Wir hatten gerade im März erst völlig neue Erkenntnisse über die Entstehung und Geschichte der keltischen und italischen Völker in Europa behandelt (Stg25). Es geschah das unter dem Titel "Bollwerk Germanien", um deutlich zu machen, daß diese keltischen und italischen Völker mehrfach ohne langfristigen Erfolg versuchten, nach Skandinavien einzudringen, wodurch sich in Skandinavien eine vergleichsweise "konservative" Völkergruppe erhielt, nämlich die germanische.
In einer neuen archäogenetischen Studie wird nun auf die Bedeutung eines anderen genetisch sehr konservativen Volkes an der Nordseeküste hingewiesen. Nämlich auf einen lange Zeit nachwirkenden, ungewöhnlich hohen Jäger-Sammler-Anteil in den neolithischen und frühbronzezeitlichen Kulturen zwischen Weser, Weserbergland und Schelde (1) (s. Abb. 1).
Nordhessen einerseits, die Niederlande und Flandern andererseits
Fast zeitgleich zur hier zu behandelnden archäogenetischen Studie zu den Niederlanden und Flandern erscheint eine weitere, die einen ähnlich konservativen, hohen Jäger-Sammler-Anteil aufzeigt für die benachbarten Regionen in Nordhessen und Südniedersachsen. Nämlich für die dortige Wartberg-Kultur (3.500-2.800 v. Ztr.) (Wiki) und die dortige Westliche Trichterbecher-Kultur (4.300-2.800 v. Ztr.) (Wiki) (2), und zwar in Menschen, die in dortigen, zum Teil berühmten Galerie- und Megalithgräbern bestattet worden waren. Zum Beispiel im berühmten Galeriegrab von Züschen in Nordhessen, in dem es eines der ältesten Wagendarstellungen der Weltgeschichte gibt.
Es wird all dies aufgezeigt anhand der Analyse von 129 Genomen, die aus Skeletten gewonnen werden konnten von den Fundorten in Altendorf, Niedertiefenbach, Rimbeck, Warburg und Züschen (alle der Wartberg-Kultur in Nordhessen/Westfalen zugehörig), sowie von dem Fundort Sorsum (im südlichen Niedersachsen, der Westlichen Trichterbecher-Kultur zugehörig). Die Genome all dieser Menschen wiesen genetisch einen hohen westeuropäischen Jäger-Sammler-Anteil auf, nämlich zwischen 25 und 50 %, im Durchschnitt 35 %.
Außerdem aber wird in dieser archäogenetischen Nordhessen-Studie Eliten-Verwandtschaft aufgezeigt rund um die genannten Großsteingräber, und zwar zum Teil über mehr als 200 Kilometer hinweg (2). Wir haben es hier mit einer ähnlichen Erscheinung zu tun, wie sie 2020 schon für die berühmtesten Megalithgräber in Irland aufgezeigt worden war (Stg20), wodurch staatliche Strukturen, "Großreiche" in Nordeuropa schon für das Mittelneolithikum immer wahrscheinlicher werden.
Aber mehr noch: die in diesen Galerie-Gräbern repräsentierten mittelneolithischen Fürstentümer und Königreiche in der norddeutschen Tiefebene und an der Nordseeküste scheinen nun das Kerngebiet der Ethnogenese der Glockenbecher-Kultur ab 2.460 v. Ztr. gewesen zu sein oder diesem Kerngebiet räumlich, genetisch und kulturell sehr nahe gestanden zu haben (1). Zunächst lesen wir von (1) ...
