- 442 Wikinger-Genome sind sequenziert worden - Und die Ergebnisse zeichnen ein Bild auffallender genetischer Kontinuität bis heute
Die Skandinavier sehen noch heute genauso aus wie die Skandinavier vor tausend Jahren. Ähnliche Körperpigmentierung, ähnliche Körpergröße und viele sonstige angeborene körperliche und seelische Merkmale sind in den letzten tausend Jahren in ihrer Häufigkeit größtenteils gleich geblieben. Das ist das wesentliche Bild, das eine neue Studie zur Archäogenetik der Wikinger zeichnet (1).*) Und angesichts der vielfältigen genetischen Veränderungen in Europa vor der Bronzezeit darf man auch das Bild von etwa 4000 Jahren genetischer Kontinuität seit der Bronzezeit in Europa so stark wie möglich auf sich wirken lassen. Europa steht eben für beides: Für Veränderung und für Kontinutität. Und es weist fast in jenen Geschichtsepochen, in denen es kulturell die größten Veränderungen hervorgebracht hat, genetisch fast die geringsten Umwälzungen auf. Nämlich in den letzten tausend Jahren (1).
Eigentlich erst für ein einziges genetisch verschaltetes Merkmal kann die Archäogenetik und die moderne Humangenetik neuerdings aufzeigen, daß es sich in den letzten 4000 Jahren innerhalb von Nordeuropa in seiner Häufigkeit deutlich verändert hat: Rohe Milch haben unsere Vorfahren mehrheitlich erst seit der Bronzezeit getrunken, nicht vorher. Diese Erkenntnis deutet sich in einer Grafik an, die in der neuen Preprint-Studie zur Archäogenetik der Wikinger auch enthalten ist (Abb. 1).
Abb. 1: Häufigkeit der erwachsenen Rohmilch-Trinker nach Zeitepoche und Region (aus: 1) |
Dieses einzige Bild größerer Veränderung, das hier zu behandeln ist, sei zuerst erkläutert (Abb. 1): In der spätneolithischen schnurkeramischen Kultur ("Corded Ware EU") gab es unter 10 sequenzierten Individuen keines, das angeborenermaßen rohe Milch verdauen konnte. Unter 31 sequenzierten Glockenbecher-Individuen im heutigen Deutschland gleicher Zeitstellung ("BB_Germany") gab es ebenfalls nur wenige Individuen, die das konnten. Diese Eigenschaft ist allerdings dann im bronzezeitlichen Ostseeraum ("Baltic_BA") schon unter fünf von 10 Individuen zu finden. Und in der Wikingerzeit ("VA") ist diese Fähigkeit dann schon ähnlich häufig verbreitet wie sie es noch heute in Skandinavien ist (heute: Balken ganz rechts).
"Polygenetische Risiko-Faktoren" vor 1.000 Jahren
Und das gilt interessanterweise für eine große Fülle von angeborenen Eigenschaften wie Haar-, Haut- und Augenfarbe, auch Körpergröße, Neigung zu Schizophrenie und so weiter. Sie alle sind in der Regel deutlich stärker polygenetisch verschaltet als die Erwachsenen-Rohmilch-Verdauung. Und für sie kann - aufgrund der Forschungen der wenigen letzten Jahre - inzwischen eine polygenetische Erblichkeitseinschätzung ("polygenic risk score") vorgenommen werden, selbst für Genome aus tausende von Jahren alten Knochen (Abb. 2).
Abb. 2: Vergleich polygenetische Merkmale der Wikinger und der heutigen Skandinavier - Kontinuität oder Veränderung? (Bildschirmfoto aus: 1) |
In Abbildung 2 werden eine Fülle von menschlichen Eigenschaften aufgezählt, deren Ausprägung von mehr als hundert einzelnen Gen-Orten (SNP's) im Genom mitbestimmt werden, sprich, die polygenetisch vererbt werden, und für die schon heute aufgrund der fortgeschrittenen Forschungslage eine Einschätzung der phänotpyischen Ausprägung anhand der polygenetischen Daten im Genom vorgenommen werden kann. Die Häufigkeitsverteilung dieser polygenetischen Anlagen ("polygenic risc score") scheinen sich nun laut dieser Grafik in den letzten tausend Jahren in den seltensten Fällen auffallend verändert zu haben - abgesehen von einer Eigenschaft: der Neigung zu schwarzer Haarfarbe. Diese liegt heute sogar noch deutlich weniger häufig vor in Skandinavien als vor tausend Jahren. Aber selbst Gene, die mitbestimmen, wieviel Zeit wir vor dem Fernseher verbringen, scheinen heute noch ähnlich verteilt zu sein in der Bevölkerung wie vor tausend Jahren. Ebenso Gene, die den Zeitpunkt der geschlechtlichen Reife mitbestimmen (also die typische angeborene Sprödigkeit der Germanen), ebenso Gene, die Heuschnupfen hervorrufen, Gene, die Körpergröße und Körpergewicht bestimmen, Gene, die bestimmen, ob man ein Morgenmensch oder Abendmensch ist, Gene, die mitbestimmen wie neurotisch wir sind, wie stark wir dazu neigen, an Schizophrenie zu erkranken und so vieles andere mehr.
