Die Wissenschafts-Zeitschrift "Gehirn und Geist" hat eine ganze Fülle von Beiträgen zum Thema Religiosität aus Sicht der Naturwissenschaft freigeschaltet (aus den letzten drei Jahren). Hier ein Auszug aus dem Editorial dazu:
... In einer Zeit, in der viele Menschen nach persönlichen Antworten auf die Fragen von Leben, Liebe und Tod sowie den Spielregeln unseres Zusammenlebens suchen, boomen nicht nur Lebenshilfe und pseudoreligiöse Gruppen. Auch besonders strenge Glaubensverbände erfahren Zulauf. Dabei scheinen zeitaufwändige, anstrengende Rituale wie das Zölibat oder Gebets- und Speisevorschriften aus evolutionsbiologischer Sicht zunächst völlig unsinnig. Doch Anthropologen haben eine neue Theorie über derartige Rituale entwickelt: Glaube als Selektionsvorteil – je komplexer und anspruchsvoller die Anforderungen an den Einzelnen, desto stabiler und solidarischer die Gemeinschaft.
Hervorhebungen durch mich, denn ich halte das für einen wesentlichen Grundgedanken. Evolutionär erfolgreiche Glaubensgemeinschaften und -systeme legen sich oft mit Absicht "Steine in den Weg", machen sich mit Absicht das Leben schwer oder prosperieren besonders dort gut, wo das Leben und wo die allgemeinen Lebensbedingungen besonders schwer sind. Das scheint etwas mit der menschlichen Psyche zu tun zu haben. - Deshalb stellen die vielen Lebenserleichterungen der modernen Welt sicherlich auch eine Gefahr für das Überleben von Religionen und Religiösität dar - zumindest in jenen Gesellschaften, in denen diese Lebenserleichterungen besonders stark das Leben prägen, also in wirtschaftlich "reichen", arbeitsteilig "komplexen" Gesellschaften, die höchstwahrscheinlich erst durch die Entbehrungen hervorgebracht worden sind (etwa die "innerweltliche Askese" Max Webers), zu deren Überwindung die psychische Kraft aus Religiosität gewonnen worden war.
Reiche Gesellschaften könnten also von dem psychischen Kapital "zehren" (und es aufbrauchen), das die Entbehrungen früherer Jahrhunderte erst angesammelt hatten.
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