Für uns hier auf dem Blog bekommt das Neolithikum Frankreichs (Wiki) mit den Erkenntnissen, die im letzten Beitrag in einem ersten Angang referiert worden sind rund um die Jade-Beile und rund um die ersten Großgrabanlagen Europas eine ganz neue, unvorhergesehene geschichtliche Bedeutung (Stg25). Womöglich könnte es sogar viel Sinn machen, von einer ersten "Französischen Revolution" um 4.700 v. Ztr. zu sprechen (s. Abb. 2), und zwar ausgerechnet zur selben Zeit, in der an der Mittleren Wolga das frühe Urvolk der Indogermanen entsteht.
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Abb. 1: Der "West Kennet Long Barrow" aus Südengland , 3.700 v. Ztr., fotografiert von Nick Dawson 2010 (Flickr) - In Ermangelung von Bildrechten für gute Nachbildungen eines Großgrabes vom "Passy-Typ" des Pariser Beckens |
Soll man sagen: In Frankreich begann um 4.700 v. Ztr. in einer ersten Französischen Revolution genau jene gesellschaftliche Ungleichheit, die in der Französischen Revolution von 1789 - der Absicht nach - beendet werden sollte?
Es war die Erforschung der Jade-Beile des Mittelneolithikums durch den französischen Archäologen Pierre Pétrequin (geb. 1943) - seit 2007 im sogenannten "Jade-Projekt", die zusammen mit der Erforschung der "Grabmonumente vom Passy-Typ" (Wiki) im Pariser Becken, in der Normandie und auch in der Wetterau in Deutschland, der ältesten Großgrabanlagen in Europa, zu einem neuen Bild des Mittelneolithikums in Frankreich und Europa nach dem Untergang der Bandkeramik führen.
Diese ältesten Grabmonumente Europas "vom Passy-Typ" unterscheiden sich dadurch von den späteren, daß sie "nichtmegalithisch" sind, also daß keine großen Steine für ihre Errichtung benutzt wurden. Deshalb auch die Bezeichnung "Nichtmegalithische Langhügel" (Wiki). Diese sind das wichtigste Kennzeichen der Cerny-Kultur (4.700-4.300 v. Ztr.) (Wiki) des Pariser Beckens, finden sich aber auch in der Normandie, im Rhone-Tal oder bei Friedberg in der Wetterau - und wird es sicherlich auch im Elsaß gegeben haben - wo sie nur noch nicht gefunden oder wahrnehmbar publiziert worden sind.
Um 3.900 v. Ztr. ist Südengland nach Ausweis der bisherigen archäologischen Forschungen von Bevölkerungen aus dem Pariser Becken und vom Pas de Calais aus besiedelt worden. Auch von den Kanalinseln und aus der Normandie kamen Siedler. Nur wenige Jahrzehnte später, vielleicht auch ein oder zwei Jahrhunderte später ist Schottland - nun von Menschen aus der Bretagne - besiedelt worden (s. Stg11). Diese trugen - wie die zeitgleichen Bevölkerungen im heutigen Frankreich - 20 % westeuropäische Jäger-Sammler-Herkunft in sich und 80 % anatolisch-neolithische Herkunft. Die in England einheimischen westeuropäischen Jäger und Sammler starben dort vollständig aus (und/oder wurden ausgerottet) - der erste umfangreiche genetische Umbruch auf den britischen Inseln (Stg21).
Dieser Vorgang zeigt auch, welche großen wirtschaftlichen und demographischen Expansions-Kräfte in der Cerny-Kultur im Pariser Becken und in der Carnac-Kultur in der Bretagne beschlossen lagen. Sie machen damit auch plausibel, daß sich im Mittel- und Spätneolithikum wiederholt bäuerliche Kulturen vom mittleren Frankreich aus bis in das heutige Deutschland hinein ausbreiteten, so etwa die Cerny-Kultur bis in die Wetterau und in das Elsaß (als Hinkelstein- und Friedberg-Planig-Kultur) oder sogar bis nach Sachsen als Rössener Kultur, später die Michelsberger Kultur und noch später die Glockenbecher-Kultur, die wohl auch im weiteren Umfeld der Aisne entstanden ist (Stg25).
