Sonntag, 28. Juli 2019

Das Prignitz-Museum für Vorgeschichte in Heiligengrabe

Ein bedeutender Ort der wissenschaftlichen Germanenkunde vor 1945

Das Kloster Heiligengrabe (Wiki), gelegen auf halbem Weg zwischen Wittstock und Pritzwalk, gilt als das besterhaltene Kloster des Landes Brandenburg. Mit seinen vielen Gebäuden noch heute idyllisch und ruhig gelegenen, ist es dennoch verkehrsmäßig gut angebunden. Denn es liegt nur zwei Kilometer von der A24 von Berlin nach Hamburg entfernt. Das mittelalterliche Frauenkloster der Zisterzienser und das nachmittelalterliche säkularisierte Damenstift galten bis ins 20. Jahrhundert hinein als Versorgungsanstalt für unverheiratete Mädchen der adligen Familien des Landes. Das galt insbesondere auch für verarmte adlige Familien. Solche gab es zum Beispiel nach den Schlesischen Kriegen Friedrichs des Großen (Ortrud Wörner-Heil, S. 422):

Das Stift galt als vornehm. Seine Leiterin, die Äbtissin, hatte einen hohen Rang am preußischen Hof. Sie hatte den gleichen Rang wie die Oberhofmeisterin der Prinzessinnen und die Hofdamen der Kronprinzessin. Sie rangierte vor den Ehefrauen der Obersten. Auch die Stiftsdamen waren hoffähig und hatten eine herausgehobene Stelle in der Hofrangordnung, mit größerem Ansehen, als es unverheirateten Frauen sonst zukam. Sie folgten den Ehefrauen der Majore.

Als wir noch einen Kaiser hatten, ging es also "standesgemäß" zu in Deutschland und Preußen.

Abb. 1: Bronzezeitliche Germanen - Gemälde von Wilhelm Petersen

1909 wurde in diesem Damenstift ein bedeutendes vorgeschichtliches Museum eingerichtet, das Prignitz-Museum. Es hatte anfangs nur als schlichtes "Heimat-Museum" begonnen. Aber schon bald galt es - bis zu seiner Plünderung und Vernichtung durch die Russen im Jahr 1945, bis zu seiner Auflösung in kommunistischer Zeit - als eines der fortschrittlichsten Museen seiner Art in Deutschland. Im heutigen Damenstift wird seit 1997 wieder ein neues Museum aufgebaut. Es versucht, an die Tradition des Museums, wie es bis 1945 bestand zu erinnern (2) (Abb. 1, 4-10). Ein "Verein zur Entwicklung des Kultur- und Museumsstandortes Kloster Stift zum Heiligengrabe e.V." ist dazu von der Gemeinde und von Gewerbetreibenden Heiligengrabes gegründet worden. Bezüglich der Aufarbeitung der Geschichte dieses Museums hat sich in inzwischen elf-jähriger Arbeit die dortige Kuratorin Sarah Romeyke (geb. 1970), einer Kunsthistorikerin (Lukas Verlag) sehr verdient gemacht.

Die von ihr konzipierte, Interesse weckende (2) Dauerausstellung wie sie seit Mai 2017 zu besichtigen ist, gibt - wohin man schaut - von der Begeisterung Kunde, mit der Sarah Romeyke der Bedeutung, die dieses Museum einmal in früheren Jahrzehnten hatte, auf zahlreichen Ebenen nachgeht. 2015 sagte sie der "Märkische Allgemeinen" im Interview dazu (MAZ 2015):

Die Ausstrahlung und Bedeutung der Heiligengraber Sammlung war bereits kurz nach seiner Gründung 1909 sehr groß. Die Gründer Paul Quente und Äbtissin Adolphine von Rohr verstanden es binnen kürzester Zeit, zusammen mit dem Museumsverein im Stift eine wissenschaftlich anerkannte Plattform für die vor- und frühgeschichtliche Forschung in der Ostprignitz zu installieren. Dutzende von Grabungen in der Region, die wissenschaftliche Auswertung in den Fachjournalen, die Herausgabe einer eigenen Zeitschrift und die Präsentation der Objekte in der Heiligengraber Museumssammlung waren Bestandteile einer fundierten und überregional geachteten Arbeit des Museums.

Und (MAZ 2016):

Es ist die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Mehr als 7000 Fundstücke befanden sich einst in den alten Inventarlisten vom Heimatmuseum im Kloster Stift zum Heiligengrabe. 1947 wurde das Museum aufgelöst. Die Sammlung wurde teilweise von den umliegenden Museen in Kyritz, Pritzwalk und Wittstock übernommen und im Laufe der Jahrzehnte auch an andere Orte verlagert. Gut 1250 Objekte konnten in den letzten Monaten im Brandenburgischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologischen Landesmuseum in Wünsdorf (Teltow-Fläming) identifiziert und Heiligengrabe zugeordnet werden. Die Suche geht noch weiter.

Abb. 2: Die 1512 errichtete Heiliggrab- oder Blut-Kapelle (nicht die Stiftskirche!) in Heiligengrabe hat 1904 durch Kaiser Wilhelm II. eine prächtige innere Ausstattung (s. Wiki) erhalten. Sie stellt den eigentlichen Wallfahrtsort in der Klosteranlage dar. Der Legende nach wurde sie über einem Hinrichtungsplatz (Galgenberg) erbaut. - Sie bildet aber nur einen Teil der recht großen und geschlossenen architektonischen Klosteranlage samt weitläufigen Wohn- und Wirtschaftsgebäuden. - Eigenes Foto.

Über die Dauerausstellung ist weiter zu erfahren (Ausstellung):

Im Februar 2015 erhielt das Museum den von der Ostdeutschen Sparkassenstiftung ausgelobten „Initiativpreis“ für ein innovatives Konzept zur Aufarbeitung der Geschichte des ehemaligen archäologischen und prähistorischen Heimatmuseums (1909–1947) in Heiligengrabe sowie die Erforschung des Verbleibs seiner Sammlung. Die ersten Ergebnisse dieser Arbeit werden nunmehr im Obergeschoß des Kreuzgangs gezeigt, wo das Heimatmuseum bis 1947 untergebracht war. (...) Die Ausstellung verdeutlicht, daß die Sammlung einst ein Spiegel der Anteilnahme ganzer Bevölkerungsschichten an der Museumsarbeit war und sich großenteils aus deren immensen Sammeleifer speiste. Besonderes Augenmerk der Ausstellung liegt dabei auch auf den ideologisch belasteten Beweggründen der einstigen Initiatoren des Museums. Mit der Analyse dieser Zusammenhänge zwischen Museumsarbeit und politischen Gegebenheiten der Kaiserzeit und des Nationalsozialismus wird zugleich auf ein schwieriges Stück Vergangenheit der eigenen Institution verwiesen.

Und (Museum):

Seit Mai 2017 ist hier nun, inmitten der Abtei, die neu konzipierte und gestaltete Dauerausstellung zur Klostergeschichte zu sehen. Der ebenfalls inzwischen für Besucher erschlossene obere südliche Kreuzgang, welcher in mittelalterlicher Zeit als Verbindung zwischen Abtei und Nonnenempore diente sowie ein wichtiger Ort der Kontemplation für die geistliche Frauengemeinschaft war, ist der Geschichte des ehemaligen Heimatmuseums gewidmet, das hier von 1909 bis 1947 seinen Platz hatte.

Und (Bokelmann/Flyer):

Die Ausstellung wurde unterstützt durch das Ministerim für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg.

Arbeitet man sich, angestoßen durch die Anregungen, die in der seit Mai 2017 bestehenden Dauerausstellung (2) gegeben werden, in die Geschichte dieses Museums ein, steht man immer wieder vor bewegendem Geschehen, vor einer ganzen Reihe von Lebensschicksalen jener Menschen, die sich um den Aufbau dieses Museums verdient gemacht hatten, ja, man merkt schließlich: Hier steht man vor einer ganzen Geistesrichtung der deutschen Geschichte, die heute kaum noch wahrgenommen wird, kaum noch zur Kenntnis genommen wird, deren heute kaum noch gedacht wird. Dies ist die wissenschaftlichen Germanenkunde vor 1945, die zugleich getragen war von der Begeisterung für eine Lebensweise unserer Vorfahren, der Germanen, mit der - stillschweigend oder offen ausgesprochen - eine Begeisterung verbunden sein konnte für eine Alternative zum als veraltet und muffig empfunden Christentum des beginnenden 20. Jahrhunderts, auch mit einer neuen, fast religiös aufgeladenen Heimatverbundenheit aus dieser Begeisterung heraus.

Die Vorgeschichte der Prignitz bietet heute, hundert Jahre später, natürlich noch ein viel umfangreicheres, reichhaltigeres Bild, als sie dies zur Zeit der Gründung dieses Museums bieten konnte (Wiki). Um diesen Reichtum deutlich zu machen, hat auch das Brandenburgische Landesamt für Denkmalpflege und Archäologische Landesmuseum (BLDAM) in der Prignitz entlang "Zentraler Archäologischer Orte", entlang sogenannter "Leuchttürme der Landesgeschichte" einen "Archäologischen Pfad" eingerichtet (Landkreis Prignitz). Für diesen wurde auch eine eigene Broschüre erstellt (pdf). Und von den betroffenen Gemeinden ist sogar zur weiteren kulturellen, musealen und touristischen Erschließung dieses Archäologischen Pfades eine "Prignitzer Erklärung" verfaßt worden. All das sind sicherlich Bestrebungen, die die einstigen Bestrebungen im Prignitz-Museum in Heiligengrabe weiter verfolgen. Aber dieser große allgemeine Aufbruch hin zu einem neuen Verständnis unserer vorchristlichen Vergangenheit, den es da seit 1909 in Heiligengrabe gegeben hat, letztlich hin zu einer neuen Religion, von einem solchen verspürt man heute nur noch wenig - in der Prignitz oder auch in Deutschland allgemein, innerhalb der Wissenschaft oder auch über sie hinaus.

Archäologie der Prignitz - Ein kurzer Überblick zum heutigen Wissensstand

Dennoch lassen wir zunächst nüchterne, wissenschaftliche Fakten reden, von denen auch dieser "Archäologische Pfad" Zeugnis geben will: Zwischen 3.300 und 3.100 v. Ztr. haben Menschen der Trichterbecherkultur, die um 4.300 v. Ztr. entstanden war, nahe des Dorfes Melle bei Lenzen an der Elbe ein Großsteingrab errichtet (Wiki). Es ist als einziges von mehreren dieser Gegend übrig geblieben. Die Menschen der Trichterbecherkultur, des ersten seßhaften Bauernvolkes in diesem Raum, waren nach den neuesten Ergebnissen der Archäogenetik zu 80 % anatolisch-neolithischer und zu 20 % einheimischer Abstammung. Sie stammten also vorwiegend von den mitteleuropäischen Bandkeramikern und deren Nachfolgekulturen Zur Zeit der Errichtung dieses Grabes war schon die Benutzung des Rades in Form von Rinderwagen gebräuchlich geworden.