... der Region rund um das Rhein-Maas-Gebiet in Gemeinschaften in den Feuchtgebieten, Flußgebieten und Küstengebieten der westlichen und zentralen Niederlande, Belgiens und Westdeutschlands, wo wir genomweite Daten für 109 Menschen zwischen 8500 und 1700 v. Ztr. zusammentrugen. Hier überlebte eine besondere Population mit hohem Jäger- und Sammleranteil (∼50 %) bis zu dreitausend Jahre länger als in kontinentaleuropäischen Regionen, was auf die begrenzte Eingliederung von Frauen früheuropäischer Bauernabstammung in die lokalen Gemeinschaften hindeutet. In den westlichen Niederlanden war auch die Ankunft des Schnurkeramik-Komplexes außergewöhnlich: Tieflandbewohner aus Siedlungen, die Schnurkeramik übernahmen, hatten trotz eines charakteristischen Y-Chromosoms der frühen Schnurkeramik kaum Steppenvorfahren. Der begrenzte Zustrom könnte die einzigartige Ökologie der flußdominierten Landschaften der Region widerspiegeln, die sich nicht für die flächendeckende Übernahme des frühneolithischen Landwirtschaftstyps eigneten, der mit der Linearbandkeramik eingeführt wurde. Dadurch konnten bereits etablierte Gruppen gedeihen und eine dauerhafte, aber durchlässige Grenze geschaffen werden, die Ideentransfer und Genfluß auf niedriger Ebene ermöglichte. Dies änderte sich mit der Entstehung durch Vermischung von Bevölkerungen der Glockenbecherzeit um 2500 v. Ztr. durch die Verschmelzung lokaler Rhein-Maas-Bevölkerung (9-17 %) und mit der Schnurkeramik assoziierter Migranten beiderlei Geschlechts. Ihre Ausbreitung aus der Rhein-Maas-Region hatte dann zerstörerische Auswirkungen auf einen viel größeren Teil Nordwesteuropas, einschließlich Großbritannien, wo ihre Ankunft die Hauptursache für eine 90-100-prozentige Verdrängung der lokalen neolithischen Bevölkerung war.... the wider Rhine-Meuse area in communities in the wetlands, riverine areas, and coastal areas of the western and central Netherlands, Belgium and western Germany, where we assembled genome-wide data for 109 people 8500-1700 BCE. Here, a distinctive population with high hunter-gatherer ancestry (∼50%) persisted up to three thousand years later than in continental European regions, reflecting limited incorporation of females of Early European Farmer ancestry into local communities. In the western Netherlands, the arrival of the Corded Ware complex was also exceptional: lowland individuals from settlements adopting Corded Ware pottery had hardly any steppe ancestry, despite a characteristic early Corded Ware Y-chromosome. The limited influx may reflect the unique ecology of the region’s river-dominated landscapes, which were not amenable to wholesale adoption of the early Neolithic type of farming introduced by Linearbandkeramik, making it possible for previously established groups to thrive, and creating a persistent but permeable boundary that allowed transfer of ideas and low-level gene flow. This changed with the formation-through-mixture of Bell Beaker using populations ∼2500 BCE by fusion of local Rhine-Meuse people (9-17%) and Corded Ware associated migrants of both sexes. Their expansion from the Rhine-Meuse region then had a disruptive impact across a much wider part of northwest Europe, including Britain where its arrival was the main source of a 90-100% replacement of local Neolithic peoples.
Der Hauptkomponenten-Analyse für die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den neolithischen und bronzezeitlichen Bevölkerungen im Rhein-Maas-Gebiet entnehmen wir, daß es dort mit jeder neuen archäologischen Kultur während des Neolithikums zu einem weiteren Vermischungsschub kam (Abb. 2).
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Abb. 2: Hauptkomponenten-Analyse für die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den neolithischen und bronzezeitlichen Bevölkerungen im Rhein-Maas-Gebiet (aus 2) |
Wir haben zunächst Menschen mit 100 % westeuropäischem Jäger- und Sammler-Anteil (Abb. 2: gelb). Mit der dortigen Swifterbant-Kultur (Wiki), die parallel zur bandkeramischen Kultur entstand, kam es zu Vermischungen mit Menschen der bandkeramischen Kultur, und zwar in recht unterschiedlichen Anteilen (Abb. 2: dunkelblau). Die mittel- und spätneolithische Wartberg-Kultur weist dann Herkunftsanteile auf wie oben schon anhand (2) wiedergegeben (Abb. 2: hellblau).