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Abb. 2: Das Alter neolithischer Großgrabanlagen in Europa nach Regionen - Die frühesten finden sich im Pariser Becken (aus 7) |
Im Süden Englands gibt es den "West Kennet Long Barrow" (Wiki), der aus der Zeit um 3.700 v. Ztr. stammt. Obwohl für ihn auf der breiten Eingangs-Seite schon Megalithen benutzt worden sind, kann er insgesamt vermutlich eine gute Vorstellung geben auch von "nichtmegalithischen Langgräbern" der Cerny-Kultur im Pariser Becken, in der Normandie, in der Friedberg-Planig-Kultur in der Wetterau und im Elsaß. Die Langgräber dieser Kulturen haben sich - wohl aufgrund ihres noch größeren Alters und aufgrund des Fehlens von großen Steinen - nicht oberhalb der Erdoberfläche erhalten und waren deshalb schwer zu entdeckten. Sie wurden in den 1980er Jahren erstmals durch Luftprospektion entdeckt und entpuppten sich als die ältesten Großgräber Europas (Abb. 2).
Man wird sagen dürfen: Die großartigen Megalithkulturen Europas: Sie nahmen vom Pariser Becken aus ihren Anfang. Der lang gesuchte Ursprungsort ist gefunden, und zwar in "nichtmegalithischen Langgräbern". Man muß sich klar machen: Von der Cerny-Kultur im Pariser Becken um 4.700 v. Ztr. aus sieht eine so großartige Megalithkultur wie die Trichterbecher-Kultur, die ab 4.300 v. Ztr. im Ostseeraum entstanden ist, vergleichsweise "jung" aus. Ihr Entstehen im Ostseeraum ist ohne die Vorgeschichte in Frankreich in Form der Cerny-Kultur und in Form der späteren Michelsberg-Kultur nicht denkbar.
Die Langgräber der Cerny-Kultur und damit auch der Friedberg-Planig-Kultur am Rhein sind noch von der "spitzen", schmalen Seite her genutzt worden und von dieser her begangen worden, nicht von der breiten, "hinteren" Seite her - wie bei den Megalithgräbern des 4. Jahrtausends v. Ztr.. Von den Cerny-Gräbern vom Passy-Typ gibt es im übrigen auch sehr schöne Rekonstruktionen (s. z.B. Inrap2014).
Vorläufer: Die Villeneuve-Saint-Germain-Kultur (5.100-4.700 v. Ztr.)
Die Abfolge der neolithischen, bäuerlichen Kulturen in Frankreich ist eine sehr spannende (Neolblog2016). Sie wirft auch Licht auf die Abfolge der bäuerlichen Kulturen des Mittelneolithikums in Deutschland, insbesondere auf die Entstehung der dortigen Rössener Kultur und ihrer Vorläufer-Kulturen, der Hinkelstein-Kultur (5000 bis 4900 v. Ztr.), der Großgartacher Kultur (4900 bis 4700 v. Ztr.), der Friedberg-Planig-Kultur (um 4.600 v. Ztr.) und der Rössener Kultur bis etwa 4600/4550 v. Ztr..
Die erste bäuerliche Kultur Mitteleuropas, die Linearbandkeramik (5.700-4.900 v. Ztr.) (Wiki) hatte sich vom Wiener Becken aus über ganz Mitteleuropa bis in die Ukraine und bis in das Pariser Becken hin ausgebreitet. Sie hatte die Grundlagen für alles folgende gelegt, sowohl genetisch wie kulturell. In Frankreich wird sie auch "Culture Rubanée" genannt (Wiki). Das Rhone-Tal aufwärts hat sich zeitgleich im Süden Frankreichs die Cardial-Kultur ausgebreitet. Die Menschen dieser Kultur hatten von Anfang an einen höheren Jäger-Sammler-Herkunftsanteil in ihren Genen, aber auch - wie die Bandkeramik - überwiegend anatolisch-neolithische, sprich jene mediterrane Genetik, die sich bis heute im Mittelmeerraum gehalten hat.
