibenringen aus den Alpen verbunden (Pétrequin et al. 2012, Kap. 11, 698‒699, Kap. 16). Wie in Warna wurde diese Gesellschaft von einer kleinen Anzahl von Männer kontrolliert, die Exoten von nah und fern anlocken konnten. Anders als in Warna dienten die Objekte aus den Alpen jedoch nicht einfach als Statussymbole, sondern als heilige Objekte, die im komplexen Glaubens- und Bräuchesystem dieser Gesellschaft eine Rolle spielten, wie unten erläutert. Die Herrscher des Morbihan waren für die Errichtung riesiger Menhire und Steinsetzungen verantwortlich, die nach ihrem Tod in gewaltigen Hügeln vom Typ „Carnac“ wie dem Tumulus Saint-Michel begraben wurden. Die alpinen Axtklingen - zusammen mit Fibrolit-Axtköpfen und grünem Variszitschmuck, die beide aus Spanien importiert wurden - spielten eine wichtige Rolle in den Ritualen zur Festigung und Reproduktion dieser sozialen Ordnung. Den Anführern des Morbihan gelang es, einige der längsten bekannten Axtklingen aus alpiner Jade zu erwerben (Abb. 6.8) - darunter das längste, ein 46,6 cm lange Axtklinge vom Typ Rarogne, die zusammen mit mehreren anderen alpinen Axtklingen im Carnac-ähnlichen Hügel Mané er Hroëck niedergelegt wurde (Pétrequin et al. 2012, Kap. 11, Abb. 41 und 42). Sie waren auch für die Organisation der mühevollen Weiterbearbeitung vieler der alpinen Importe verantwortlich: Sie wurden dünner gemacht, um ihre Lichtdurchlässigkeit zu erhöhen, einige wurden perforiert, damit sie aufgehängt werden konnten, und sie wurden glasglänzend poliert. (Die visuelle Wirkung und Besonderheit dieser glasartigen Politur läßt sich am besten anhand neu hergestellter, experimenteller Axtklingen aus Alpenjade ermessen, deren Glanz auch durch langfristige Patinierung nicht getrübt wurde: Pétrequin et al. 2017, Kap. 2, Abb. 9, 12, 16 und 19 und S. 68.) Auf diese Art schufen sie Axttypen, die unverwechselbar und sofort als zu diesem Teil Frankreichs gehörend erkennbar waren, etwa den Typ Tumiac (Pétrequin et al. 2012, Kap. 11, 649‒650 und Abb. 89). Diese werden zusammenfassend als Axtkklingen vom Carnac-Typ bezeichnet. Unter den Axttypen aus Alpengestein, die im Morbihan gefunden wurden, gibt es solche mit verbreiterten Klingen - ein Merkmal, das vermutlich, wie oben erwähnt, von der Form der Kupferaxtköpfe in Ost- und Südosteuropa beeinflußt wurde. Während einige - vom Typ Rarogne - in der Gegend des Monte Viso hergestellt wurden (Pétrequin et al. 2012, Abb. 80 und 81), wurden andere im Morbihan so umgeformt, daß sie Kupferäxten ähnelten (Pétrequin et al. 2012, 643‒648 und Abb. 84 und 85). Daß die Elite des Morbihan Kupferäxte kannte, die in über 2500 km Entfernung gebräuchlich waren, könnte auf indirekte Fernverbindungen - über die alpinen Jadearbeiter in Norditalien - mit den Kupfernutzern in Ost- und Südosteuropa zurückzuführen sein (Pétrequin et al. 2012, Kap. 27, Abb. 21). Die Verbindungen der Herrscher des Morbihan mit Iberien - Verbindungen, die grüne Variszitperlen und Fibrolit-Axte über lange Seereisen nach Norden brachten (Pétrequin et al. 2012, Kap. 16, 973‒976 und Abb. 34) - führten auch zum Auftreten alpiner Axte in dieser Zeit auf der Iberischen Halbinsel. Diese gehören meist zum Carnac-Typ (Pétrequin et al. 2012, Kap. 18 und 21; 2017, Kap. 21, Abb. 30) und sind nur wenige. Die fünfte und letzte wichtige Entwicklung in dieser Zeit war das Nachpolieren importierter alpiner Axte im Pariser Becken und wahrscheinlich auch in Burgund. In vielen Fällen geschah dies, um große, konvexe, tropfenförmige Äxte von Durrington – und insbesondere jene aus Jadeitit – in Kopien der beliebten und neuartigen Altenstadt-Form umzuwandeln, wie oben beschrieben (Pétrequin et al. 2012, Kap. 11, 669‒671). In einigen Fällen schliffen sie importierte Axtklingen nach, um entlang der Mitte jeder breiten Fläche einen Grat (manchmal Y-förmig) zu erzeugen (Abb. 6.8 und 6.9; Pétrequin et al. 2012, Kap. 11, 686‒689 und Abb. 125‒127); dies und ihre glasartige Politur verstärkten den optischen Effekt, wenn Sonnenlicht auf die Axtklingen fiel. Der Anteil der Beilklingen vom Altenstadt-Typ aus Jadeitit beträgt bemerkenswerte 93 % (Pétrequin et al. 2012, 671) - eine Tatsache, die die Bedeutung dieser Beil-Klingen als „Objektzeichen“ von hohem gesellschaftlichen Wert unterstreicht. So wurden, wie im Morbihan, einige wertvolle importierte Axtklingen aus den Alpen umgestaltet, um den kulturellen Vorlieben der Elitemitglieder der Gesellschaft zu entsprechen, die sie benutzten. Darüber hinaus lassen sich Beispiele für eine sukzessive Neupolitur in verschiedenen Gebieten identifizieren. So wurden einige Axtklingen vom Durrington-Typ im Pariser Becken, 550 km vom Ursprungsgebiet entfernt, in die Altenstadt- (und Greenlaw-)Form neu poliert und gelangten dann in das 900 km vom Ursprungsgebiet entfernte Morbihan, wo sie neu geschliffen und zu Axtklingen vom Tumiac-Typ neu poliert wurden (Pétrequin