Mittwoch, 9. Juli 2008

Die europäischen Völker im Frühmittelalter

Es dürfte wertvoll sein, künftig die Forschungs-Ergebnisse des Wiener Frühmittelalter-Forschers Walter Pohl im Auge zu behalten, der im Jahr 2004 den mit 1,5 Millionen Euro dotierten Wittgenstein-Preis, den "Nobelpreis Österreichs" erhalten hat. Ah, Wissenschaftsblogger und - journalist Ferdinand Knauß ("Geschlechterverwirrung") hat im "Handelsblatt" auch schon über die Forschungen von Pohl berichtet (2.7.2008).

Hier einmal Auszüge aus der Antrittsvorlesung von Walter Pohl im Mai 2006, in der er über das Forschungsprojekt berichtet, für das die Gelder des Wittgenstein-Preises derzeit ausgegeben werden:
Viele Völker Europas sind zwischen 400 und 1000 n. Chr. entstanden, oder suchen in dieser Zeit ihren Ursprung. Zugleich entstand überhaupt die abendländische Art und Weise, wie man über Völker dachte und wie ethnische Identitäten zur Grundlage politischer Macht und individueller Selbstwahrnehmung wurden. Europa ist in dieser Hinsicht außergewöhnlich, denn es besteht aus einer Vielzahl von stabil bestehenden Staaten, die ethnisch bestimmt sind. In den meisten anderen Kulturräumen der Weltgeschichte (etwa in der römischen Antike, in der islamischen Welt oder in Indien) war das anders. Der Ansatz dieser Entwicklung liegt in der "ethnischen Wende" des Frühmittelalters. (...)

Die Fallbeispiele aus jener Zeit erlauben es, über einen Zeitraum von Jahrhunderten hinweg einigermaßen kontinuierlich das Schicksal ethnischer Prozesse zu verfolgen und dabei fast wie in einem Laboratorium der Sozialforschung Identitätsbildung, Identitätskrisen und Identitätsverlust unter den unterschiedlichsten Bedingungen zu verfolgen.

Seit dem 5. Jahrhundert konnte sich ein neues Element innerhalb der lateinischen politischen Kultur durchsetzen: Königreiche auf ethnischer Grundlage, zum Beispiel die Regna der Goten, Franken oder Langobarden. Völker, in deren Namen Könige die Herrschaft beanspruchten, hatte es ein Jahrtausend lang nur am Rand der klassischen Welt gegeben; Griechen und Römer waren vor allem Angehörige ihrer polis, ihrer civitas oder res publica. Nun herrschte ein rex Francorum über ehemalige römische Provinzen und ihre vorwiegend romanische Bevölkerung und stützte sich dabei auf die spätantike Infrastruktur (einschließlich der Bischöfe). Die meisten Reiche der Völkerwanderungszeit zerfielen bald wieder, aber das Prinzip blieb; um 1000 war Europa bis Polen, Ungarn und Bulgarien unter ethnisch bezeichneten christlichen Regna mit lateinischer (oder griechischer) Staatssprache aufgeteilt. Die Errichtung großräumiger politischer Herrschaft durch eine ethnisch definierte Führungsgruppe gelang nur christlichen Königen, die über lateinische Schriftlichkeit und Elemente spätrömischer Organisation verfügten.

Ethnisch begründete Herrschaft war im mittelalterlichen Europa von Anfang an kein archaisches Element, sondern Teil eines komplexen Modells politischer Kultur. Dass die Welt aus unterschiedlichen Völkern besteht, die sich durch jeweils spezifische Merkmale unterscheiden, ist keine selbstverständliche Erkenntnis, sondern setzt eine beachtliche Abstraktionsleistung voraus. Die Festigung überregionaler ethnischer Identitäten erforderte beträchtliche Anstrengungen gesellschaftlicher Bedeutungsproduktion, von denen die uns erhaltenen Texte vielfältige Spuren erkennen lassen.

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