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Abb. 3: Die Villeneuve-Saint-Germain-Kultur (5.100-4.700 v. Ztr.) im Pariser Becken breitet sich als Hinkelstein-, Großgartach- und Friedberg-Planig-Kultur - womöglich - bis nach Südwestdeutschland aus (aus: Neolblog2016) |
In Nordfrankreich waren also die Bauern jener Zeit - zumindest bis 5.100 v. Ztr. - genetisch "mediterraner" als in Südfrankreich. Ab 5.100 v. Ztr. ging dann - offenbar aus dem Zusammentreffen dieser beiden Kulturen in Nordfrankreich - die Villeneuve-Saint-Germain-Kultur (5.100-4.700 v. Ztr.) (Wiki, franz) hervor, etwa zeitgleich zur Entstehung der Hinkelstein- und Großgartach-Kultur am Mittelrhein und in Südwest-Deutschland. Wir werden damit darauf aufmerksam, daß das Ende der eigentlichen Bandkeramik in Westeuropa nicht erst ab 4.900 v. Ztr. erfolgte, sondern vermutlich schon zweihundert und einhundert Jahre früher, schon ab 5.100 v. Ztr. und ab 5.000 v. Ztr.. So lesen wir etwa über die süddeutsche Großgartacher-Kultur (Wiki):
Die Großhäuser im Mittelneolithikum mit bis zu 65 m Länge stehen noch in der Tradition der bandkeramischen Langhäuser. Sie sind aber nicht mehr längsrechteckig, sondern besitzen leicht gebogene Längswände und unterschiedlich lange Schmalseiten. Der Grundriß ist schiffsförmig.
Das ist also keineswegs mehr klassische Bandkeramik. Über die zeitgleiche Villeneuve-Saint-Germain-Kultur in Frankreich lesen wir (Wiki):
Die Villeneuve-Saint-Germain-Gruppe (...) ist eine Kulturgruppe des Frühneolithikums in Frankreich - zeitgleich mit der zweiten Phase der Bandkeramik-Kultur - mit der sie die Langhausarchitektur teilt. Die Verzierungen der Keramik (Girlanden) verbinden diese Gruppe mit der Bandkeramik-Kultur; die Herstellung von Steinarmbändern und Druckabschlägen verbindet diese Gruppe mit der mediterranen Cardial-Kultur. Diese kulturelle Fazies entwickelte sich im Norden Frankreichs, insbesondere im Pariser Becken, in Südbelgien, wo sie Blicquien genannt wird. Sie erstreckt sich im Westen bis ins Herz der Bretagne (Dillien bei Cléguérec und Bellevue bei Neulliac; Morbihan).
Ihren Namen verdankt diese Kultur dem Fundort Villeneuve-Saint-Germain im Département Aisne. Ob es zu dieser Zeit auch schon zur genetischen Vermischung mit den Bauern der Cardial-Kultur Südfrankreichs gekommen ist oder auch mit einheimischen Jäger-Sammler-Gruppen, ist noch ungeklärt. Es könnte aber nahe liegend sein. Auch rund um die Blätterhöhle in Westfalen sind solche Vermischungs-Prozesse inzwischen bekannt geworden, auch noch aus späterer Zeit.
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Abb. 4: Die Cerny-Kultur zeitgleich zur Rössener Kultur und zur Carnac-Kultur in der Bretagne (Neolithique Armoricain) (aus: Neolblog2016) |
Es dämmert sofort der Gedanke auf, daß das oben schon erwähnte zeitgleiche Geschehen an Wolga und Seine nicht nur auf Zufall beruhen kann. Die zeitgleichen Vorgänge an der Mittleren Wolga einerseits und in der Südbretagne und im Pariser Becken andererseits "korrespondieren" auf auffällige Weise miteinander - und zwar auf mehreren Ebenen. Sie zeigen auf, daß hier Menschen und Gesellschaften über weite Regionen hinweg unabhängig voneinander ähnliche gesellschaftliche Entwicklungen durchlaufen haben, daß plötzlich das "Bedürfnis" - oder die "Notwendigkeit" oder die "Möglichkeit" - vorhanden war für die Ausbildung erster hierarchisch gegliederter Gesellschaften, und zwar einerseits vom Ostrand Europas ausgehend und andererseits vom Westrand Europas ausgehend.