Sie alle sind gleich geblieben - trotz tausend Jahren Christentum. Wir Menschen des 21. Jahrhunderts scheinen genetisch noch sehr stark jenen Menschen zu ähneln, die vor tausend Jahren in Europa gelebt haben. In der Studie werden nirgendwo Vergleiche angestellt des polygenic score für die Intelligenz der Wikinger und der heutigen Skandinavier. Womöglich ist die Datenlage noch zu dünn. Das wird sich aber in nur wenigen Jahren ändern. Und da darf man dann noch einmal gespannt sein.
Die neuen Erkenntnisse dieser Studie sind dadurch gewonnen worden, daß 442 Skelette Nordeuropas sequenziert worden sind aus der Zeit zwischen 2.400 v. Ztr. und 1600 n. Ztr., vorwiegend aus der Wikingerzeit.*) Was aber kann aus dieser neuen Studie noch gelernt werden, außer der recht wesentlich erscheinenden Wahrnehmung, daß sich die polygenetischen Risikofaktoren in den letzten tausend Jahren offenbar so auffallend wenig verändert haben? Für die Zeit um 1.000 v. Ztr., also vor 3.000 Jahren wird die folgende Aussage gemacht (1):
Wir finden, daß der Übergang von der Bronzezeit zur Eisenzeit einher geht mit einem Rückgang des anatolisch-neolithischen genetischen Anteils und einer Zunahme des indogermanischen genetischen Anteils und der vorneolithischen Jäger-Sammler-Anteils.
We find that the transition from th e BA to the IA is accompanied by a reduction in Neolithic farmer ancestry, with a corresponding increase in both Steppe-like ancestry and hunter-gatherer ancestry.
Es fragt sich aber, ob dieser Aussage wirklich irgendeine Bedeutung zugesprochen werden muß. Denn in der zugehörigen Grafik (Extended Data, Fig. 6 b) ist diese Veränderung kaum zu erkennen und stellt sich nur als wenig auffallend dar, bzw. als gar nicht sichtbar. Viel eher drängt sich auch hier auf, daß die Herkunftsanteile von den letzten Jägern und Sammlern Europas, sowie den ersten Bauern Europas über die letzten viertausend Jahre hinweg immer einigermaßen in gleichen Anteilen im Erbgut der Nordeuropäer geblieben sind.
Während der Wikingerzeit gibt es in einigen Teilen Schwedens sogar Bevölkerungen, die bis zu 40 % genetisch anatolisch-neolithischer Herkunft sind. Auch mischt sich in der Wikingerzeit in einigen Regionen ostasiatische oder kaukasische Genetik mit hinein, sicherlich aufgrund des Hereinbringens von Sklaven aus dem russischen Raum. Es findet sich auch die Genetik von keltischen Briten im wikingerzeitlichen Skandinavien und auch diejenige von spätantiken, bzw. frühmittelalterlichen Südeuropäern.