Ab 2.500 v. Ztr. breiteten sich die indogermanischen Schnurkeramiker - aus dem Weichselraum kommend, bzw. letztlich von der Wolga kommend - über die Prignitz bis nach Skandinavien aus. Sie breiteten jene Muttersprache und Genetik über ganz Europa aus, die noch heute dort vorherrschen. Wir stammen noch heute von ihnen ab, unsere Gene stammen zu 70 bis 80 % von den Schnurkeramikern ab, der Rest unserer Gene stammt von den anatolisch-neolithischen Bauern, die vor den Schnurkeramikern hier lebten, ab, sowie von den letzten Jägern und Sammlern, die vor der Trichterbecherkultur in Europa - vermutlich 30.000 Jahre lang ununterbrochen - lebten. Um 2.200 herum ging aus den Schnurkeramikern in Nordeuropa die Nordische Bronzezeit und - im Mittleren Elberaum - die bedeutende Aunjetitzer Kultur hervor. Aus der Aunjetitzer Kultur ging später in kultureller und genetischer Kontinuität die große Völkergruppe der Kelten hervor, aus der Nordischen Bronzezeit die große Völkergruppe der Germanen. In welchen Zusammenhängen die Menschen und Volksstämme der Prignitz mit der Schlacht im Tollensetal (Wiki) im nahegelegenen Mecklenburg um 1250 v. Ztr. standen, deren Überreste erst seit zehn Jahren erforscht werden, werden vielleicht künftige Forschungen noch heraus bringen.

Aber als eines der spätesten, bedeutenden Zeugnisse der Bronzezeit mit ihren Handelsbeziehungen bis in den Mittelmeerraum gilt das "Königsgrab von Seddin" (Wiki) aus der Zeit um 820 v. Ztr., 16 Kilometer westlich von Pritzwalk. Einstmals weithin sichtbar, liegt es heute noch inmitten waldbewachsener Hügel. Nimmt man die Erkenntnisse rund um das Königsgrab von Seddin, die sich noch heute fast jedes Jahr durch neue Forschungen erweitern zusammen mit den Erkenntnissen rund um den etwa zeitgleichen Eberswalder Goldschatz (Wiki), der erstmals 1913 von Gustaf Kossinna veröffentlicht worden ist, dann wird einem deutlich, daß die Könige und Fürsten schon damals nicht geizten in ihrer Liebe für prächtige Gold- und Bronzeschätze.

Abb. 3: Das Königsgrab von Seddin 1899 (Herkunft: Stadtmuseum Berlin)

In der Eisenzeit und während der Römerzeit lebten dann die Vorfahren der Alemannen im Elberaum, ebenso die Langobarden - beide Völker vermutlich aus Jütland kommend. An diese schlossen sich in der östlichen Prignitz die Semnonen an. Alle diese Völker werden von der Forschung zusammen gefaßt als die "elbgermanischen" Stämme (Wiki). In der Völkerwanderung wanderten die Langobarden ab 375 n. Ztr. von der Prignitz aus über das Mittelelbe-Saalegebiet Richtung Süden (Helmut Schröcke 2003, S. 30, GB):

In der Prignitz nördlich der Elbe wurden Gräberfelder nach 400 nicht mehr belegt und bis 600 war der Siedlungsabbruch fast vollständig. Die Funde aus der Prignitz zeigen Ähnlichkeiten zu den nach 400 im Mittelelbe-Saalegebiet beginnenden Brandgräbern.

Für das Wissen um all diese heidnischen Vorfahren begeisterten sich nun schon viele tausende von Menschen vor mehr als hundert Jahren in der Prignitz.

"Der treue Kossinnaschüler Paul Quente"

Es war nun der junge Landschaftsmaler Paul Quente (1887-1915), der die Anregung gegeben hat zur Gründung des Heimatmuseums in Heiligengrabe, und der sein erster Museumsleiter wurde. Ab 1909, ab seinem 22. Lebensjahr hat er dieses international vernetzte archäologische Heimatmuseum aufgebaut. Aber dann ist er schon im Oktober 1915 - mit 28 Jahren - im Ersten Weltkrieg am berühmten Hartmannsweilerkopf im Elsaß als Kriegsfreiwilliger des Garde-Schützen-Regimentes - gefallen. Bewegte Nachrufe erschienen auf ihn in bedeutenden Fachzeitschriften. Als Beispiele seien genannt (Prähistorischen Zeitschrift 1915, S. 84):

Paul Quente 1887-1915, der Gründer und Leiter des Kloster-Museums zu Heiligengrabe (Prignitz), starb am 15. Oktober 1915 den Heldentod für das Vaterland. Die Vorgeschichteforschung verliert in ihm einen Jünger, dessen Bestrebungen ...

Und (Zeitschrift für Ethnologie, Bd. 47, 1915, S. 427):

Gestorben ist ferner der Kunstmaler Paul Quente, der Begründer des Prignitz-Museums in Heiligengrabe, den Mitgliedern der Gesellschaft durch seine Ausgrabungen in Dahlhausen und anderen Orten der Prignitz und durch seine Veröffentlichungen in der Prähistorischen Zeitschrift bekannt. Er fiel als Kriegsfreiwilliger im Garde-Schützen-Bataillon. Der Gesellschaft gehörte er seit dem Jahre 1909 an.

Was für ein Lebensschicksal steht schon am Anfang dieses Museums. Erinnert ein solches Lebensschicksal nicht an jenes noch ungleich bedeutungsvollere, nämlich das des Hölderlin-Forschers Norbert von Hellingrath (1888-1916) (Wiki)? Schon als ganz junger Mensch hatte auch dieser Wesentlichstes für das Geistesleben seines Volkes und der Welt geleistet - als ob er geahnt hätte, daß ihm für so wertvolle Lebensleistungen nicht mehr viel Zeit blieben. So auch Paul Quente. Wenn man seinen Namen in der heutigen Ausstellung das erste mal im flüchtigen Vorübergehen liest, hinterläßt er keinen großen Eindruck. Erst wenn man sein Lebensschicksal voll zur Kenntnis nimmt, gewinnt der Name an Bedeutung. Quente wurde in Weißenfels an der Saale geboren. Er gehört zu den vielen Menschen damals in Deutschland, die sich von führenden Archäologen wie Gustaf Kossinna (1849-1931) (Wiki) und anderen für die Vorgeschichte begeistern ließen. Schon mit 19 Jahren hat er vorgeschichtliche Funde an Sammlungen abgegeben (Mainzer Zeitschrift 1906, S. 87, GB):

Wir erhielten: Aus Deutschland: Spätpaläolithische und frühneolithische Feuersteinobjekte von Rügen, zum Teil geschenkt von Herrn Kunstmaler Paul Quente in Heiligengrabe bei Techow i. d. Prignitz.

Paul Quente besuchte Vorlesungen von Gustaf Kossinna  in Berlin und wurde sein "treuer Schüler". 1910 hat er dann 23 Gräber ausgegraben (Matthes 1929, S. 114). Und in der "Politisch-Anthropologischen Monatsschrift für prakische Politik, für Politische Bildung und Erziehung auf Biologischer Grundlage" hieß es (Band 10, 1912 S. 499, GB):

Entdeckung eines Langobardenfriedhofs in der Mark. Bei Dahlhausen in der Prignitz hat Paul Quente vor kurzem ein großes Gräberfeld entdeckt, über das er in der „Neuen Prähistorischen Zeitschrift“ berichtet.

Diese Ausgrabungen wurden auch andernorts zur Kenntnis genommen (Jahresbericht über die Erscheinungen auf dem Gebiete der germanischen Philologie, Band 33, 1913, S. 24, GB):

Paul Quente, Das langobardische urnenfeld von Dahlhausen in der Prignitz. Prähist. zs. 3, 156-162. - im nördlichsten teile des gräberfeldes fand sich auch die verbrennungsstätte (Ustrina) als 6 1/2 m langer und 2 2/3 m breiter steingepflasterter platz. ....

1913 begründete Paul Quente "Mitteilungen des Heimat- und Museumsvereins in Heiligengrabe", die bis zum Jahr 1940 erschienen sind. In einer Studie des Jahres 2011 über diese Zeitschrift heißt es zusammenfassend (Czubatynski 2011):

Die von 1913 bis 1940 in unregelmä߃…iger Folge erschienene Zeitschrift ist neben den Hei-matkalendern und den Prignitzer Volksbü€chern das einzige in der Prignitz gedruckte Periodikum, das sich der Geschichtsforschung im engeren Sinne gewidmet hat. Insofern ist die Zeitschrift nicht nur fü€r die kulturelle Arbeit im Kloster Heiligengrabe ein außerordentlich wichtiges Zeitzeugnis, sondern - freilich nur mit groß…er Vorsicht - auch als Vorläƒufer der „Mitteilungen des Vereins fü€r Geschichte der Prignitz“ zu betrachten. Angesichts des nach dem Krieg fast vö‚llig zerst‚rten Heiligengraber Museums besitzt die Zeitschrift heute einen unzweifelhaft hohen dokumentarischen Wert. (...) Der „Verein zur Fö‚rderung der Heimatforschung und des Heimatmuseums fü€r die Prignitz in Heiligengrabe“ (so die Selbstbezeichnung auf dem ersten Jahrgang der Zeitschrift) stieß offensichtlich auf ein sehr breites Interesse…. In den Vereinsnachrichten von 1914 (siehe unten Nr. 036, S. 12) konnte die Stiftsdame und Schriftfü€hrerin Meta von Goddenthow mitteilen, daß …der Verein ü€ber 800 (!) Mitglieder hat.

In den aufgeführten Inhaltsverzeichnissen dieser Zeitschrift läßt sich aber gut das vielfältige Wirken von Paul Quente nachvollziehen (Czubatynski 2011). 1914 hat er erneut eine Ausgrabung vorgenommen (s. Matthes 1929, S. 178). 1914 heißt es dann in der von Gustaf Kossinna seit 1909 herausgegebenen "Mannus - Zeitschrift für Vorgeschichte" (Wiki) (S. 389):

Es folgten zwei Vorträge von Paul Quente - Heiligengrabe über die Ostprignitz, deren erster sämtliche geschlossenen „Funde aus der Bronzezeit der Ostprignitz“ vorführte, während der andere unter dem Titel „Die letzten vorwendischen Germanen östlich der Elbe" die Prignitzer Urnengräber des 4. - 6. (?) nachchristlichen Jahrhunderts behandelte. Den Beschluß der Sitzung machte ein Vortrag von Professor Kossinna.

Im Jahr 1914 ist auch ein "Heimat- und Museums-Verein in Heiligengrabe" gegründet worden. 1936 ist in "Mannus" noch einmal die Aufbauarbeit von Paul Quente in Heiligengrabe erwähnt:

In Heiligengrabe war schon vor dem Kriege durch die aufopfernde Sammel- und Forschungstätigkeit des Kunstmalers und treuen Kossinnaschülers Paul Quente und unter der hochherzigen Förderung der damaligen Äbtissin, Frau v. Rohr ....

Im selben Jahr erinnerte auch der deutsche Archäologe Hans Reinerth, der Nachfolger Gustaf Kossinnas in der Zeitschrift "Germanen-Erbe" (GB):

Paul Quente, der Gründer des Heimatmuseums Heiligengrabe, war der erste, der den wirklich erhabenen Charakter dieses durch die Vorgeschichte gestalteten Landschaftsbildes erkannte.

Man spürt aus diesen Worten heraus, wie damals nicht nur die Natur und die Kunst, sondern auch die Archäologie für viele Menschen zum Religionsersatz wurde. Dies wird auch bei anderen Personen im Umfeld des Prignitz-Museums in Heiligengrabe deutlich.

Adolphine von Rohr als Förderin des Museums

Der junge Paul Quente hat die damalige Äbtissin des Stiftes Heiligengrabe, Adolphine von Rohr (1855-1923) (Wiki), für den Aufbau eines Museums begeistern können. Allein aufgrund der Begeisterungsfähigkeit dieser Äbtissin hatte es so schnelle Fortschritte gegeben in der Entwicklung seiner Pläne. 1909 war sie 52 Jahre alt und es wird deutlich, wie gut damals zwei unterschiedliche Generationen aufeinander abgestimmt arbeiten konnten in der Verfolgung wertvoller kultureller und wissenschaftlicher Bestrebungen.