Ähnliche gesellschaftliche Vorgänge um 4.700 v. Ztr. - In der Bretagne, an der Seine, am Rhein und an der Wolga
Wir lesen über das Gebiet des heutigen Frankreich (Wiki):
Auf der Atlantikseite entstand um 4600 v. Ztr., also im mittleren Neolithikum, die Cerny-Gruppe mit bereits megalithischen Elementen (proto-megalithisch), z. B. bei Passy im Département Yonne in Burgund, wo man Zeremonialflächen oder -einhegungen fand, die durch Palisaden und Gräben abgetrennt wurden (vgl. Einhegung vom Typ Passy). Die Häuser waren stark vom Donauraum beeinflußt, ebenso wie die Keramik. Die Cerny-Gruppe wird im Allgemeinen mit der in Deutschland weit verbreiteten Gruppe der Rössener Kultur parallelisiert.
Die Nichtmegalitischen Langgräber entstanden in Frankreich in jedem Fall "aus dem Nichts", ganz ohne Vorläufer.
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Abb. 5: Nichtmegalithische Langhügel der Cerny-Kultur in Frankreich (Passy) und zeitgleiche Grabanlagen in der Normandie, in der Südbretagne und im Rhone-Tal (aus: Chambon2023) |
In einer neueren archäologischen Veröffentlichung heißt es unter anderem über "nichtmegalithische Langhügel" der Cerny-Kultur im Pariser Becken und sonst in Frankreich (Chambon2023):
Grabmonumente treten an der Atlantikküste Kontinentaleuropas in der ersten Hälfte des 5. Jahrtausends auf kurz nach der Ankunft der ersten Bauern. Diese großartigen, zum „Passy“-Phänomen gehörenden Bauten können über 350 m lang sein und wurden zum Gedenken an hochrangige Persönlichkeiten errichtet. Aus der vorhergehenden Periode gibt es keine Hinweise auf die Entstehung dieser Monumente. Sie weisen keine geografische Kontinuität auf, da sie unterschiedlichen kulturellen Substraten entstammen. Dennoch zeichnen sich diese Bauwerke durch die Wiederholung spezifischer Merkmale aus, darunter ihre Anordnung und räumliche Gliederung, sowie durch ein hohes Maß an Geschlechtertrennung und einen Fokus auf die Jagd bzw. das Bogenschießen. Diese Konvergenz spiegelt eine fest verwurzelte Sozialstruktur und Ideologie wider, die von den Gemeinschaften geteilt wurde. Mehr noch, das deutet darauf hin, daß die Nachkommen der beiden Hauptkulturen, die für die Verbreitung der Landwirtschaft in Europa verantwortlich waren - der Linearbandkeramik und der Impresso-Cardial-Kultur -, die am Ende des Kontinents aufeinander trafen und sich mit den Nachkommen der letzten Jäger und Sammler vermischten, ein neues Wertesystem und wahrscheinlich auch ein neues religiöses Universum schufen. Während die mit dem Passy-Phänomen einhergehende Grabmonumenalität in Form von Megalithen weiterlebte, brach das System nach einigen Jahrhunderten schließlich zusammen - was angesichts seines extremen Charakters zu erwarten war.Funerary monuments appeared shortly after the arrival of the first farmers along the Atlantic Coast of continental Europe, during the first half of the fifth millennium. These enormous constructions, belonging to the ‘Passy’ phenomenon, can measure over 350 m in length and were erected to commemorate high-status individuals. No funerary evidence from the previous period hints at the emergence of these monuments. They do not exhibit any geographical continuity, originating from different cultural substrates. Nevertheless, these structures are characterized by the repetition of specific traits, including their layout and their spatial articulation, as well as a high degree of gender segregation and a focus on hunting or archery. This convergence reflects a well-established social structure and ideology, shared between communities. Moreover, it implies that the descendants of the two main cultures responsible for the spread of agriculture in Europe, the Linearbandkeramik and the Impresso-Cardial, which met at the end of the continent and which absorbed the descendants of the last hunter-gatherers, generated a new value system, and likely a new religious universe. While the funerary monumentality that appeared alongside the Passy phenomenon continued in the form of megaliths, the system eventually collapsed after a few centuries—which was to be expected, given its extreme character.