Abb. 3: Ein Wikingerschiff, Nachbau (in Stockholm) (Wiki a, b) |
In Dänemark nun finden sich keine schwedischen oder norwegischen Wikinger begraben, umgekehrt in Norwegen und Schweden aber sehr wohl dänische Wikinger. Damit wird deutlich, daß es eine größere Bewegung von Menschen aus Dänemark Richtung Norden gab als umgekehrt von Schweden und Norwergen Richtung Dänemark. Im ganzen damaligen skandinavischen Raum war damals auch Dänisch die Verkehrssprache wie in der Studie festgehalten wird. Dänische Wikinger siedelten in England, schwedische Wikinger siedelten im Ostseeraum, norwegische Wikinger besiedelten Irland, Island und Grönland. Interessanterweise sind die Wikinger im Südwesten Schwedens genetisch kaum von den Dänen zu unterscheiden, ebenso sind die Angeln und Sachsen, die in England siedelten, genetisch kaum von den Dänen zu unterscheiden. Für einige Orte und Regionen - wie etwa die Insel Gotland - können noch weitere Auffälligkeiten festgestellt werden (1):
Auf Gotland gibt es viel mehr genetische Komponenten, die Ähnlichkeit mit damaligen Dänen, Briten und Finnen aufweisen als solche, die Ähnlichkeit mit damaligen Schweden aufweisen, was deutlich macht, daß diese Insel während der Wikingerzeit in weiträumigen intensiven Handelsontakten stand.Für zwei Individuen wird im Anhang der Studie noch aufgezeigt, welche Art von Aussagen über ihr Aussehen beim derzeitigen Stand der Forschung gemacht werden können. Die Aussagen sind noch keine 100%-Aussagen, weil alle behandelten Merkmale - wie überhaupt fast alle Merkmale des Menschen - polygenetisch bedingt sind und man noch von fast keinem der menschlichen Merkmale den vollständigen Satz jener vielen hundert oder tausend SNP's ("Gene") von jeweils geringer Wirkung kennt, die zur Ausprügung des Merkmals beitragen (1; Anhang 2, S. 76f):
On Gotland, there are much more Danish-like, British-like and Finnish-like genetic components than Swedish-like components, supporting the notion that the island may have been marked by extensive maritime contacts during the Viking Age.
Für Individuum VK1: Die Wahrscheinlichkeit, blaue Augen zu haben, kann auf 0,85 eingeschätzt werden, die Wahrscheinlichkeiten für blondes Haar 0,63, für braunes Haar 0,29, rotes Haar 0,01 und schwarzes Haar 0,07. Für Individuum VK42 entsprechend ...Die zahlenmäßige Häufigkeit von "Risiko-Allelelen" dafür, schwarze Haare zu haben, ist seit der Wikingerzeit bis heute zurück gegangen, so wird wird ausgeführt (1; Anhang 2, S. 96):
For VK1 individual: The estimated probability of having blue eyes was 0.85, while the hair color probabilities were blond (0.63), brown (0.29), red (0.01) and black (0.07). For VK42 individual: the estimated probability of having brown eyes was 0.98, while the hair color probabilities were blond (0.15), brown (0.6), red (0.001) and black (0.25).
Es scheint, als habe sich bei den Dänen die Häufigkeit von gut bekannten Allelen, die die Haarfarbe beeinflussen, seit der Wikingerzeit beträchtlich verschoben, während wir keinerlei andere bedeutsame Häufigkeitsveränderung für Allele erkennen können, die anthropometrische Merkmale beeinflussen oder einige wenige (schon polygenetisch besser erforschte) komplexe Krankheiten.
It appears that frequencies of established common alleles affecting hair colour have significantly changed in the Danish population since the Viking Age, whereas we do not observe any significant change for alleles affecting other common anthropometric traits and a few complex disorders.
Insgesamt macht diese Studie deutlich ein hohes Maß an genetischer Kontinuität in diesem Zeitraum. Zumindest wenn man es mit den Jahrtausenden davor vergleicht.
Rohmilchverdauung - Die Häufigkeit dieser Fähigkeit stieg in Spanien und Indien später an als in Nordeuropa
Ergänzung 1, 13.10.2019: Bei dem Urvolk der Indogermanen von der Mittleren Wolga besaßen nur 1 % der Angehörigen die angeborene Fähigkeit, als Erwachsene Rohmilch verdauen zu können. Mit dieser Häufigkeit verbreitete dieses Volk dieses Gen dann vom Atlantik bis zum Pazifik (2).
Und nachdem es soweit verbreitet war, hat es an unterschiedlichen Orten unterschiedlich lange gedauert (wie oben schon erörtert), bis es die jeweils dort vorliegende heutige Häufigkeit erreichte (2). In Spanien haben es heute immerhin 45 % der Bevölkerung, in Skandinavien und England über 90 %. Am Schnellsten nahm diese Fähigkeit an Häufigkeit nach derzeitigem Kenntnisstand zu auf den britischen Inseln und in Mitteleuropa. Und zwar ab etwa 2000 v. Ztr. (2). Im Frühmittelalter erreichte es hier und in Skandinavien die heutige Häufigkeit. Deutlich langsamer geschah das im Industal und in Spanien, nämlich erst ab etwa 0 v./n. Ztr. (2).