Aber wer war denn nun diese Äbtissin? Auch in ihrem Lebensschicksal spielt der Krieg und der Schlachtentod eine Rolle. War sie doch die Tochter des preußische Generals von Gersdorff. Ihr Vater war, als sie selbst 15 Jahre alt war, 1870 in der Schlacht von Sedan gefallen. Fünf Jahre später heiratete Adolphine einen von Rohr. Sie erlebte eine Totgeburt. 1892 ist ihr Ehemann an Typhus gestorben. Nach dem Tod ihres Ehemannes hat Adolphine Krankenpflege-Kurse belegt und war Hofdame bei der Fürstenfamilie von Waldeck (Wiki):

1899 ernannte Kaiser Wilhelm II. Adolphine von Rohr gegen heftige Einwände des Klosterkonvents, der an ihrer früheren Verheiratung Anstoß nahm, zur Äbtissin von Heiligengrabe. (...) Als Äbtissin setzte sie sich für eine Rückbesinnung auf die sozialen Aufgaben eines Damenstifts ein und förderte insbesondere die schulische und berufliche Ausbildung junger mittelloser Mädchen. Kaiser Wilhelm, der sie schätzte und unterstützte, besuchte sie im Kloster und verlieh ihr 1901 den Äbtissinnenstab. Sie setzte unter anderem die Anerkennung der Schule als „Höhere Mädchenschule“ im Jahr 1908 durch. Neben ihren sozialen Bemühungen unterstützte sie auch heimatkundliche Forschungen und half mit bei der Gründung eines heimatkundlichen Museums im Südflügel der Abtei im Jahr 1909.

In Zusammenhang mit diesem Lebensgang könnte es sinnvoll sein, an den folgenden Umstand zu erinnern: Fast alle Überlieferungen heidnisch-germanischen Geisteslebens, die unmittelbar auf uns gekommen sind - etwa die Island-Sagas oder altdeutsche Heldenlieder - sind von christlichen Klerikern im Mittelalter aufgezeichnet worden. Diese fühlten eine irgendwie gelagerte Verbundenheit mit diesem heidnischen Erbe und Geistesgut. Und eine solche Verbundenheit gegenüber heidnischer Vorgeschichte lebte - offensichtlich - auch in so mancher evangelischen Äbtissin und in anderen Stiftsdamen, die in jener Zeit in Heiligengrabe lebten und wirkten. Dieser Umstand wird durch die Arbeit des damals neu gegründeten Heimatmuseums Heiligengrabe verdeutlicht.

Ein monotheistischer Eifer, der mit Kälte, Gleichgültigkeit oder Ablehnung dem Heidentum der eigenen Vorfahren gegenüber steht, ist hier in Heiligengrabe jedenfalls nicht zu beobachten.

Es kommt einem heute fast fremd vor, daß sich konservative Christen für die Erforschung und geradezu andächtige Beschäftigung mit der heidnischen Vorgeschichte einsetzen. Es darf allerdings berücksichtigt bleiben: Vor 1914 war das Christentum allseits in der Mehrheit der Deutschen noch so stark verwurzelt und gefestigt, daß überzeugte Christen sich - quasi - ohne Sorge um den Glauben der ihnen Anvertrauten mit Andacht der Pflege der Erinnerung an heidnisches Glaubensleben widmen konnten. Ob uns das noch etwas zu sagen haben könnte, uns Heutigen, die wir womöglich immer noch auf der Suche sind nach erfüllenden Lebensinhalten jenseits jener materialistischen Grundhaltungen wie sie während des 20. Jahrhunderts auf der Nordhalbkugel so vorherrschend geworden sind?

Abb. 4: Die "Volkshochschule" der Prignitz

Auf einer heutigen Museumstafel wird über die "Spuren einer verlorenen Museumssammlung" aufschlußreich berichtet (Abb. 4). Die germanische Vorgeschichtsforschung habe ihren Antrieb "aus dem Wettbewerb mit Frankreich" erhalten - wie auf dieser Wandtafel zu lesen steht (Abb. 4). Das ist aber sicherlich nur einer der weniger bedeutenden Antriebe, die die Menschen zu dieser germanischen Vorgeschichtsforschung hinzogen. Deutschland, das sich ja selbst als eine führende Kulturnation Europas sah, wird es doch wohl nicht als nötig angesehen haben, kulturell in "Wettbewerb mit Frankreich" zu treten.

Der Archäologe Jörg Lechler in Heiligengrabe 1920 bis 1923

Eher schon war es weithin im 19. Jahrhundert zur Abwendung vom orientalischen Christentum gekommen und man suchte - in Auseinandersetzung mit den eigenen vorchristlichen Vorfahren - neue Orientierungen zu gewinnen. Dabei gab es - natürlich - auch eine Abwendung von den bis dahin hoch gehaltenen Werten der antiken Mittelmeer-Kulturen und der romanisch-sprachigen Völkerwelt. In Frankreich wurden zur gleichen Zeit eher die Kelten - aber durchaus auch die germanischen Franken (siehe Graf Gobineau und andere) - erforscht.

Abb. 5: Der deutsche Archäologe Jörg Lechler

Wissenschaftlicher Leiter des Museums seit 1920 war ein weiterer "Kossinnaschüler", nämlich der deutsche Archäologe Dr. Jörg Lechler (1894-1969). Dieser hat einige der volkstümlichsten archäologischen Bücher der 1930er Jahre verfaßt, so vor allem das Buch "5000 Jahre Deutschland", bei dem man es noch heute nachvollziehen kann, wie es damals Leser begeistert haben mag. Jörg Lechler kam vom heute noch bedeutenden Museum für Vorgeschichte in Halle und hielt enge Zusammenarbeit mit diesem aufrecht, ebenso natürlich mit Gustaf Kossinna. Solange es das Prignitz-Museum gab - bis 1945 -, wurde in Deutschland ungeteilte Begeisterung für die germanische Vorgeschichte gefördert.

Abb. 6: "5000 Jahre ..."

Die Biographie des Archäologen Dr. Jörg Lechler (1894-1969) ist sehr spannend. Dem Schrifttum von ihm und zu ihm haben wir unten ein eigenes Literaturverzeichnis gewidmet. Ernst Propst hat über ihn berichtet (1):

Er studierte in Berlin und Halle/Saale. 1913 bis 1918 grub er das Gräberfeld auf dem Sehringsberg bei Helmsdorf aus. 1923 bis 1924 war er Assistent am Tell-Halaf-Museum in Berlin und von 1924 bis 1935 Archäologe in der Prignitz. Ab 1936 lebte er in Detroit (USA), wo er bis 1965 am Art Institute der Wayne University arbeitete. Lechler prägte 1925 den Begriff Helms­dorfer Gruppe.

In dieser Kurzbiographie fällt der Ortsname Heiligengrabe kein einziges mal. Deshalb hat auch der Autor dieser Zeilen, der bislang nur diese Kurzbiographie gelesen hatte, von dem Wirken Jörg Lechlers in Heiligengrabe bislang nichts ahnen können.

Überhaupt: Die ganze wissenschaftliche Kossinna-Schule, so wird einem an dieser Stelle bewußt, scheint nach 1945 von der nachlebenden Archäologen-Generation ganz tief in den Boden der Vergessenheit gestampft worden zu sein. So daß es heute - beispielsweise - für einen Jörg Lechler noch nicht einmal einen Wikipedia-Artikel gibt. Und so daß selbst belesenerere, wissenschaftsnahe Menschen auf sie und ihre geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung nie aufmerksam geworden sein mögen. Daß man also mehr durch Zufall in die Ausstellung in Heiligengrabe geraten muß, um von diesem Wirken einer früherer Archäologen-Generationen etwas zu erfahren. 1923 leitete Jörg Lechler einen Aufsatz ein mit den Worten (GB):

Das Heimatmuseum in Heiligengrabe (Prignitz) bringt dem Altmeister der deutschen Dorfgeschichte diesen kleinen Beitrag als Zeugnis dafür, wie "gute Taten fortzeugend Gutes gebären müssen".

Um welchen Altmeister es sich hier nun wieder handelt, wäre ebenfalls noch einmal zu eruieren. Jörg Lechler hat sein weiteres Leben in den USA verbracht und ist auch dort gestorben, nämlich in Detroit (Nova Welt):

Er gilt als einer der Pioniere der Bronzezeit, die den Namen einer in Deutschland, Österreich und der Schweiz verbreiteten Stufe, Kultur oder Gruppe der Bronzezeit in die Fachliteratur eingeführt haben.
Abb. 7: Jörg Lechler

Eine vorläufig zu ihm (mit Hilfe von Justbooks und Google Bücher) zusammengestellte Bibliographie (4-14) spiegelt wohl sein Wirken schon recht deutlich wieder. Lechler hat sich in den 1930er Jahren vor allem durch populärwissenschaftliche Bücher einen Namen gemacht. Noch heute eindrucksvoll zu lesen ist sein Buch "5.000 Jahre Deutschland", das den archäologischen Forschungsstand des Jahres 1935 wiedergibt und an ein breites Publikum gerichtet ist.

Ein vergleichbares Buch über den heutigen archäologischen Kenntnisstand könnte kaum genannt werden. Es müßte - nach der C14-Revolution in den 1950er Jahren und nach der Ancient-DNA-Revolution seit 2015 - benannt werden "8.000 Jahre Deutschland" (sofern - wie 1935 - mit einem solchen Titel die Geschichte seßhafte Kulturen in Mitteleuropa gekennzeichnet sein sollte).

1939 veröffentlichte Jörg Lechler - sehr fortschrittlich - ein Buch über die vorkolumbianische Entdeckung Amerikas. Auf diesem Gebiet ist Lechler erst in den letzten Jahren und Jahrzehnten von der Wissenschaft, die diese These lange Zeit mit Stirnrunzeln angesehen hat, bestätigt worden (Wiki). Über sein Buch heißt es (Justbooks):

Dr. Lechler stieß bei seinen Forschungen auf Verbindungen von Wikingern und Moslems, woraus sich ein Fragenzusammenhang ergab, der sich zwischen Portugal, Grönland und  Vinland um die vorkolumbianische Entdeckung Amerikas spannt.

Diese Worte machen eigentlich nicht den Eindruck, als ob hier einem "germanozentrischen Weltbild" das Wort geredet hatte werden sollen. Auf Jörg Lechler waren wir schon 2012 in einem ganz anderem Zusammenhang aufmerksam geworden (18, 19).

Abb. 8: In den 1930er Jahren viel gelesene archäologische Bücher von Gustaf Kossinna, seinem Schüler Jörg Lechler und anderen

Über die vom Museum, bzw. seinem Trägerverein herausgegebene Zeitschrift  heißt es für die frühen 1020er Jahre (Czubatynski 2011):

In dem einzigen, 1924 veröffentlichten Mitgliederverzeichnis wurden noch 317 Personen aufgeführt - eine aus heutiger Sicht immer noch erstaunlich große Zahl. Auch wenn die Zeitschrift auf dünne Hefte schrumpfte, so hatte man es doch durch zähe Arbeit und große Opferbereitschaft geschafft, das Erscheinen trotz Inflation und Weltwirtschaftskrise nicht einstellen zu müssen. Schon allein diese Tatsache muß als großes Verdienst des Vereins gewürdigt werden.