Nun, zumindest in Südengland scheint sich diese Kultur genetisch und kulturell fortgesetzt zu haben. Ein einzelnes Königsgrab in Passy hat - ebenso wie eine Jade-Steinbeil - eine "spitze" Seite und eine runde Seite. Hier sind schon Erkenntnisse aufgegriffen, die eine archäogenetische Studie des Jahres 2022 über die Bestatteten in Gräbern vom "Passy-Typ" in der Normandie erbracht hatten (Rivolat2022):
Wir gehen davon aus, daß verschiedene, nicht miteinander verwandte Familien oder Clans die Fundstätte über mehrere Jahrhunderte hinweg nutzten. Dreizehn der 14 analysierten Personen waren männlich, was auf ein übergreifendes patrilineares System hindeutet. Eine Ausnahme, eine Frau, die mit einem symbolisch männlichen Artefakt begraben wurde, deutet jedoch darauf hin, daß die Verkörperung des männlichen Geschlechts im Tod erforderlich war, um Zugang zu den monumentalen Bauwerken zu erhalten.We hypothesize that different, unrelated families or clans used the site over several centuries. Thirteen of 14 of the analyzed individuals were male, indicating an overarching patrilineal system. However, one exception, a female buried with a symbolically male artifact, suggests that the embodiment of the male gender in death was required to access burial at the monumental structures.
Die dort Begrabenen waren relativ einheitlich zu etwa 80 % anatolisch-neolithischer Herkunft und zu 20 % Herkunft westeuropäischer Jäger und Sammler (s. Rivolat2022, Fig. 3). Ein Individuum hat sogar nur sieben Prozent Jäger-Sammler-Genetik, dieses Individuum könnte direkt von Bandkeramikern abstammen. Hier wird eine wesentliche Erkenntnis genannt: "Patriarchales" Denken entsteht um 4.700 v. Ztr. nicht nur an der Mittleren Wolga bei den Urindogermanen, sondern auch an der Seine.
Man betritt ein einzelnes Grab von der spitzen Seite her. Von der spitzen Seite her verzweigen sich auch mehrere, nebeneinander, bzw. hintereinander liegende Familiengräber voneinander, so daß über die Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg ein ganzes Ensemble von Grabmonumenten entstehen kann (Inrap2014). Man könnte sich auch vorstellen, daß der Grundgedanke oder die Grunderfahrung dieser nichtmegalithischen Langgräber auch ein niedergebranntes Langhaus sein könnte, in dem der König eine Feuerbestattung erfahren hat.
Am Rand der bäuerlichen Welt - Die Walfänger der Bretagne
Aber nicht nur an der Seine, auch in der Bretagne entsteht eine hierarchisch gegliederte Gesellschaft. Die Bretagne war immer eine der abgelegensten, sagenumwobensten Regionen Europas. In dieser hielten sich vormals vorherrschende Völker, Sprachen und Lebensweisen länger als anderwärts auf dem europäischen Kontinent. Das gilt - bekanntermaßen - für die Geschichte der großen keltischen, indogermanischen Völkergruppe (s. z.B. Stg22). Es gilt das aber natürlich auch schon für die Zeit des Neolithikums davor, in der sich überall in Europa einheimische Restbevölkerungen in Rückzugsräumen gehalten haben, die dann für die Ethnogenese-Prozesse des Mittelneolithikums von Bedeutung wurden.
Auf der weniger Hektar großen bretonischen Felsinsel Téviec (Wiki), die der dortigen Küste vorgelagert ist, wurden 1928 aufsehenerregende mesolithische Gräber gefunden, die dann im Jahr 1999 auf etwa 4.625 v. Ztr. datiert wurden (Abb. 4), also auf die Zeit der Entstehung der ersten hierarchischen, Männer-dominierten Gesellschaft in der Bretagne.