Auf Baltrum waren die Menschen genetisch noch "konservativer"
Wir lesen außerdem über genetisch noch "konservativere" Menschen in der Blätterhöhle in Westfalen und auf der schönen Nordseeinsel Baltrum (1):
Zu den seltenen Ausnahmen zählen ein Individuum aus dem Mittelneolithikum von der Insel Baltrum (BLR001) und ein veröffentlichtes Individuum aus der Blätterhöhle (I1565), beide mit einer Abstammung von >75 % von Jägern und Sammlern, sowie einige mit der Wartberg-Kultur in Zusammenhang stehende Individuen mit einem WHG-Abstammungsanteil von nur 25 %.Rare exceptions include one Middle Neolithic individual from the island of Baltrum (BLR001) and one published individual from the Blätterhöhle cave (I1565), both with >75% hunter- gatherer ancestry, and also some Wartberg-associated individuals with a range of WHG ancestry reaching as low as 25%.
Ab 3.000 v. Ztr. nehmen die Menschen des Niederrhein-Gebietes dann die Kultur der indogermanischen Schnurkeramik an. Aber ihre Genetik verändert sich dabei einmal erneut nicht wesentlich. Sie bleiben weiterhin "konservativ". Es kommt nur zu leichten genetischen Einmischungen der Schnurkeramiker (Abb. 2: rot).
Auch als "Schnurkeramiker" blieben die Menschen an der Nordseeküste genetisch "konservativ"
Erst ab 2.500 v. Ztr. wandelt sich das genetische Abstammungsbild drastisch. Die einheimische Bevölkerung wird genetisch ersetzt durch die Glockenbecher-Kultur (orange), die ein völlig anderes Herkunftsprofil aufweist. Über die Ankunft der Glockenbecher-Genetik und -Kultur in den Niederlanden wird vornehmlich aus archäologischer Sicht ausgeführt (2):
Die Ankunft des Glockenbecher-Komplexes um 2500 v. Ztr. markierte einen weiteren großen kulturellen Übergang. Mit ihr breiteten sich Siedlungen über die Feuchtgebiete und Küstengebiete aus und ersetzten Siedlungen von Vlaardingen/Schnurkeramik, obwohl sie im Allgemeinen nicht dieselben Standorte nutzten. Die Glockenbecher-Wirtschaft war der vorherigen Schnurkeramik-Wirtschaft ähnlich und bestand hauptsächlich aus Landwirtschaft, gemischt mit Jagen und Sammeln von geringer Intensität. Im sandigen Hochland gab es eine Fortsetzung des Hügelgräberrituals, allerdings mit ausgeprägten Glockenbecher-Merkmalen und einer materiellen Kultur, die das Schnurkeramik-Repertoire ersetzte. Glockenbecher-Gruppen sind auch südlich des Rheins gut belegt, wie Glockenbecher-Grabhügel auf den Sandböden der südlichen Niederlande und Belgiens belegen.The arrival of the BB complex around 2500 BCE marked another major cultural transition, as settlements spread across the wetlands and coastal areas, replacing Vlaardingen/CW settlements, though generally not using the same sites28. The BB economy was similar to the previous CW one and consisted of predominantly farming mixed with low-intensity hunting and gathering. In the sandy uplands, there was a continuation of the barrow ritual, but with distinct BB characteristics and material culture replacing the CW repertoire34,35. BB groups were also well attested south of the Rhine, as evident in BB burial mounds on the sandy soils of the southern Netherlands and Belgium32,36,37. BB settlement sites remain just as elusive in this area as CW settlements.
Ab 2.500 v. Ztr. vollzieht sich auch die Indogermanisierung Armeniens und Griechenlands und auch dort beobachten wir - wie anderwärts - ein vergleichsweise grausames Ausrotten der Vorbevölkerung, bildlich dargestellt etwa in dem Silberbecher von Karashamb aus der Zeit um 2.200 v. Ztr. (Stg23). Dieses grausame Ausrotten ist zeitgleich durch die Archäogenetik auch in Böhmen und anderwärts zu beobachten.
Aber dann kam die Glockenbecher-Kultur ...