Der Museumsleiter Jörg Lechler hat in dieser Zeitschrift archäologische Themen behandelt und (Czubatynski 2011):

Als eifrigste Autorin ist übrigens mit 69 von 267 Beiträgen die Stiftsdame Annemarie von Auerswald zu nennen. (...) Im übrigen legte der Verein offenbar besonderen Wert auf die Einbeziehung möglichst breiter Bevölkerungsschichten. Dies hatte freilich zur Folge, daß (ähnlich wie in den Heimatkalendern) zahlreiche Aufsätze von geringem Umfang gedruckt wurden, die für die wissenschaftliche Diskussion von relativ geringem Wert waren.

Das schreibt derselbe Autor, der sich zuvor so erstaunt zeigt über die hohe Mitgliederzahl des Vereins. Ob es wohl zwischen beiden Umständen Zusammenhänge gibt? Wer Wissenschaft popularisieren will, muß populäre Beiträge bringen. Vielleicht hatte das Museum Heiligengrabe schon in den 1920er Jahren mehr von diesem Zusammenhängen verstanden als noch so mancher heimatkundliche Verein von heute? In der heutigen Ausstellung wird auf der Wandtafel "Wurzeln in der Tiefe, Wipfel im Licht" - was für ein schöner Titel allein! - ein ganz anderer Ton angeschlagen (2; Min. 4:44):

Das schon weithin bekannte Museum wurde als "Träger der Heimatverbundenheit" gesehen und entwickelte sich in den 1920er Jahren zu einem Zentrum der prähistorischen Forschung in Brandenburg. Heiligengrabe bildete den praktischen und ideellen Stützpunkt für die archäologische Landesaufnahme, deren Ergebnisse 1929 von Walter Matthes (...) im Band "Urgeschichte der Ostprignitz" publiziert wurden.

Der deutsche Archäologe Prof. Walter Matthes

1929 sollte der Archäologe und Anthroposoph Walter Matthes (1901-1997) (Wiki) die noch heute als bedeutsam bewertete Überblicksdarstellung "Urgeschichte des Kreises Ostprignitz" herausbringen. Er war zeitweise in Neuruppin zur Schule gegangen und von 1925 bis 1928 mit der Durchführung der archäologischen Landesaufnahme des Landkreises Ostprignitz betraut worden. Seit 1932 arbeitete Matthes dann im "Reichsbund für Deutsche Vorgeschichte" des Archäologen Hans Reinerth mit. 1934 wurde er dann Professor für Vorgeschichte an der Universität Hamburg. Diese Professur behielt er bis 1969 inne. Während des Zweiten Weltkrieges gehörte er zur Vorgeschichtsabteilung des Stabes Rosenberg und forschte dabei in Frankreich, Rußland und Italien.

Wie für fast alle mit der deutschen Vorgeschichte verbundenen Menschen vor 1945 war auch die Verbundenheit von Matthes mit dem Nationalsozialismus fast selbstverständlich. Nur Jörg Lechler geriet offensichtlich schon vor 1945 in Zwiespalt. Er war mit einer Jüdin verheiratet, die sich 1936 das Leben genommen hat. Womöglich war dies auch ein Anstoß dafür, daß Lechler eine Professur in den USA übernahm und dann bis an sein Lebensende nur noch für Besuche nach Deutschland kam.

Abb. 9: Ein heidnisches Erntedankfest in Heiligengrabe im September 1933 - Mädchen - offensichtlich der evangelischen Stiftsschule - tragen nachgefertigen Bronzeschmuck - ein frühes Beispiel von Reenactment (offenbar angestoßen und organisiert von Jörg Lechler, der darüber dann auch eine Schrift heraus brachte)

Im Heimatmuseum Perleberg leistete übrigens wenig später die Kossinna-Schülerin Waldtraut Bohm (1890-1969) (Wiki) ähnliches für die Westprignitz. Sie war ursprünglich Lehrerin in Berlin und hatte ab 1920 Vorlesungen von Gustaf Kossinna besucht. 1930 hat sie bei ihm promvoiert und ab 1931 im Museum Perleberg die Archäologie der Westprignitz auf gearbeitet. Das heutige Museum Perleberg verdankt ihr etwa ein Drittel seiner Funde (Wiki):

Ihre Aufarbeitung der Vorgeschichte der Westprignitz gilt bis heute als Standardwerk.

Soweit nur ein kleiner Seitenblick hinüber ins 40 Kilometer entfernte Perleberg. 

1933 hat Jörg Lechler die kleine Schrift "Das Heimatfest in Heiligengrabe am 10. Scheiding 1933" heraus gegeben. Zu diesem Heimatfest war auch der neue Gauleiter Kube erschienen. Es war von 18.000 Menschen besucht worden. Auf der Titelseite dargestellt findet sich quasi ein heidnisches, vorgeschichtliches, bronzezeitliches Erntedankfest (Abb. 9). Mädchen - wahrscheinlich der evangelischen Stiftsschule in Heiligengrabe - tragen nachgefertigen Bronzeschmuck. "Reenactment" im Jahr 1933. Das damalige Suchen nach neuen religiösen und kulturellen Inhalten kommt durch diese Fotografie sicherlich prägnant zum Ausdruck.

Abb. 10: Die Stiftsdame und Museumsleiterin Annemarie von Auerswald (1876-1945)

Die Stiftsdame Annemarie von Auerswald (1876-3.3.1945) (Wiki) war schon im Jahr 1909 Mitarbeiterin am Prignitz-Museum Heiligengrabe geworden. Auch sie hat bei Gustaf Kossinna studiert und war promovierte Archäologin (21).

Die Archäologin Annemarie von Auerswald in Heiligengrabe 1909 bis 1945

Von 1924 bis 1926 war sie dann wissenschaftliche Hilfsarbeiterin am Museum für Vor- und Frühgeschichte Berlin und von 1933 bis 1945 Leiterin des Museums in Heiligengrabe. Über ihre Arbeit wird berichtet (Werner von Kieckersbusch, Chronik Heiligengrabe, S. 468f):

Die Sammlung wuchs sehr schnell zu einem höchst wertvollen Denkmal der märkischen, insbesondere der Prignitzer Vergangenheit. Unter der sachverständigen Conventualin Annemarie von Auerswald fanden in der näheren und weiteren Umgebung zahlreiche Ausgrabungen statt, die äußert wertvolle und interessante Funde zeitigten. Urnen, Skelette, Waffen, Schmuckgegenstände usw. aus der Stein-, Bronze- und Eisenzeit kamen ans Tageslicht und fanden in dem Museum den ihnen gebührenden Platz. Auch zahlreiche Erinnerungsstücke an die Schlacht von Wittstock wurden hier untergebracht. (...) Unter Beteiligung weiter Kreise der Prignitz wurde im Jahre 1914 ein "Heimat- und Museums-Verein in Heiligengrabe" gegründet, der die Pflege und Mehrung des Museumsgutes übernahm und ein eigenes Mitteilungsblatt herausgab. (...) Es ist höchst bedauerlich, daß die wertvolle Sammlung im Mai 1945 bei der Besetzung durch die Russen restlos vernichtet und ausgeplündert wurde.

Immerhin (Wiki):

Teile des musealen Bestandes konnten von Albert Guthke, der 1936 bis 1941 als Assistent im Heimatmuseum Heiligengrabe tätig war, 1946/47 aufgearbeitet und in den Bestand des 1954 von ihm gegründeten Heimatmuseums Pritzwalk überführt werden. Weitere Exponate wurden auf die umliegenden, neu gegründeten Kreismuseen der Region verteilt.

Ein wesentlicher Bestandteil der Sammlung war das "Hungertuch von Heiligengrabe" (Kieckersbusch, S. 468f):

Das Glanzstück der Sammlung war das sogenannte "Hungertuch", eins der kostbaren alten Kulturgüter der Prignitz. Sehr wahrscheinlich stammt das Tuch (Größe: 3,50 m lang, 1,50 m hoch) aus dem 13. Jahrhundert. In der Mitte war der thronende Christus in der Mandorla dargestellt und zu beiden Seiten in zwei übereinander laufenden Streifen die ganze Heilsgeschichte. Der Reichtum der Erfindung, die zeichnerische Geschicklichkeit und die überaus sorgsame Nadelarbeit machte dieses Stück besonders kostbar. Das Tuch war im Jahre 1888 von dem Lehrer Meyer in der zum Patronat von Heiligengrabe gehörenden Kirche Breitenfeld beim Reinemachen ganz zerdrückt, verstaubt und zerschlissen im Müll gefunden worden. Er verwahrte das ehrwürdige Stück hinter dem Altar, wo es im Jahre 1911 von Paul Quente wieder ans Tageslicht gebracht wurde.

Dieses Hungertuch war auch dem Archäologen Jörg Lechler bedeutsam geworden. Er hatte mit einer Arbeit über die Verbreitung des Hakenkreuzes als archäologisches Symbol promoviert. In seinem Buch "5000 Jahre Deutschland" schreibt er (S. 211):

Das Hakenkreuz ist ebenso ältestes christliches Symbol wie das Kreuz. (...) Bis ins späte Mittelalter können wir verfolgen, daß sich das Hakenkreuz als gleichwertiges christliches Zeichen im germanischen Norden neben dem kreuz gehalten hat. (...) Es gibt fast keinen Domschatz, der auf seinen Stücken nicht Hakenkreuze zeigte. Ja, sogar noch nach 1300 finden wir das Hakenkreuz auf der Brust Christi mit Vogelköpfen gebildet, wie dies das Hakenkreuz als Sinnbild Wodans bei den Germanen charakterisierte, so auf dem Hungertuch in Heiligengrabe in der Mark Brandenburg (Abb. 683).

Er geht noch weitere Beispiele durch, die, so Lechler, zeigen (S. 211),

wie stark die Kirche es für eine Notwendigkeit erachtete, die heidnischen Symbole mit christlichen Werten zu erfüllen.

Annemarie von Auerswald hat Sachbücher veröffentlicht, hervorgehend aus ihrer wissenschaftlichen Arbeit (2), ebenso Romane im völkischen Geist der damaligen Zeit. Ob sie heute in ihrer Gänze noch lesbar sind, stehe dahin. 1940 etwa veröffentlichte sie die Erzählung "Die Tochter vom Gerwartshof". Darüber heißt es in einer Rezension (Stef. Cramme 2004):

Die Buchkarte eines ehemaligen Exemplars der Volksbücherei Köln trägt die Annotation "Anschauliche Darstellung altgermanischen Lebens zur Zeit der Völkerwanderung. Für Mädchen geeignet".

Die Handlung der Erzählung und die vermittelten Werte entsprechen dem Zeitgeist Ende der 1930er Jahre. Es geht um die Bewahrung und Gewinnung von Siedlungsland, ebenso wie um die Bewahrung von Rassereinheit. Und es geht um das gute oder schlechte Werben von Männern um ein junges Mädchen und ihre Reaktionen darauf.

"Dienen lerne beizeiten das Weib" - Im adligen Mädcheninternat in Heiligengrabe

Das Damenstift Heiligengrabe hat ein Mädcheninternat betrieben. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg war es das Ziel, die Mädchen zu Hauslehrerinnen und Gouvernanten auszubilden, um sie wirtschaftlich unabhängiger zu machen als sie es sonst wären (Ortrud Wörner-Heil, S. 420). Erziehungsideal war noch in der Vorkriegszeit jenes "Dienen lerne beizeiten das Weib" aus Goethes Hermann und Dorothea, ein Ideal, gegen das sich eine völkische Reformerin wie Mathilde Ludendorff (1877-1966) schon in ihrer Jugend empört hatte, und gegen das sich schon während des Ersten Weltrkieges auch die Internatsschülerinnen in Heiligengrabe begannen aufzulehnen. So etwa die nachmalig bekannter gewordene Wagner-Enkelin Friedelind Wagner (1918-1991) (Wiki). Mehrere Kossina-Schüler - unter anderem von Auerswald, Jörg Lechler - besuchten gemeinsam mit der Witwe Gustaf Kossinna's die Bayreuther Festspiele, wobei sicherlich diese Verbindung über Friedelind Wagner eine Rolle spielte (21).