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Abb. 6: Die Bestattung zweier erschlagener junger Frauen auf der bretonischen Insel Téviec (um 4625 v. Ztr.) Fotograf Didier Descouens (Wiki) |
Es war das eine Zeit, in der es auf dem Festland im heutigen Frankreich den genannten kulturellen Umbruch gab. Die Bandkeramiker hatten sich in das Pariser Becken und - in Form der oben genannten Nachfolgekultur - bis in die Bretagne ausgebreitet. Und aus dieser ging um 4.700 v. Ztr. erstmals eine neue Gesellschaftsform hervor, nämlich hierarchische, Männer-dominierte bäuerliche Gesellschaften mit kulturellen Traditionen, die in vormaliger Jäger-Sammler-Kultur gewurzelt haben könnten (s. Stg25).
Da sich auf Felsgravuren der Morbihan-Kultur in der Bretagne immer wieder auch Wale dargestellt finden (Schwegler, 35), wird man davon ausgehen können, daß die Menschen der Bretagne Wale gejagt haben und im Wal auch eine Art "göttliches Wesen" gesehen haben könnten. Die Walfänger-Tradition hatte sicherlich schon mesolithische Wurzeln. Um 4.625 v. Ztr. wurden nun zwei junge Frauen der seefahrenden Walfänger, Jäger und Sammler an der Küste der Bretagne erschlagen und von ihren Angehörigen ehrenvoll bestattet (Abb. 6) (Wiki):
Unter einem großen Muschelhaufen befand sich das Grab von zwei unter 35 Jahre alten Menschen. Sie waren in einer flachen Grube sorgfältig nebeneinander mit aufrechtem Oberkörper und angewinkelten Beinen in Hockhaltung beigesetzt, und von Geweihstangen überwölbt unter Muschelresten begraben, deren hoher Kalkgehalt zur guten Konservierung beitrug. Neben Artefakten aus Flintstein und Wildschweinknochen als Grabbeigaben war an den Skeletten Schmuck erhalten: durchbohrte Meeresmuscheln, die zu Ketten montiert rings um Hals, Arme und Knöchel lagen, sowie Knochenobjekte mit gravierten Linien. Beide Skelette weisen Frakturen durch äußere Gewalteinwirkung auf, womöglich erst postmortal aufgetreten. An einigen Skeletten aus anderen Gräbern finden sich Hinweise auf tödliche oder schwerwiegende Verletzungen, etwa durch Pfeilwunden. Die bei den Grabungen gefundenen Mikrolithen und Geräte, darunter ein sogenannter Lochstab, lehnen sich in etwa dem Tardenoisien an.
Vielleicht war damals die Insel noch mit dem Festland verbunden und die Muschelhaufen waren Essensreste neben Wohnbereichen (Wiki). Ob hier die letzten Jäger und Sammler der Bretagne in einem erbitterten Krieg standen mit der sich in der Bretagne ausbreitenden Bauern-Kultur? Das Grab scheint jedenfalls noch völlig in der zuvor über ganz Europa verbreiteten mesolithischen Tradition zu stehen, in der Menschen der Völkergruppe der westeuropäischen Jäger und Sammler ihre Toten sehr oft in halb aufrechter Höcker-Stellung begraben haben (Stg21).
Die Jade-Könige in der Bretagne
Jedenfalls entstand just zu dieser Zeit an der Südküste der Bretagne die großartige Carnac-Kultur (Wiki, engl, franz). Sie war ein Zentrum der Jade-Eliten des frühen Mittelneolithikums im heutigen Frankreich ab etwa 4.700 v. Ztr.. Die Carnac-Kultur wird auch Morbihan-Kultur (Wiki) genannt (denn das Departement an der Südküste der Bretagne heißt Morbihan). Es gibt auch die Bezeichnung "Neolithique Armoricain" nach einem dortigen Höhenzug. Südöstlich der Carnac-/Morbihan-Kultur schloß sich im Pariser Becken die Cerny-Kultur an. Diese wiederum wies kulturelle Ähnlichkeiten auf mit der Hinkelstein- und "Friedberg-Planig-Kultur" in der Wetterau und im Elsaß.