et al. 2012, Abb. 118).Fourthly, the emergence of a highly-differentiated society at the opposite end of Europe in the Morbihan area of southern Brittany is associated with the demand for a large number of top-quality axe- and adze-heads (especially of light green Porco jadeitite), along with disc-rings, from the Alps (Pétrequin et al. 2012, ch. 11, 698‒699, ch. 16). As in Varna, this society was controlled by a small number of men who were able to attract exotica from far and wide, although unlike in Varna, the Alpine objects were deployed not simply as status symbols, but as sacred objects that played a role in this society’s complex system of beliefs and practices, as discussed below. The Morbihan rulers were responsible for the erection of huge standing stones and stone settings, and when they died they were buried in massive “Carnac”-type mounds such as the Tumulus Saint-Michel. The Alpine axeheads - along with fibrolite axeheads and green jewellery of variscite, both imported from Spain - featured prominently in the rituals associated with reinforcing and reproducing this social order. The Morbihan leaders succeeded in acquiring some of the longest known Alpine jade axeheads (Fig. 6.8) - including the very longest, a Rarogne-type axehead 46.6 cm long, that was buried along with several other Alpine axeheads in the Mané er Hroëck Carnac-type mound (Pétrequin et al. 2012, ch. 11, figs 41 and 42). They were also responsible for organising the laborious re-shaping of many of the Alpine imports, thinning them to enhance their translucency, perforating some so that they could be suspended, and polishing them to a glassy polish. (The visual impact and distinctiveness of this glassy polish can best be appreciated by viewing newly-made, experimental axeheads of Alpine jades, whose sheen has not been dulled by longterm patination: Pétrequin et al. 2017, ch. 2, figs 9, 12, 16 and 19 and p. 68.) In this way they created axehead types that were distinctive and immediately recognisable as belonging to this part of France, such as the Tumiac type (Pétrequin et al. 2012, ch. 11, 649‒650 and fig. 89). These are collectively known as Carnac-type axeheads. Among the types of axehead made of Alpine rock that have been found in the Morbihan are ones with expanded blades ‒ a feature arguably influenced by the shape of copper axeheads in east and southeast Europe, as noted above. While some ‒ the Rarogne type ‒ had been made in the Monte Viso area (Pétrequin et al. 2012, figs 80 and 81), others were re-shaped in the Morbihan to make them resemble copper axeheads (Pétrequin et al. 2012, 643‒648 and figs 84 and 85). The awareness, among the Morbihannais elite, of copper axehead shapes that were current over 2500 km away may well be due to indirect long-distance connections ‒ via the Alpine jade workers of northern Italy ‒ with the copper users of eastern and southeast Europe (Pétrequin et al. 2012, ch. 27, fig. 21). The connections that the Morbihan rulers had with Iberia ‒ connections that brought green variscite beads and axeheads of fibrolite northwards, via long-distance sea journeys (Pétrequin et al. 2012, ch. 16, 973‒976 and fig. 34) ‒ also resulted in the appearance of Alpine axeheads in Iberia during this period. These are mostly of Carnac types (Pétrequin et al. 2012, chs 18 and 21; 2017, ch. 21, fig. 30) and they are few in number. The fifth and final key development during this period was the repolishing of imported Alpine axeheads in the Paris Basin, and probably also in Burgundy. In many instances this was in order to convert large, convex, teardrop-shaped Durrington axeheads ‒ and in particular, those of jadeitite ‒ into copies of the popular and novel Altenstadt form as described above (Pétrequin et al. 2012, ch. 11, 669‒671; ch. 16, fig. 1). In some cases they re-ground imported axeheads so as to create a ridge (sometimes Y-shaped) along the centre of each broad face (Figs 6.8 and 6.9; Pétrequin et al. 2012, ch. 11, 686‒689 and figs 125‒127); this, and their glassy polish, enhanced the visual effect when sunlight fell on the axeheads. The proportion of Altenstadttype axeheads made of jadeitite is a remarkable 93% (Pétrequin et al. 2012, 671) ‒ a fact that underlines the importance of these axeheads as “object-signs” of high social value. Thus, as in the Morbihan, some precious imported Alpine axeheads were transformed in order to accord with the cultural preferences of the elite members of society who used them. Moreover, examples of successive repolishing in different areas can be identified, with some Durrington-type axeheads being repolished into Altenstadt (and Greenlaw) form in the Paris Basin, 550 km from the source area, and then travelling to the Morbihan, 900 km from the source area, where they were reground and repolished into Tumiac-type axeheads (Pétrequin et al. 2012, fig. 118).