Auch eine Tisa von Schulenburg ist in den 1930er Jahren in Heiligengrabe am Damenstift zur Schule gegangen. Ihren 1983 veröffentlichten Erinnerungen an diese Zeit gab sie den Titel "Des Kaisers weibliche Kadetten". Als solche wurden die Schülerinnen des Internats angesprochen, auch wenn damit - bis auf einen asketischen Lebenswandel - nur wenig konkrete Inhalte benannt sind. Aus der Sicht aufmüpfiger Jugend schreibt sie in ihren Erinnerungen über die Stiftsdamen (zit. n. Ortud Wörner-Heil, S. 422):

Die alten Damen in den Häuschen schienen uns unvorstellbar alt, verhutzelt, seltsam.

Ein solches Damenstift war eben vor allem auch Altersheim. Wenn aber die Stiftsdamen noch Anfang des 20. Jahrhunderts eine vom Kaiser eingesetzte, vormals verheiratete Äbtissin ablehnten eben nur deshalb, weil sie schon einmal verheiratet war, so darf man doch vermuten, daß sich an diesem Stift tatsächlich auch sehr veraltete Einstellungen lange halten konnten. Ansonsten hätte man ja ein solches Zusammenleben von Jung und Alt auch als etwas Fortschrittliches empfinden können. Daß aber überhaupt adlige evangelische Damen praktisch wie katholische Nonnen lebten, ist ja insgesamt eine Erscheinung, deren kulturhistorische Bedeutung auch noch einmal auszuloten wäre. Somit gab es im Damenstift Heiligengrabe offenbar beides: Übermütige, jugendliche Lebendigkeit und Fortschrittlichkeit ebenso wie christlich-konservative Einstellungen. Aber die Vorgeschichtsforschung und der Erste Weltkrieg scheinen doch manche frische Luft in die Klosterluft gebracht zu haben. Für die Zeit nach 1918 wird als Beispiel für Themenstellungen von Schulaufsätzen genannt (Ortrud Wörner-Heil, S. 427):

"Was kann ich tun zur Wiederbelebung des deutschen Geistes?"

Die Internatsschülerin Elsbeth von Oppen besuchte das adlige Mädcheninternat bis 1920, sie (Ortrud Wörner-Heil, S. 424) ...

... erlebte eine Welt der Unruhe und des Umbruchs. sie erlebte den erzieherischen vaterländischen Geist im Krieg, der nach dem Krieg bei vielen - Lehrkräften wie auch Mitschülerinnen - als nationale Wiedergeburt neue Zielrichtung fand. Sie erlebte aber auch aufmüpfige Mitschülerinnen, die nicht mehr des Kaisers Kadetten sein wollten und außerdem verstörte, von der Kriegsniederlage und der Revolution erschütterte Stiftsdamen.

Merkwürdig wäre es, wenn die Stiftsdamen nicht verstört und erschüttert gewesen wären. Aber auffallend genug, daß eine solche Erscheinung heute, wo es ebenfalls genug Anlaß für Verstörung und Erschütterung über die Schicksale unseres deutschen Vaterlandes gibt, quasi als "ungewöhnlich" charakterisiert werden kann. Auch

hatten sie sich schon vorher empört gezeigt über das "Dienen lerne beizeiten das Weib" aus Goethes Hermann und Dorothea. (...) Tisa von der Schulenburg nahm sich Lily Braun (...), die aus ihrer Standeswelt ausgebrochen war, zu ihrem Vorbild.

Die mit einem Juden verheiratete Adelstochter und Sozialdemokratin Lily Braun war nun zufälligerweise gerade in jener Zeit eine Freundin der nachmaligen Lebensreformerin Mathilde Ludendorff. Es wird also sehr deutlich, daß sich diese Mädchen und das zugehörige Damenstift in einem Spannungsverhältnis bewegten, das sehr kennzeichnend für die damalige Zeit war und sich im Grunde bis heute nicht gelöst hat - es sei denn in Form von Gedankenlosigkeit und Geschichtsvergessenheit der Deutschen. Aber ist das eine "Lösung"?

Das Fotoarchiv des Stiftes Heiligengrabe umfaßt Zeitdokumente der Jahre 1880 bis 2000, in ihm sind auch Fotografien vom erwähnten - wegweisenden - Heimatfest aus dem September 1933 enthalten, weshalb um so mehr angenommen werden kann, daß an dem damaligen "Reenactment" die Stiftsschülerinnen Anteil genommen haben. An Inhalten des Archivs werden aufgezählt (Fotoerbe):

Zahlreiche Porträtaufnahmen von Äbtissinnen, Stiftsdamen, Stiftsschülerinnen, Stiftshauptmännern und -pröpsten aus der Zeit der Stiftsschule von ca. 1880 - 1945/ (1997);
Ansichten von Bauten (Abtei, Kirche, Kapelle, Friedhof, Damenplatz, Klostergelände und Wirtschaftgebäude); Innenansichten von der Abtei, Kirche und Kapelle; Landschaftsaufnahmen von der Umgebung Heiligengrabes;
Kaiserbesuch (Wilhelm II. in Heiligengrabe 1903); zahlreiche Aufnahmen vom Alltag und Schulleben der Höheren Mädchenschule in Heiligengrabe (Klassenzimmer, alle Klassenzüge, Lehrerinnen/Stiftsdamen; Ausflüge/Klassenfahrten;
Heimatfest 10.9.1933 in Heiligengrabe; private Fotos z.T. aus dem Nachlaß einzelner Stiftsschülerinnen; Innenaufnahmen u. Eingangssituation (Abteiinnenhof) vom ehemaligen Heiligengraber Heimatmuseum (1909-1945);
als professionelle Fotografen sind in einigen Fällen nachweisbar Max Zeisig (Perleberg), Albert Schwarz (Hoffotograf, Berlin), Paul Donnerhack (Atelier Wittstock/Pritzwalk/Meyenburg), L. Haase und Comp. Berlin (Königl. Hoffotogr.) etc.
Die Fotos stammen z.T. aus dem Nachlaß ehemaliger Stiftsdamen und -schülerinnen; aus dem Depositum des Stiftsarchivs; auch Schenkung Sammlung Nora Neese und „Verein ehemaliger Heiligengraberinnen“; darunter ganze Fotoalben aus dem Privatbesitz ehemaliger Schülerinnen; kein Ankauf. Benutzung: Einsichtnahme nur nach vorheriger Absprache möglich; Bestand z.T. nur eingeschränkt zugänglich; Veröffentlichungen nur nach Genehmigung  [Quelle: Mitteilung des Museums Kloster Stift zum Heiligengrabe, 30.03.2011]

In dem "Reenactment" von heidnischen bronzezeitlichen Frauen im September 1933 darf man - wenn man möchte - durchaus ebenfalls Auflehnung sehen gegen das christliche Erziehungsideal "Dienen lerne des Weib".

Abb. 11: Albert Guthke (entnommen: Pawelka, ‎Foelsch, ‎Rehberg: Städte der Prignitz, 2004, S. 83, GB)

Wissen doch die heidnichen isländischen Sagas und die heidnische Edda, die dem Geist der Nordischen Bronzezeit näher stehen als alles orientalische Christentum von einer ganz anderen seelischen Haltung von Frauen zu berichten als sie in Goethes Hermann und Dorothea zu finden ist.

Albert Guthke - Er sammelte die Reste ein

Nachdem Annemarie von Auerswald im März 1945 gestorben war, blieb das weitere Schicksal der vorgeschichtlichen Sammlung von Heiligengrabe mit dem Namen Albert Guthke (1900-1981) (Wiki) verbunden:

Er stammte aus einer alteingesessenen Bauernfamilie aus Dahlhausen, einem Ortsteil von Heiligengrabe in der Prignitz. Diese Herkunft war für Albert Guthke prägend.

Prägend, so darf man vermuten, weil ja ebendort eine der frühen Ausgrabungen von Paul Quente stattgefunden hatte, die Guthke als Jungen beeindruckt haben mag (s.o.). Guthke (Wiki)

studierte 1919 bis 1926 Deutsch, Geschichte und Philosophie. (...) 1936 bis 1941 war er tätig als Assistent im „Heimatmuseum für die Prignitz“ im Kloster Stift zum Heiligengrabe unter der Leitung von Annemarie von Auerswald.

Wahrscheinlich ist er Ende April Mai 1945 - wie so viele damals - mit seiner Familie über die Elbe geflüchtet. Am 2. Mai 1945 erreichten die Russen Pritzwalk. Weiter hören wir (Wiki):

1945 bis 1946 als Museumspfleger am Museum Lüneburg, anschließend als Museumsleiter in Kyritz und schließlich in Pritzwalk. 1954 bis 1958 studierte er an der Fachschule für Heimatmuseen in Köthen und Weißenfels. 1946 bis 1960 lebten er und seine Familie in Dahlhausen und ab 1960 in Pritzwalk. Nachdem zum Ende des Zweiten Weltkrieges das "Heimatmuseum für die Prignitz" im Kloster Stift zum Heiligengrabe geschlossen und die ehemals reiche ur- und frühgeschichtliche Sammlung fast völlig vernichtet worden war, arbeitete Albert Guthke die Reste des musealen Bestandes 1946/47 auf und überführte sie in den Bestand des 1954 von ihm gegründeten Heimatmuseums Pritzwalk, weil ein Wiedererstehen eines Ostprignitz-Museums im kirchlichen Stift Heiligengrabe politisch nicht erwünscht war. Er wirkte als Leiter des Heimatmuseums bis zum Ruhestand im Jahr 1972. Dabei leistete er einen Beitrag zur Erforschung der Prignitz mit der Herausgabe von wissenschaftlicher Veröffentlichungen, insbesondere der zweibändigen Schriftenreihe "Prignitz-Forschungen" (Pritzwalk, 1966 und 1971). 