Damit stellt sich nun natürlich die Frage, warum das in Indien und Spanien 2000 Jahre später geschah als in Nordeuropa, obwohl das Ausgangsmaterial für die Selektion überall gegeben war? Lag es an dem anteilmäßigen Umfang, mit dem sich die Zuwanderer jeweils populationsgenetisch durchgesetzt hatten? Dieser Eindruck drängt sich zunächst auf.
Ergänzung 2, 3.7.2020: Es werden neuerdings auch Hinweise darauf gefunden, daß die Fähigkeit zur Erwachsenen-Rohmilchverdauung von Seiten der Steppen-Völker in niedriger Häufigkeit nach Nordindien (Punjabi) eingeführt wurde und dort in späteren Jahrhhunderten und Jahrtausenden ebenfalls an Häufigkeit zunahm (3):
Wenn das T-Allel schon im Nordschwarzmeer-Gebiet entstand, dann hat es sich nicht nur ab 3.000 v. Ztr. nach Europa verbreitet, sondern ebenso ab 2.100 v. Ztr. in die Turan-Region und ab 1800 v. Ztr, nach dem Untergang der Indus-Zivilisation auch weiter nach Südasien.Ergänzung 3, 7.7.2020: In einem neuen Artikel wird anhand der mongolischen Herdenhalter, die zwar vornehmlich von Milchprodukten leben, aber dennoch nicht die Fähigkeit, als Erwachsene Rohmilch verdauen zu können, entwickelt haben, gefragt (4):
As a number of CA haplotypes can be also found in MXL (Mexican Ancestry from Los Angeles) and PEL (Peruvian in Lima) from admixed Americans (AMR), as well as BEB (Bengali in Bangladesh), ITU (Indian Telugu in the UK), PJL (Punjabi), and STU (Sri Lankan Tamil from the UK) from South Asian Ancestry (SAS), the age of the A allele must be older than that of the T allele as aforementioned. Interestingly, the T allele frequency is quite high in some of these populations: 24% in MXL, 10% in PEL, and 26% in PJL. Yet, IAV is substantially reduced in MXL or even non-existent in PEL (...). These features are compatible with very recent ongoing selective sweeps, but a more likely cause would be admixture, founder effects, or a combination of these factors after Columbus. Similarly, IAV in PJL is significantly reduced (...). Although admixture also occurred in PJL, we consider a prehistoric event as a more likely cause: if the T allele arose in the Pontic Steppe, it must have spread not only into Europe from 3000 BC, but also into Turan by 2100 BC and further into South Asia after the decline of the Indus Valley Civilization in ca. 1800 BC (Damgaard et al., 2018; Narasimhan et al., 2019; Shinde et al., 2019). As the time elapsed in Punjabi was as long as 3800 years, it is tempting to speculate the presence of an independent selective sweep for the T allele in this locality too. Thus, it appears that LP in Europe and South Asia shares the early history of the expanding Steppe ancestry in the Bronze Age, and offers strong selective advantages to its local bearers in lactose-relevant niche construction.
Wenn es die Möglichkeit einer nichtgenetischen Anpassung gibt, um Verdauungsprobleme zu vermeiden, wenn man Milchprodukte konsumiert, dann lautet ja die Frage: Warum ist auf Laktase-Persistenz überhaupt selektiert worden?
Given the possibility of a nongenetic adaptation to avoid intestinal symptoms when consuming dairy products, the puzzle then becomes this: why has LP been selected for at all?
Von einer Antwort auf diese Frage scheint die Forschung noch weit entfernt zu sein!
Ergänzung 4, 12.9.2020: 14 Gefallene der Schlacht an der Tollense in Mecklenburg (1250 v. Ztr.) sind neu sequenziert worden, zusammen mit anderen bronzezeitlichen und nachbronzezeitlichen Skeletten (5, 6, 7). Der Zeitraum, in der die angeborene Fähigkeit der Erwachsenenrohmilch-Verdauung in Nord- und Mitteleuropa evoluiert ist, wird mit dieser Studie noch kürzer als bislang schon angenommen: Diese Fähigkeit lag bei den Teilnehmern der Schlacht an der Tollense nur bei einem von 14 Sequenzierten vor, also nur zu 7 %, anderwärts in der Bronzezeit zu 4,6 %. Nur für das heutige Lettland ist diese Fähigkeit in der Bronzezeit schon bei vier von acht Individuen gefunden worden, was 50 % entspräche - und was bisher zu unscharf extrapoliert worden war auf die nordeuropäische Bronzezeit insgesamt. Eine solche Häufigkeit findet sich sonst aber erst im Frühmittelalter anderwärts in Europa, nämlich bei völkerwanderungszeitlichen Ungarn ebenso wie bei den Wikingern (3). Damit steht weiterhin eine Erklärung jener selektiven Regime aus, die dazu führten, daß diese Fähigkeit heute zu über 90 % in Nordeuropa verbreitet ist. Es gibt erste Hinweise, daß dies etwas zu tun haben könnte mit gleichzeitigem Infektions-Schutz.