Bei den Carnac-Steinreihen könnte es sich im Wesentlichen - so wie in der Cerny- und in der Friedberg-Planig-Kultur - um lange Familiengräber und zugehörige Zeremonial-Wege handeln, die von Hochadelsfamilien im religiösen und politischen Zentrum des Reiches angelegt worden sind.
Zur Wissenschaftsgeschichte der frühesten Großgräber Europas erfahren wir (8):
Große Grabanlagen aus dem 5. Jahrtausend v. Ztr. im Pariser Becken sind ein bedeutendes Phänomen im westeuropäischen Neolithikum. Sie wurden in den 1980er Jahren zunächst im Yonne-Tal und im oberen Seine-Tal entdeckt (Duhamel/Midgley 2004; Mordant 1997b), eine zweite Konzentration wurde rasch in der Normandie, nahe Caen, entdeckt (Desloges 1997).Monumental cemeteries dating to the 5th millennium BC in the Paris Basin are a major phenomenon in the West European Neolithic. Identified in the 1980s, first in the Yonne Valley and the upper Seine Valley (Duhamel/Midgley 2004; Mordant 1997b), a second concentration was rapidly recognized in Normandy, near Caen (Desloges 1997).
Und weiter wird über die Großgräber vom Passy-Typ der Cerny-Kultur berichtet (8):
In Rücksicht auf Alter und Geschlecht der Toten umfassen diese Gräber alle Bevölkerungsschichten: junge und alte Erwachsene, Männer und Frauen, Kinder jeden Alters (Thomas 2011, 471–483). Die zugehörigen Grabbeigaben sind selten und beziehen sich im Allgemeinen auf die Natur, sei es durch Hinweise auf Jagdaktivitäten durch die Hinterlegung von Jagdwerkzeugen (Pfeile, Köcher, Bögen) oder die Verwendung von Materialien wilder Tiere für Schmuck und Werkzeuge (Chambon/Pétillon 2009; Sidéra 1997). Nur wenige der Gräber enthalten Artefakte aus dem häuslichen Kontext oder solche, die typisch sind für die Cerny-Kultur (Bailloud 1979).Die Grundeinheit dieser Grabanlagen umfaßt mindestens zwei Personen, eine pro Grabanlage, und bis zu zehn in der Hauptgruppe in Balloy (Chambon/Thomas 2014, Abb. 5a). Die beiden "erforderlichen" Personen sind zwei Männer. Der jüngere wird durch Pfeilspitzen als Jäger gekennzeichnet, der ältere wird von einem rätselhaften spitzen Knochenartefakt begleitet, dessen Form dem "Eiffelturm" ähnelt. Kinder finden sich entlang der Mittelachse, während Frauen fehlen oder in Randbereichen bestattet sind (Chambon/Thomas 2010, Abb. 6).Based on the age and sex of the dead, these graves include all population classes: young and old adults, men and women, children of all ages (Thomas 2011, 471–483). The associated grave goods are rare and generally refer to nature, whether by indicating hunting activity by the deposit of hunting tools (arrows, quivers, bows) or the use of materials from wild fauna for ornamentation and tools (Chambon/Pétillon 2009; Sidéra 1997). Few if any of the graves contain artefacts found in domestic context or those typical of the Cerny culture (Bailloud 1979).The basic unit of these cemeteries includes at minimum two subjects, one per monument, and up to ten in the main group at Balloy (Chambon/Thomas 2014, fig. 5a). The two »required« subjects are two men, the younger designated as a hunter by the presence of arrowheads as grave goods, the elder accompanied by an enigmatic pointed bone artefact similar in form to the »Eiffel Tower«. Children may be found along the central axis, while women are absent or occupy peripheral areas (Chambon/Thomas 2010, fig. 6).