/ Diese vorliegende Darstellung dient nur einer ersten Orientierung und ist in allen Teilen künftig noch zu ergänzen und zu überarbeiten. / 

/ Letzte Überarbeitung:
26.11.2021 /
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  1. Ortrud Wörner-Heil: Adelige Frauen als Pionierinnen der Berufsbildung: Die ländliche Hauswirtschaft und der Reifensteiner Verband. Kassel University Press 2010 (GB
  2. Bading, Ingo: Das Prignitz-Museum für Vorgeschichte in Heiligengrabe - Kurze Videoaufnahmen, 23.7.2019, https://youtu.be/Bov71hLty_k, 2. Teil: https://youtu.be/IrbDUahATmA
  3. Quente, Paul: Das langobardische Urnenfeld von Dahlhausen (um 200-500 nach Chr.) Prignitzer Volksbücher, Heft 39, 1913
  4. Quente, Paul. Ein germanisches Dorf bei Kyritz. In: Mannus 1914, S. 97ff (GB)
  5. Matthes, Walter: Urgeschichte des Kreises Ostprignitz. C. Kabitzsch, Leipzig 1929 (GB)
  6. Matthes, Walter: Die Germanen in der Prignitz zur Zeit der Völkerwanderung im Spiegel der Urnenfelder von Dahlhausen, Kuhbier und Kyritz. Nach den Arbeiten von Paul Quente, Georg Girke und Jörg Lechler. Dem Gedächtnis Paul Quentes gewidmet. C. Kabitzsch, 1931 (138 S.) (GB)
  7. Matthes, Walter: Die nördlichen Elbgermanen in spätrömischer Zeit. Untersuchungen über Kulturhinterlassenschaft und ihr Siedlungsgebiet unter besonderer Berücksichtigung brandenburgischer Urnenfriedhöfe. C. Kabitzsch, 1931 (114 S.)
  8. von Kieckebusch, Werner (1887-1975): Chronik des Klosters zum Heiligengrabe - Von der Reformation bis 1945. Erarbeitet im Auftrag der Evangelischen Kirche Brandenburg in den 1940er Jahren bis 1949, veröffentlicht aber erst: Lukas-Verlag 2008 (GB), S. 468 
  9. Christiansen, Uwe; Petersen, Hans-Christian: Wilhelm Petersen - Der Maler des Nordens. Grabert-Verlag, Tübingen 1993
  10. Czubatynski, Uwe: Die Mitteilungen des Heimat- und Museumsvereins in Heiligengrabe. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Prignitz 11 (2011), S. 129ff (pdf)
  11. Koch, Julia Katharina: Frauen in der Archäologie - eine lexikalisch-biographische Übersicht. In: Jana Esther Fries, Doris Gutsmiedl-Schümann (Hrsg.): Ausgräberinnen, Forscherinnen, Pionierinnen: Ausgewählte Porträts früher Archäologinnen im Kontext ihrer Zeit. 2013 (GB), S. 260
  12. Hans Joachim Bodenbach: Der Archäologe Walter Matthes als Erforscher der Ostprignitz. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Prignitz, [ehemaliger Landkreis Ostprignitz], Bd. 15 (2015)
  13. Romeyke, Sarah: Vom Nonnenchor zum Damenplatz. 700 Jahre Kloster und Stift zum Heiligengrabe, Kultur- und Museumsstandort Heiligengrabe Bd. 1, Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte 2009 
  14. Romeyke, Sarah: Preußens Töchter. Die Stiftskinder von Heiligengrabe 1847–1945, Kultur- und Museumsstandort Heiligengrabe Bd. 5,  Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte 2015 (GB)
  15. Ruch, Christamaria: Sarah Romeyke spricht über den Initiativpreis für das Museum im Kloster Stift zum Heiligengrabe - Auf den Spuren einer verlorenen Sammlung. In: Märkische Allgemeine Zeitung, 7.2.2015, https://www.maz-online.de/Lokales/Ostprignitz-Ruppin/Sarah-Romeyke-spricht-ueber-den-Initiativpreis-fuer-das-Museum-im-Kloster-Stift-zum-Heiligengrabe
  16. Ruch, Christamaria: Museum in Heiligengrabe - Neue Ausstellung wird im Kloster vorbereitet. In: Märkische Allgemeine, 21.03.2016, https://www.maz-online.de/Lokales/Ostprignitz-Ruppin/Neue-Ausstellung-wird-im-Kloster-vorbereitet
  17. Ruch, Christamaria: Neue Dauerausstellung im Kloster Stift Heiligengrabe. In: Märkische Allgemeine Zeitung, 17.05.2017, https://www.maz-online.de/Lokales/Ostprignitz-Ruppin/Neue-Dauerausstellung-im-Kloster-Stift
  18. o.V.: Zur Geschichte des Museums. https://klosterstift-heiligengrabe.de/kloster/klosteranlage/museum
  19. Bokelmann, Christine: Museum im Kloster Stift zum Heiligengrabe. Flyer o.D. [nach 2015]  
  20. Bading, Ingo: Kossinna lacht - er lacht und lacht und lacht. Neue Erkenntnisse aus der Archäogenetik. Studium generale, 29.11.2017, https://studgendeutsch.blogspot.com/2017/11/kossinna-lacht-er-lacht-und-lacht-und.html
  21. Schöbel, Gunter: Weichenstellerinnen - ein Blick hinter die Kulissen   der Fachdisziplin Vorgeschichte zwischen 1918-1939, Prähistorische Zeitschrift 8.10.2021,  https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/pz-2021-2008/html; auch: 11/2021 (pdf

Jörg Lechler

  1. Propst, Ernst: Kurzbiographie des Archäologen Jörg Lechler. Archäologie-News, 26.9.2005
  2. Lechler, Jörg: Vom Hakenkreuz. Die Geschichte eines Symbols. Mit Geleitwort von [Hans] Hahne. Curt Kabitzsch-Verlag, Leipzig  1921 (= Vorzeit. Nachweise und Zusammenfassungen aus dem Arbeitsgebiet der Vorgeschichtsforschung, Band 1) (Justbooks) (27 S. Text, 351 Abb. = 89 S.); 2. erw. u. vermehrte Auflage 1934,  https://archive.org/ stream/VomHakenkreuz/Vom%20  Hakenkreuz#page/n0/mode/2up; Woher kommt das Hakenkreuz? Geschichte des Symbols und internationale Verbreitung. "Faksimileausgabe der beiden gesuchten Werke von J. Lechler 'Vom Hakenkreuz. Die Geschichte eines Symbols' und W. Scheuermann 'Woher kommt das Hakenkreuz' aus den Jahrer 1921/1933. Verlag Roland Faksimile, Bremen 2001 (104 S.)
  3. Lechler, Jörg: [Dorfgeschichte Ostprignitz] In: Mannus: Zeitschrift für Vorgeschichte, C. Kabitzsch (A. Stuber's Verlag), 1923, S. 36 (GB)
  4. Lechler, Jörg: Der Paläontologe. In: Mitteilungen des Heimat- und Museumsvereins in Heiligengrabe 7/1925, S. 23f
  5. Lechler, Jörg: Enis Errettung - Eine lehrhafte und doch gruselige Geschichte aus der Steinzeit Mitteldeutschlands. In: Mitteilungen des Heimat- und Museumsvereins in Heiligengrabe 9/1926, S. 1ff
  6. Lechler, Jörg: Das Gräberfeld auf dem Sehringsberge bei Helmsdorf. Verlag Curt Kabitzsch, Leipzig  1927 (66 S.) (Google Bücher)
  7. Kossinna, Gustaf: Altgermanische Kulturhöhe. Leipzig EA 1927 (seit der 4. Auflage 1934 mit Bildern versehen von Jörg Lechler)
  8. Lechler, Jörg: Das Heimatfest in Heiligengrabe am 10. Scheiding 1933. Heiligengrabe 1933
  9. Lechler, Jörg: Vor 3000 Jahren. Ein frühgermanisches Kulturbild. Brehm 1934; Volk und Wissen Band 5. Stenger, Erfurt 1939 (31 S.) (Google Bücher)
  10. Gautier, Emile F. und Jörg Lechler (Hrsg.): Geiserich, König der Wandalen. Die Zerstörung einer Legende.  Societäts-Verlag, Frankfurt/Main 1934, 1940 (365 S.)
  11. Lechler, Jörg: Germanische Vorgeschichte. Band 137 der Stoffsammlung für die Arbeit der Albert-Forster-Schule, bzw. für die Schulungsarbeit der Deutschen Angestelltenschaft. Verlag Hauptamt f. Schulung d. Dt. Angestelltenschaft, Albert-Forster-Schule, 1934, 1935 (51 S.)
  12. Lechler, Jörg: Sinn und Weg des Hakenkreuzes. In: Der Schulungsbrief, Dezember 1935 (hrsg. vom  Reichsschulungsamt der NSDAP und der Deutschen Arbeitsfront) (41 S.); engl. unter "Meaning and Path of the Swastika" (o.J.) 
  13. Lechler, Jörg: Ein germanisches Kultfest vor 3000 Jahren. Erläuterung zu dem Anschauungsbilde "Germanische Sonnenwendfeier (Bronzezeit)" (Bilder zur deutschen Vorgeschichte Nr. 8) Wachsmuth, 1935 (21 S.)
  14. Lechler, Jörg: "Heil!", in: Der Schulungsbrief, hrsg. v. Reichsschulungsamt der NSDAP und der Deutschen Arbeitsfront, Berlin, April 1936, 3. Jg., 4. F., S. 129
  15. Andree, Julius; Weinert, Hans; Lechler, Jörg: Das Werden der Menschheit und die Anfänge der Kultur. Mit 348 Textbildern und 7 Beilagen. Deutsches Verlagshaus Bong & Co.,  Berlin/Leipzig,  [1936] (404 S.)
  16. Lechler, Jörg: 5000 Jahre Deutschland. Eine Führung in 700 Bildern durch die deutsche Vorzeit und germanische Kultur. Verlag C. Kabitzsch 1937 (217 S.) (Google Bücher);  Faks. d. Ausg. v. 1937 mit dem Untertitel "Germanisches Leben in 700 Bildern" im Verlag für ganzheitliche Forschung und Kultur, 3. Aufl. 1983 (Amaz.)
  17. Lechler, Jörg: Die Entdecker Amerikas vor Columbus. Mit einem Beitrag von Edward F. Gray, Genralkonsul a. D.. Verlag Curt Kabitzsch, Leipzig 1939 (118 S.); Faksimile-Verlag / Bremen 1992 (= Forschungsreihe Historische Faksimiles)
  18. Bading, Ingo: Nur bruchstückhaft bekannt - Aufsätze Mathilde Ludendorffs vor 1927. Studiengruppe Naturalismus, 10.6.2012, https://studiengruppe.blogspot.com/2012/06/die-nur-bruchstuckhaft-bekannten.html
  19. von Kemnitz, Mathilde: Das Hakenkreuz. In: Der Weltkampf. Monatsschrift für die Judenfrage aller Länder, 1. Jg., Folge 5, Oktober 1924 (Hrsg. von Alfred Rosenberg), S. 25 - 29 (Scribd)

Samstag, 20. Juli 2019

"Polygenetische Risiko-Faktoren" vor 1.000 Jahren

Die Nachfahren der Wikinger blieben sich genetisch gleich in Skandinavien bist heute

- 442 Wikinger-Genome sind sequenziert worden - Und die Ergebnisse zeichnen ein Bild auffallender genetischer Kontinuität bis heute

Die Skandinavier sehen noch heute genauso aus wie die Skandinavier vor tausend Jahren. Ähnliche Körperpigmentierung, ähnliche Körpergröße und viele sonstige angeborene körperliche und seelische Merkmale sind in den letzten tausend Jahren in ihrer Häufigkeit größtenteils gleich geblieben. Das ist das wesentliche Bild, das eine neue Studie zur Archäogenetik der Wikinger zeichnet (1).*) Und angesichts der vielfältigen genetischen Veränderungen in Europa vor der Bronzezeit darf man auch das Bild von etwa 4000 Jahren genetischer Kontinuität seit der Bronzezeit in Europa so stark wie möglich auf sich wirken lassen. Europa steht eben für beides: Für Veränderung und für Kontinutität. Und es weist fast in jenen Geschichtsepochen, in denen es kulturell die größten Veränderungen hervorgebracht hat, genetisch fast die geringsten Umwälzungen auf. Nämlich in den letzten tausend Jahren (1).

Eigentlich erst für ein einziges genetisch verschaltetes Merkmal kann die Archäogenetik und die moderne Humangenetik neuerdings aufzeigen, daß es sich in den letzten 4000 Jahren innerhalb von Nordeuropa in seiner Häufigkeit deutlich verändert hat: Rohe Milch haben unsere Vorfahren mehrheitlich erst seit der Bronzezeit getrunken, nicht vorher. Diese Erkenntnis deutet sich in einer Grafik an, die in der neuen Preprint-Studie zur Archäogenetik der Wikinger auch enthalten ist (Abb. 1).