Ergänzung 5, 14./16.9.2022: Eine neue Studie findet bei heutigen Briten gar keinen direkteren Zusammenhang zwischen der Menge des Konsums von Milchprodukten und der angeborenen Fähigkeit, als Erwachsener rohe Milch verdauen zu können (8). Auch Menschen, die letzteres nicht können, konsumieren Milchprodukte, auch dann, wenn das ein wenig Magengrummeln oder Blähungen zusätzlich verursacht.
Dasselbe scheint dementsprechend auch für alle vorgeschichtlichen Bevölkerungen zu gelten seit der Zeit, da sie milchgebende Tiere domestiziert hatten und deren Milch für Nahrung verwendeten. Anhand der Milchfettreste in Keramikscherben in unterschiedlichsten Kulturen suchten die Forscher nach einem zeitlichen oder räumlichen Zusammenhang zwischen dem Konsum von Milchprodukten und der angeborenen Fähigkeit, als Erwachsener rohe Milch verdauen zu können. Sie konnten aber ebenfalls gar keinen Zusammenhang finden (8, 9) (Abb. 4).
Abb. 4: Milchreste in Keramikscherben pro Jahrtausend in Europa und Westasien (aus: 10) |
Insbesondere ist in Abbildung 4 zu sehen, daß in der Zeit, in der in Europa die angeborene Fähigkeit, als Erwachsener rohe Milch verdauen zu können anstieg (nämlich nach 1000 v. Ztr.), sich eher weniger Scherben mit Milchfett-Resten finden als vorher! Deshalb gingen die Forscher einem neuen Zusammenhang nach (9):
Die Wissenschaftler fanden, daß das, was sie als Signale für Hungerzeiten oder Pandemien ansahen, am besten mit den Häufigkeitsveränderungen in Bezug auf die Fähigkeit zur Verdauung roher Milch, die sich durch die Archäogenetik gezeigt haben, zusammenpaßten. (Sie benutzten archäologische Daten, um Perioden zurück gehender Bevölkerungszahlen - vielleicht Hungerzeiten - zu identifizieren ebenso wie Zeiten größerer Bevölkerungsdichte - vielleicht Zeiten für schnellere Verbreitung von Krankheiten.)The researchers found that what they considered signals of famine and sickness best matched the jumps in lactase persistence in ancient DNA, they report today in Nature. (They used archaeological records to identify periods of shrinking populations - perhaps famines - as well as times of greater population density - possibly times of faster disease spread.)
Die Fähigkeit als Erwachsener problemlos rohe Milch verdauen zu können, könnte also nach ihnen insbesondere dann evolutionär vorteilhaft gewesen sein, wenn es größere Notzeiten gab, Hungerzeiten oder Epidemien. Dann könnten jene, die als Erwachsene problemlos rohe Milch verdauen können, im Vorteil gewesen sein und eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit gehabt haben gegenüber den anderen. Leider ist die Studie noch hinter einer Bezahlschranke, so daß uns nicht klar ist, welche Hungerzeiten, Notzeiten, Epidemien das - vor dem Frühmittelalter - nach der Studie genauer gewesen sein sollen. In der Zusammenfassung heißt es dazu (10):
Der Vergleich von Modellwahrscheinlichkeiten legt nahe, daß Populationsschwankungen, Siedlungsdichte und der Verzehr des Fleisches von wilden Tieren - als Annäherungen für diese Beschleuniger - eine bessere Erklärung bieten für die Selektion von Laktasepersistenz als das Ausmaß des Verzehrs von Milchprodukten.Comparison of model likelihoods indicates that population fluctuations, settlement density and wild animal exploitation - proxies for these drivers - provide better explanations of LP selection than the extent of milk exploitation.
Dann würde sich aber die Frage stellen, warum diese Beschleuniger in Nordeuropa früher wirksam wurden als in Indien und in Spanien, wo doch die Siedlungsdichte in letzteren Regionen viel früher viel höher war.