Weiter erfahren wir (1):
Insgesamt wurden über 60 Exemplare unter den gewaltigen Grabhügeln von Carnac gefunden (Pétrequin et al. 2012, 1398 und Abb. 41). Die Nachfrage nach großen alpinen Axtklingen war im Morbihan so groß, daß etwa 19 % aller westeuropäischen Exemplare (199 von 1040) dort gefunden wurden (Pétrequin et al. 2012, 1396).The total of over 60 found under the massive Carnac mounds (Pétrequin et al. 2012, 1398 and fig. 41). Such was the demand for large Alpine axeheads in the Morbihan that some 19% of all examples from Western Europe (199 out of 1040) have been found there (Pétrequin et al. 2012, 1396).
Und wir lesen (1):
Daß es auch anderswärts ähnliche, von der Mythologie des Morbihan beeinflußte Mythologien gab, zeigt sich am deutlichsten an dem bemerkenswerten verzierten Findling in Buthiers (Seine-et-Marne), auf dem eine göttliche Figur - mit ziemlicher Sicherheit männlich - neben einer alpinen Axtklinge mit Stiel abgebildet ist, dessen Stielende von einem Scheibenring umgeben und mit Eberhauern als Jagdtrophäen verziert ist (Abb. 6.10; Pétrequin et al. 2017, Kap. 29, 884‒886 und Abb. 2). Auf der anderen Seite der Figur sind zwei Boote dargestellt - vermutlich eine Anspielung auf die Boote, die die Elite des Morbihan für ihre Fernreisen nutzte, übertragen in die Welt der Mythen und Legenden (Pétrequin et al. 2017).That similar mythologies existed elsewhere, influenced by that of the Morbihan, is most clearly shown in the remarkable decorated boulder at Buthiers (Seine-et-Marne), where a divine figure – almost certainly male – is shown beside a hafted Alpine axehead, the end of the haft encircled by a disc-ring and embellished with hunting-trophy boars’ tusks (Fig. 6.10; Pétrequin et al. 2017, ch. 29, 884‒886 and fig. 2). On the other side of the individual is a representation of two boats – probably an allusion to the boats used by the Morbihan elite in their long-distance travels, but translated into the world of myth and legend (Pétrequin et al. 2017).
Die genannten Boote könnten auch etwas mit dem Walfang zu tun gehabt haben, auf den in der Untersuchung von Urs Schwegler hingewiesen worden ist.
Wir finden also um 4.700 v. Ztr. reich ausdifferenzierte Gesellschaften in Europa vor, die fast vergleichbar sind mit jenen Gesellschaften, die zur gleichen Zeit an Euphrat und Tigris in Mesopotamien oder am Nil in Ägypten vorgefunden werden können. Die Ausbildung hierarchischer Gesellschaften vollzog sich in Europa und im Vorderen Orient nicht ganz so kraß zeitversetzt wie man sich das viele Jahrzehnte lang vorgestellt hat.
______________
- Sheridan, Alison, Pierre Pétrequin et al.: Fifty shades of green: the irresistible attraction, use and significance of jadeitite and other green Alpine rock types in Neolithic Europe. A Taste for Green: A global perspective on ancient jade, turquoiseand variscite exchange. Oxford, Oxbow (2019): 97-120 (Resg)
- Pierre Pétrequin, Serge Cassen, Michel Errera, Sheridan, Alison: The Europe of jade. From the Alps to the Black Sea. Sidestone Press, Leiden 2017
- Pierre Pétrequin. CERIMES. (2009, 1 janvier). JADE, grandes haches alpines du néolithique européen, in Films du CRAVA (archéologie, ethnologie). [Vidéo]. Canal-U. https://doi.org/10.60527/xxd7-g789. (Consultée le 27 juin 2025) (Yt) (CanalUTV)
- Holger Baitinger: Das jungneolithische Steinbeildepot von Altenstadt (Wetteraukreis) - neue Erkenntnisse zu einem alten Fundkomplex. Archäologisches Korrespondenzblatt 2017 (Heidelberger OJS-Journale - freies pdf: Heidelbg)
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