Abb. 1: Häufigkeit der erwachsenen Rohmilch-Trinker nach Zeitepoche und Region (aus: 1)

Dieses einzige Bild größerer Veränderung, das hier zu behandeln ist, sei zuerst erkläutert (Abb. 1): In der spätneolithischen schnurkeramischen Kultur ("Corded Ware EU") gab es unter 10 sequenzierten Individuen keines, das angeborenermaßen rohe Milch verdauen konnte. Unter 31 sequenzierten Glockenbecher-Individuen im heutigen Deutschland gleicher Zeitstellung ("BB_Germany") gab es ebenfalls nur wenige Individuen, die das konnten. Diese Eigenschaft ist allerdings dann im bronzezeitlichen Ostseeraum ("Baltic_BA") schon unter fünf von 10 Individuen zu finden. Und in der Wikingerzeit ("VA") ist diese Fähigkeit dann schon ähnlich häufig verbreitet wie sie es noch heute in Skandinavien ist (heute: Balken ganz rechts).

"Polygenetische Risiko-Faktoren" vor 1.000 Jahren

Und das gilt interessanterweise für eine große Fülle von angeborenen Eigenschaften wie Haar-, Haut- und Augenfarbe, auch Körpergröße, Neigung zu Schizophrenie und so weiter. Sie alle sind in der Regel deutlich stärker polygenetisch verschaltet als die Erwachsenen-Rohmilch-Verdauung. Und für sie kann - aufgrund der Forschungen der wenigen letzten Jahre - inzwischen eine polygenetische Erblichkeitseinschätzung ("polygenic risk score") vorgenommen werden, selbst für Genome aus tausende von Jahren alten Knochen (Abb. 2).

Abb. 2: Vergleich polygenetische Merkmale der Wikinger und der heutigen Skandinavier - Kontinuität oder Veränderung? (Bildschirmfoto aus: 1)

In Abbildung 2 werden eine Fülle von menschlichen Eigenschaften aufgezählt, deren Ausprägung von mehr als hundert einzelnen Gen-Orten (SNP's) im Genom mitbestimmt werden, sprich, die polygenetisch vererbt werden, und für die schon heute aufgrund der fortgeschrittenen Forschungslage eine Einschätzung der phänotpyischen Ausprägung anhand der polygenetischen Daten im Genom vorgenommen werden kann. Die Häufigkeitsverteilung dieser polygenetischen Anlagen ("polygenic risc score") scheinen sich nun laut dieser Grafik in den letzten tausend Jahren in den seltensten Fällen auffallend verändert zu haben - abgesehen von einer Eigenschaft: der Neigung zu schwarzer Haarfarbe. Diese liegt heute sogar noch deutlich weniger häufig vor in Skandinavien als vor tausend Jahren. Aber selbst Gene, die mitbestimmen, wieviel Zeit wir vor dem Fernseher verbringen, scheinen heute noch ähnlich verteilt zu sein in der Bevölkerung wie vor tausend Jahren. Ebenso Gene, die den Zeitpunkt der geschlechtlichen Reife mitbestimmen (also die typische angeborene Sprödigkeit der Germanen), ebenso Gene, die Heuschnupfen hervorrufen, Gene, die Körpergröße und Körpergewicht bestimmen, Gene, die bestimmen, ob man ein Morgenmensch oder Abendmensch ist, Gene, die mitbestimmen wie neurotisch wir sind, wie stark wir dazu neigen, an Schizophrenie zu erkranken und so vieles andere mehr.

Sie alle sind gleich geblieben - trotz tausend Jahren Christentum. Wir Menschen des 21. Jahrhunderts scheinen genetisch noch sehr stark jenen Menschen zu ähneln, die vor tausend Jahren in Europa gelebt haben. In der Studie werden nirgendwo Vergleiche angestellt des polygenic score für die Intelligenz der Wikinger und der heutigen Skandinavier. Womöglich ist die Datenlage noch zu dünn. Das wird sich aber in nur wenigen Jahren ändern. Und da darf man dann noch einmal gespannt sein.

Die neuen Erkenntnisse dieser Studie sind dadurch gewonnen worden, daß 442 Skelette Nordeuropas sequenziert worden sind aus der Zeit zwischen 2.400 v. Ztr. und 1600 n. Ztr., vorwiegend aus der Wikingerzeit.*) Was aber kann aus dieser neuen Studie noch gelernt werden, außer der recht wesentlich erscheinenden Wahrnehmung, daß sich die polygenetischen Risikofaktoren in den letzten tausend Jahren offenbar so auffallend wenig verändert haben? Für die Zeit um 1.000 v. Ztr., also vor 3.000 Jahren wird die folgende Aussage gemacht (1):

Wir finden, daß der Übergang von der Bronzezeit zur Eisenzeit einher geht mit einem Rückgang des anatolisch-neolithischen genetischen Anteils und einer Zunahme des indogermanischen genetischen Anteils und der vorneolithischen Jäger-Sammler-Anteils.
We find that the transition from th e BA to the IA is accompanied by a reduction in Neolithic farmer ancestry, with a corresponding increase in both Steppe-like ancestry and hunter-gatherer ancestry.

Es fragt sich aber, ob dieser Aussage wirklich irgendeine Bedeutung zugesprochen werden muß. Denn in der zugehörigen Grafik (Extended Data, Fig. 6 b)  ist diese Veränderung kaum zu erkennen und stellt sich nur als wenig auffallend dar, bzw. als gar nicht sichtbar. Viel eher drängt sich auch hier auf, daß die Herkunftsanteile von den letzten Jägern und Sammlern Europas, sowie den ersten Bauern Europas über die letzten viertausend Jahre hinweg immer einigermaßen in gleichen Anteilen im Erbgut der Nordeuropäer geblieben sind.

Während der Wikingerzeit gibt es in einigen Teilen Schwedens sogar Bevölkerungen, die bis zu 40 % genetisch anatolisch-neolithischer Herkunft sind. Auch mischt sich in der Wikingerzeit in einigen Regionen ostasiatische oder kaukasische Genetik mit hinein, sicherlich aufgrund des Hereinbringens von Sklaven aus dem russischen Raum. Es findet sich auch die Genetik von keltischen Briten im wikingerzeitlichen Skandinavien und auch diejenige von spätantiken, bzw. frühmittelalterlichen Südeuropäern.

Abb. 3: Ein Wikingerschiff, Nachbau (in Stockholm) (Wiki a, b)

In Dänemark nun finden sich keine schwedischen oder norwegischen Wikinger begraben, umgekehrt in Norwegen und Schweden aber sehr wohl dänische Wikinger. Damit wird deutlich, daß es eine größere Bewegung von Menschen aus Dänemark Richtung Norden gab als umgekehrt von Schweden und Norwergen Richtung Dänemark. Im ganzen damaligen skandinavischen Raum war damals auch Dänisch die Verkehrssprache wie in der Studie festgehalten wird. Dänische Wikinger siedelten in England, schwedische Wikinger siedelten im Ostseeraum, norwegische Wikinger besiedelten Irland, Island und Grönland. Interessanterweise sind die Wikinger im Südwesten Schwedens genetisch kaum von den Dänen zu unterscheiden, ebenso sind die Angeln und Sachsen, die in England siedelten, genetisch kaum von den Dänen zu unterscheiden. Für einige Orte und Regionen - wie etwa die Insel Gotland - können noch weitere Auffälligkeiten festgestellt werden (1):

Auf Gotland gibt es viel mehr genetische Komponenten, die Ähnlichkeit mit damaligen Dänen, Briten und Finnen aufweisen als solche, die Ähnlichkeit mit damaligen Schweden aufweisen, was deutlich macht, daß diese Insel während der Wikingerzeit in weiträumigen intensiven Handelsontakten stand.
On Gotland, there are much more Danish-like, British-like and Finnish-like genetic components than Swedish-like components, supporting the notion that the island may have been marked by extensive maritime contacts during the Viking Age.
Für zwei Individuen wird im Anhang der Studie noch aufgezeigt, welche Art von Aussagen über ihr Aussehen beim derzeitigen Stand der Forschung gemacht werden können. Die Aussagen sind noch keine 100%-Aussagen, weil alle behandelten Merkmale - wie überhaupt fast alle Merkmale des Menschen -  polygenetisch bedingt sind und man noch von fast keinem der menschlichen Merkmale den vollständigen Satz jener vielen hundert oder tausend SNP's ("Gene") von jeweils geringer Wirkung kennt, die zur Ausprügung des Merkmals beitragen (1; Anhang 2, S. 76f):
Für Individuum VK1: Die Wahrscheinlichkeit, blaue Augen zu haben, kann auf 0,85 eingeschätzt werden, die Wahrscheinlichkeiten für blondes Haar 0,63, für braunes Haar 0,29, rotes Haar 0,01 und schwarzes Haar 0,07. Für Individuum VK42 entsprechend ...
For VK1 individual: The estimated probability of having blue eyes was 0.85, while the hair color probabilities were blond  (0.63), brown (0.29), red (0.01) and black (0.07). For VK42 individual: the estimated probability of  having brown eyes was 0.98, while the hair color probabilities were blond (0.15), brown (0.6), red (0.001) and black (0.25).
Die zahlenmäßige Häufigkeit von "Risiko-Allelelen" dafür, schwarze Haare zu haben, ist seit der Wikingerzeit bis heute zurück gegangen, so wird wird ausgeführt (1; Anhang 2, S. 96):
Es scheint, als habe sich bei den Dänen die Häufigkeit von gut bekannten Allelen, die die Haarfarbe beeinflussen, seit der Wikingerzeit beträchtlich verschoben, während wir keinerlei andere bedeutsame Häufigkeitsveränderung für Allele erkennen können, die anthropometrische Merkmale beeinflussen oder einige wenige (schon polygenetisch besser erforschte) komplexe Krankheiten.
It appears that frequencies of established common alleles affecting hair colour have significantly changed in the Danish population since the Viking Age, whereas we do not observe any significant change for alleles affecting other common anthropometric traits and a few complex disorders.

Insgesamt macht diese Studie deutlich ein hohes Maß an genetischer Kontinuität in diesem Zeitraum. Zumindest wenn man es mit den Jahrtausenden davor vergleicht.

Rohmilchverdauung - Die Häufigkeit dieser Fähigkeit stieg in Spanien und Indien später an als in Nordeuropa

Ergänzung 1, 13.10.2019: Bei dem Urvolk der Indogermanen von der Mittleren Wolga besaßen nur 1 % der Angehörigen die angeborene Fähigkeit, als Erwachsene Rohmilch verdauen zu können. Mit dieser Häufigkeit verbreitete dieses Volk dieses Gen dann vom Atlantik bis zum Pazifik (2).

Und nachdem es soweit verbreitet war, hat es an unterschiedlichen Orten unterschiedlich lange gedauert (wie oben schon erörtert), bis es die jeweils dort vorliegende heutige Häufigkeit erreichte (2). In Spanien haben es heute immerhin 45 % der Bevölkerung, in Skandinavien und England über 90 %. Am Schnellsten nahm diese Fähigkeit an Häufigkeit nach derzeitigem Kenntnisstand zu auf den britischen Inseln und in Mitteleuropa. Und zwar ab etwa 2000 v. Ztr. (2). Im Frühmittelalter erreichte es hier und in Skandinavien die heutige Häufigkeit. Deutlich langsamer geschah das im Industal und in Spanien, nämlich erst ab etwa 0 v./n. Ztr. (2).