*) Aus der Wikingerzeit wurden sequenziert (1):
Individuals from Denmark (n=78), Faroe Islands (n=1), Iceland (n=17), Ireland (n=4), Norway (n=29), Poland (n=8), Russia (n=33), Sweden (n=118), UK (n=42), Ukraine (n=3) as well as medieval individuals from Faroe Islands (n=16), Italy (n=5), Norway (n=7), Poland (n=2) and Ukraine (n=1). The Viking Age individuals were supplemented with additional published genomes (n=21) from Sigtuna, in Sweden.
- Population genomics of the Viking world. Ashot Margaryan, Daniel John Lawson, Martin Sikora, (...) Kristian Kristiansen, Rasmus Nielsen, Thomas Werge, Eske Willerslev. bioRxiv 703405; Preprint, 17.7.2019, doi: https://doi.org/10.1101/703405
- Iain Mathieson: The spread of the European lactase persistence allele, 12.10.2019, http://mathii.github.io/2019/10/12/the-spread-of-the-european-lactase-persistence-allele, https://twitter.com/mathiesoniain/status/1183112399722864640
- Population genomics on the origin of lactase persistence in Europe and South Asia. Yoko Satta, Naoyuki Takahata. bioRxiv 2020.06.30.179432; doi: https://doi.org/10.1101/2020.06.30.179432, This article is a preprint and has not been certified by peer review, https://www.biorxiv.org/content/10.1101/2020.06.30.179432v1.
- Segurel L, Guarino-Vignon P, Marchi N, Lafosse S, Laurent R, Bon C, et al. (2020) Why and when was lactase persistence selected for? Insights from Central Asian herders and ancient DNA. PLoS Biol 18(6): e3000742. https://doi.org/10.1371/journal.pbio.3000742, Published: June 8, 2020
- Low Prevalence of Lactase Persistence in Bronze Age Europe Indicates Ongoing Strong Selection over the Last 3,000 Years. Current Biology. (Researchgate)
- Bading, Ingo: Völker und Großreiche geraten in Bewegung, 2019, https://studgendeutsch.blogspot.com/2019/10/volker-und-groreiche-in-bewegung-europa.html
- Ewen Callaway: How humans’ ability to digest milk evolved from famine and disease - Landmark study, Nature, 27 July 2022, https://www.nature.com/articles/d41586-022-02067-2
- Cathleen O’Grady: Ancient Europeans farmed dairy - but couldn’t digest milk, 27 Jul 2022, https://www.science.org/content/article/ancient-europeans-farmed-dairy-couldn-t-digest-milk
- Evershed, R.P., Davey Smith, G., Roffet-Salque, M. et al. Dairying, diseases and the evolution of lactase persistence in Europe. Nature 608, 336-345, 27.7.2022, https://doi.org/10.1038/s41586-022-05010-7, https://www.nature.com/articles/s41586-022-05010-7 (Academia)
1 Kommentar:
Ergänzung 5 (inzwischen): Eine neue Studie findet bei heutigen Briten gar keinen direkteren Zusammenhang zwischen der Menge des Konsums von Milchprodukten und der angeborenen Fähigkeit, als Erwachsener rohe Milch verdauen zu können (8). Auch Menschen, die letzteres nicht können, konsumieren Milchprodukte, auch dann, wenn das ein wenig Magengrummeln oder Blähungen zusätzlich verursacht. Dasselbe scheint dementsprechend auch für alle vorgeschichtlichen Bevölkerungen zu gelten seit der Zeit, da sie milchgebende Tiere domestiziert hatten und deren Milch für Nahrung verwendeten. Die Forscher können zwischen den vielen Völkern seither bezüglich des Milchkonsums ebenfalls gar keine deutlicheren Unterschiede erkennen (anhand der Milchfettreste in Keramikscherben unterschiedlichster Kulturen) (8). Deshalb stellen die Forscher eine neue These auf: Die Fähigkeit als Erwachsener problemlos rohe Milch verdauen zu können, wird nur dann evolutionär vorteilhaft, wenn es größere Notzeiten gibt, Hungerzeiten gibt, Epidemien gibt. Dann könnten jene, die als Erwachsene problemlos rohe Milch verdauen können, deutlich im Vorteil gewesen sein und eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit gehabt haben gegenüber den anderen. Womit sich die Frage stellen würde, welche Hungerzeiten, Notzeiten, Epidemien das - vor dem Frühmittelalter - genauer gewesen sein könnten. Es bleibt spannend.
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