Hier wie bei den Urindogermanen bekommt man den Eindruck, als ob Jäger-Sammler-Völker im Angesicht der für sie "monumentalen" Häuser der Bauerndörfer "auch" etwas "Monumentales" hätten errichten wollen. Da sie aber nomadisch oder halb-nomadisch leben, können diese "Häuser" für sie nur Grabanlagen sein. So entstanden jedenfalls genau in dieser Zeit erste "große" Grabhügel der Urindogermanen am nördlichen Fuß des Kaukasus im "Gegenüber" der Bauern-Kultur, die im Kaukasus lebte, und später im "Gegenüber" zu der Cucuteni-Tripolje-Kultur, die in der Ukraine lebte. Wir zitierten schon letztes Jahr über die Zeit 3.900 bis 3.300 v. Ztr. in der Nordschwarzmeer-Steppe (zit. n. Stg24):
Die rituelle Steppenarchitektur dieser Periode erlangt eine beträchtliche Monumentalität, und ihre wichtigsten strukturellen Merkmale ähneln der europäischen megalithischen Bestattungsarchitektur Mittel- und Nordwesteuropas. Die frühesten derartigen Strukturen im Nordschwarzmeerraum erscheinen in der Kontaktzone von Steppe und Tripolje bei Pobuzhzhia (dem südlichen Bug-Becken).
Daraus zogen wir die folgende Schlußfolgerungen für die Ethnogenese der Späten Urindogermanen rund um Michailowka am Mittleren Dnjepr (Stg24):
"Pobuzhzhia" (...) liegt 330 Kilometer nordwestlich von Michailowka am Dnjepr. Wie den Verbreitungskarten der Cucuteni-Tripolje-Kultur zu entnehmen ist, lag das Gebiet am Südlichen Bug schon im östlichen Grenzgebiet der dicht besiedelten Bauern-Kultur. (...) Wir sehen, daß in diesen 600 Jahren der Formierungsphase die Steppenvölker weiter in Bewegung sind, und daß sich insbesondere vom Bereich der Maikop-Kultur aus neue rituelle Formen und "Monumentalarchitektur" ausbreiten, und zwar wird sie zunächst im Grenzbereich zur Cucuteni-Tripolje-Kultur gebräuchlich, bevor sie auch am Unteren Dnjepr und an der Molotschna praktiziert wird. Auch der erste wirklich große Grabhügel ist ja im Kaukasus errichtet worden, womöglich auch "im Angesicht" einer dort festgefügten bäuerlichen Kultur. Es kommt einem der Gedanke, ob monumentale Grabarchitektur nicht überhaupt vor allem anfangs praktiziert wurde als "Machtdemonstration" gegenüber kulturell weiter entwickelten Völkern und Kulturen.
Es folgt noch ein dritter Artikel über die erste Französische Revolution ab 4.700 v. Ztr.
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- Philippe Chambon, Aline Thomas: The First Monumental Burials in the 5th Millennium BC: Unresolved Questions About the Emergence of the ‘Passy Phenomenon’. December 2023Journal of World Prehistory 36(2-4) (Resg2023)
- Johannes Müller, Martin Hinz, Maria Wunderlich (Hg.) (Institut für Ur- und Frühgeschichte der CAU Kiel): Megaliths - Societies - Landscapes. Early Monumentality and Social Differentiation in Neolithic Europe. Volume 1. Proceedings of the international conference mit gleichem Titel (16th–20th June 2015) in Kiel. Verlag Dr. Rudolf Habelt GmbH, Bonn 2019 (pdf)
- Emmanuel Ghesquière, Philippe Chambon, David Giazzon, Lamys Hachem, Corinne Thevenet, et al.. Monumental cemeteries of the 5th millennium BC: The Fleury-sur-Orne contribution. Müller Johannes; Hinz Martin; Wunderlich Maria. Early Monumentality and Social Differentiation in Neolithic Europe, Frühe Monumentalität und soziale Differenzierung (18), Dr. Rudolf Habelt GmbH, Bonn 2019, S. 177-192 (pdf)
- M. Rivollat, A. Thomas, E. Ghesquière, A.B. Rohrlach, E. Späth, M. Pemonge, W. Haak, P. Chambon, & M. Deguilloux, Ancient DNA gives new insights into a Norman Neolithic monumental cemetery dedicated to male elites, Proc. Natl. Acad. Sci. U.S.A. 119 (18) e2120786119, https://doi.org/10.1073/pnas.2120786119 (2022) (PNAS)
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