Damit stellt sich nun natürlich die Frage, warum das in Indien und Spanien 2000 Jahre später geschah als in Nordeuropa, obwohl das Ausgangsmaterial für die Selektion überall gegeben war? Lag es an dem anteilmäßigen Umfang, mit dem sich die Zuwanderer jeweils populationsgenetisch durchgesetzt hatten? Dieser Eindruck drängt sich zunächst auf.

Ergänzung 2, 3.7.2020: Es werden neuerdings auch Hinweise darauf gefunden, daß die Fähigkeit zur Erwachsenen-Rohmilchverdauung von Seiten der Steppen-Völker in niedriger Häufigkeit nach Nordindien (Punjabi) eingeführt wurde und dort in späteren Jahrhhunderten und Jahrtausenden ebenfalls an Häufigkeit zunahm (3):

Wenn das T-Allel schon im Nordschwarzmeer-Gebiet entstand, dann hat es sich nicht nur ab 3.000 v. Ztr. nach Europa verbreitet, sondern ebenso ab 2.100 v. Ztr. in die Turan-Region und ab 1800 v. Ztr, nach dem Untergang der Indus-Zivilisation auch weiter nach Südasien.
As a number of CA haplotypes can be also found in MXL (Mexican Ancestry from Los Angeles) and PEL (Peruvian in Lima) from admixed Americans (AMR), as well as BEB (Bengali in Bangladesh), ITU (Indian Telugu in the UK), PJL (Punjabi), and STU (Sri Lankan Tamil from the UK) from South Asian Ancestry (SAS), the age of the A allele must be older than that of the T allele as aforementioned. Interestingly, the T allele frequency is quite high in some of these populations: 24% in MXL, 10% in PEL, and 26% in PJL. Yet, IAV is substantially reduced in MXL or even non-existent in PEL (...). These features are compatible with very recent ongoing selective sweeps, but a more likely cause would be admixture, founder effects, or a combination of these factors after Columbus. Similarly, IAV in PJL is significantly reduced (...). Although admixture also occurred in PJL, we consider a prehistoric event as a more likely cause: if the T allele arose in the Pontic Steppe, it must have spread not only into Europe from 3000 BC, but also into Turan by 2100 BC and further into South Asia after the decline of the Indus Valley Civilization in ca. 1800 BC (Damgaard et al., 2018; Narasimhan et al., 2019; Shinde et al., 2019). As the time elapsed in Punjabi was as long as 3800 years, it is tempting to speculate the presence of an independent selective sweep for the T allele in this locality too. Thus, it appears that LP in Europe and South Asia shares the early history of the expanding Steppe ancestry in the Bronze Age, and offers strong selective advantages to its local bearers in lactose-relevant niche construction.
Ergänzung 3, 7.7.2020: In einem neuen Artikel wird anhand der mongolischen Herdenhalter, die zwar vornehmlich von Milchprodukten leben, aber dennoch nicht die Fähigkeit, als Erwachsene Rohmilch verdauen zu können, entwickelt haben, gefragt (4):
Wenn es die Möglichkeit einer nichtgenetischen Anpassung gibt, um Verdauungsprobleme zu vermeiden, wenn man Milchprodukte konsumiert, dann lautet ja die Frage: Warum ist auf Laktase-Persistenz überhaupt selektiert worden?
Given the possibility of a nongenetic adaptation to avoid intestinal symptoms when consuming dairy products, the puzzle then becomes this: why has LP been selected for at all?

Von einer Antwort auf diese Frage scheint die Forschung noch weit entfernt zu sein!

Ergänzung 4, 12.9.2020: 14 Gefallene der Schlacht an der Tollense in Mecklenburg (1250 v. Ztr.) sind neu sequenziert worden, zusammen mit anderen bronzezeitlichen und nachbronzezeitlichen Skeletten (5, 6, 7). Der Zeitraum, in der die angeborene Fähigkeit der Erwachsenenrohmilch-Verdauung in Nord- und Mitteleuropa evoluiert ist, wird mit dieser Studie noch kürzer als bislang schon angenommen: Diese Fähigkeit lag bei den Teilnehmern der Schlacht an der Tollense nur bei einem von 14 Sequenzierten vor, also nur zu 7 %, anderwärts in der Bronzezeit zu 4,6 %. Nur für das heutige Lettland ist diese Fähigkeit in der Bronzezeit schon bei vier von acht Individuen gefunden worden, was 50 % entspräche - und was bisher zu unscharf extrapoliert worden war auf die nordeuropäische Bronzezeit insgesamt. Eine solche Häufigkeit findet sich sonst aber erst im Frühmittelalter anderwärts in Europa, nämlich bei völkerwanderungszeitlichen Ungarn ebenso wie bei den Wikingern (3). Damit steht weiterhin eine Erklärung jener selektiven Regime aus, die dazu führten, daß diese Fähigkeit heute zu über 90 % in Nordeuropa verbreitet ist. Es gibt erste Hinweise, daß dies etwas zu tun haben könnte mit gleichzeitigem Infektions-Schutz.

Ergänzung 5, 14./16.9.2022: Eine neue Studie findet bei heutigen Briten gar keinen direkteren Zusammenhang zwischen der Menge des Konsums von Milchprodukten und der angeborenen Fähigkeit, als Erwachsener rohe Milch verdauen zu können (8). Auch Menschen, die letzteres nicht können, konsumieren Milchprodukte, auch dann, wenn das ein wenig Magengrummeln oder Blähungen zusätzlich verursacht.

Dasselbe scheint dementsprechend auch für alle vorgeschichtlichen Bevölkerungen zu gelten seit der Zeit, da sie milchgebende Tiere domestiziert hatten und deren Milch für Nahrung verwendeten. Anhand der Milchfettreste in Keramikscherben in unterschiedlichsten Kulturen suchten die Forscher nach einem zeitlichen oder räumlichen Zusammenhang zwischen dem Konsum von Milchprodukten und der angeborenen Fähigkeit, als Erwachsener rohe Milch verdauen zu können. Sie konnten aber ebenfalls gar keinen Zusammenhang finden (8, 9) (Abb. 4). 

Abb. 4: Milchreste in Keramikscherben pro Jahrtausend in Europa und Westasien (aus: 10)

Insbesondere ist in Abbildung 4 zu sehen, daß in der Zeit, in der in Europa die angeborene Fähigkeit, als Erwachsener rohe Milch verdauen zu können anstieg (nämlich nach 1000 v. Ztr.), sich eher weniger Scherben mit Milchfett-Resten finden als vorher! Deshalb gingen die Forscher einem neuen Zusammenhang nach (9):

Die Wissenschaftler fanden, daß das, was sie als Signale für Hungerzeiten oder Pandemien ansahen, am besten mit den Häufigkeitsveränderungen in Bezug auf die Fähigkeit zur Verdauung roher Milch, die sich durch die Archäogenetik gezeigt haben, zusammenpaßten. (Sie benutzten archäologische Daten, um Perioden zurück gehender Bevölkerungszahlen - vielleicht Hungerzeiten - zu identifizieren ebenso wie Zeiten größerer Bevölkerungsdichte - vielleicht Zeiten für schnellere Verbreitung von Krankheiten.)
The researchers found that what they considered signals of famine and sickness best matched the jumps in lactase persistence in ancient DNA, they report today in Nature. (They used archaeological records to identify periods of shrinking populations - perhaps famines - as well as times of greater population density - possibly times of faster disease spread.)

Die Fähigkeit als Erwachsener problemlos rohe Milch verdauen zu können, könnte also nach ihnen insbesondere dann evolutionär vorteilhaft gewesen sein, wenn es größere Notzeiten gab, Hungerzeiten oder Epidemien. Dann könnten jene, die als Erwachsene problemlos rohe Milch verdauen können, im Vorteil gewesen sein und eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit gehabt haben gegenüber den anderen. Leider ist die Studie noch hinter einer Bezahlschranke, so daß uns nicht klar ist, welche Hungerzeiten, Notzeiten, Epidemien das - vor dem Frühmittelalter - nach der Studie genauer gewesen sein sollen. In der Zusammenfassung heißt es dazu (10):

Der Vergleich von Modellwahrscheinlichkeiten legt nahe, daß Populationsschwankungen, Siedlungsdichte und der Verzehr des Fleisches von wilden Tieren - als Annäherungen für diese Beschleuniger - eine bessere Erklärung bieten für die Selektion von Laktasepersistenz als das Ausmaß des Verzehrs von Milchprodukten.
Comparison of model likelihoods indicates that population fluctuations, settlement density and wild animal exploitation - proxies for these drivers - provide better explanations of LP selection than the extent of milk exploitation.

Dann würde sich aber die Frage stellen, warum diese Beschleuniger in Nordeuropa früher wirksam wurden als in Indien und in Spanien, wo doch die Siedlungsdichte in letzteren Regionen viel früher viel höher war.

---------------------------------
*) Aus der Wikingerzeit wurden sequenziert (1):
Individuals from Denmark (n=78), Faroe Islands (n=1), Iceland (n=17), Ireland (n=4), Norway (n=29), Poland (n=8), Russia (n=33), Sweden (n=118), UK (n=42), Ukraine (n=3) as well as medieval individuals from Faroe Islands (n=16), Italy (n=5), Norway (n=7), Poland (n=2) and Ukraine (n=1). The Viking Age individuals were supplemented with additional published genomes (n=21) from Sigtuna, in Sweden.
_____________________________________
  1. Population genomics of the Viking world. Ashot Margaryan, Daniel John Lawson, Martin Sikora, (...) Kristian Kristiansen, Rasmus Nielsen, Thomas Werge, Eske Willerslev. bioRxiv 703405; Preprint, 17.7.2019, doi: https://doi.org/10.1101/703405
  2. Iain Mathieson: The spread of the European lactase persistence allele, 12.10.2019, http://mathii.github.io/2019/10/12/the-spread-of-the-european-lactase-persistence-allele, https://twitter.com/mathiesoniain/status/1183112399722864640
  3. Population genomics on the origin of lactase persistence in Europe and South Asia. Yoko Satta, Naoyuki Takahata. bioRxiv 2020.06.30.179432; doi: https://doi.org/10.1101/2020.06.30.179432, This article is a preprint and has not been certified by peer review, https://www.biorxiv.org/content/10.1101/2020.06.30.179432v1.
  4. Segurel L, Guarino-Vignon P, Marchi N, Lafosse S, Laurent R, Bon C, et al. (2020) Why and when was lactase persistence selected for? Insights from Central Asian herders and ancient DNA. PLoS Biol 18(6): e3000742. https://doi.org/10.1371/journal.pbio.3000742, Published: June 8, 2020
  5. Low Prevalence of Lactase Persistence in Bronze Age Europe Indicates Ongoing Strong Selection over the Last 3,000 Years. Current Biology. (Researchgate)
  6. Bading, Ingo: Völker und Großreiche geraten in Bewegung, 2019, https://studgendeutsch.blogspot.com/2019/10/volker-und-groreiche-in-bewegung-europa.html 
  7. Ewen Callaway: How humans’ ability to digest milk evolved from famine and disease - Landmark study, Nature, 27 July 2022, https://www.nature.com/articles/d41586-022-02067-2
  8. Cathleen O’Grady: Ancient Europeans farmed dairy - but couldn’t digest milk, 27 Jul 2022, https://www.science.org/content/article/ancient-europeans-farmed-dairy-couldn-t-digest-milk 
  9. Evershed, R.P., Davey Smith, G., Roffet-Salque, M. et al. Dairying, diseases and the evolution of lactase persistence in Europe. Nature 608, 336-345, 27.7.2022, https://doi.org/10.1038/s41586-022-05010-7, https://www.nature.com/articles/s41586-022-05010-7 (Academia)
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