Über die Glockenbecher-Genetik in den Niederlanden wird ausgeführt (2):
Alle 13 verfügbaren Individuen, die mit der Glockenbecher-Kultur in Zusammenhang stehen, scheinen in der Hauptkomponentenanalyse genetisch den Gruppen nahezustehen, die in Zusammenhang mit der Schnurkeramik-Kultur stehen, jedoch nicht mit den vorhergehenden lokalen Vlaardingen/Schnurkeramik-Individuen aus dem Rhein-Maas-Gebiet. Sie können mit einer Abstammung von ∼83 % aus dem Hauptcluster der Schnurkeramik-assoziierten Individuen und ihre restliche Abstammung aus einer mit dem Wartberg-Neolithikum verwandten Gruppe modelliert werden, die jene neolithische Bevölkerung aus dem Rhein-Maas-Gebiet mit dem niedrigsten Grad an Jäger- und Sammler-Abstammung repräsentiert, oder als Mischung zwischen mittel- und spätneolithischen Gruppen von außerhalb des Rhein-Maas-Gebiets (z. B. Kugelamphore in Polen, TRB in Tschechien, Baalberge in Deutschland, Neolithikum-Chalkolithikum in Iberien) und spätneolithischen Populationen aus Belgien. Alle diese Szenarien deuten auf eine Abstammungsänderung von ∼83–91 % (aber nicht 100 %) hin, die mit der Ankunft des Glockenbecher-Komplexes in der Rhein-Maas-Region verbunden ist (Ergänzende Tabelle 5). Ein Beitrag der lokalen Bauern des Rhein-Maas-Deltas mit ihrem charakteristischen Merkmal einer hohen Jäger- und Sammlerabstammung ist essenziell, um die Entstehung der mit dem Rhein-Maas-Delta assoziierten Glockenbecher-Individuen zu modellieren. Sogar bei 9–17 % können wir davon ausgehen, daß diese lokale Vermischung stattfand: Modelle, denen dieser einzigartige genetische Beitrag der Bauern des Rhein-Maas-Deltas fehlt, werden mit hoher Signifikanz zurückgewiesen. Das deutet darauf hin, daß die beobachtete Vermischung zwischen den mit der Schnurkeramik-Kultur verbundenen Gruppen und europäischen Bauern, die das genetische Profil des Rhein-Maas-Deltas bildete, in der Region selbst stattgefunden haben muß. Radiokarbondatierungen legen außerdem nahe, daß die Rhein-Maas-Region einer der frühesten Orte war, an denen das Glockenbecher-Kulturphänomen auftrat. Während das früheste Vorkommen von Glockenbecher-Kulturmaterial auf der Iberischen Halbinsel lokalisiert wurde, zeigen unsere Ergebnisse, daß eine frühe Bildung von Glockenbecher-assoziierten Gruppen, die nicht nur kulturell, sondern auch genetisch von Schnurkeramik-Nutzern beeinflußt wurden, auch im Rhein-Maas-Gebiet stattfand.All 13 available BB-associated individuals appear genetically close to CW-associated groups, but not to the preceding local Rhine-Meuse area Vlaardingen/CW individuals in the PCA. They can be modeled with ∼83% ancestry from the main cluster of CW-associated individuals (Supplementary Table 5), and their remaining ancestry from a Wartberg Neolithic-related group, representing the Neolithic population from the Rhine-Meuse area with the lowest level of hunter-gatherer ancestry, or as a mixture between Middle and Late Neolithic groups from outside the Rhine-Meuse area (e.g. Poland Globular Amphora, Czechia TRB, Germany Baalberge, Iberia Neolithic-Chalcolithic) and Late Neolithic populations from Belgium. All these scenarios point to a ∼83-91% (but not 100%) ancestry change associated with the arrival of the BB complex in the Rhine-Meuse region (Supplementary Table 5). A contribution of local Rhine-Meuse delta farmers, with their distinctive signature of high hunter-gatherer ancestry, is essential to model the formation of Rhine-Meuse delta BB-associated individuals. Even at 9-17%, we can be confident this local admixture occurred: models lacking this unique Rhine-Meuse delta farmer genetic contribution are rejected with high significance. This suggests that the observed mixture between CW culture associated groups and European farmers that formed the genetic profile of Rhine-Meuse delta BB must have occurred in the region itself. Radiocarbon dates further suggest that the Rhine-Meuse area was one of the earliest places where the BB cultural phenomenon arose61. While the earliest appearance of BB cultural material has been located in Iberia62, our results show that early formation of BB-associated groups, influenced not just culturally but also genetically by CW users, also occurred in the Rhine-Meuse area.
Vor zwei Monaten erst war - wie eingangs angedeutet - eine Studie aus dem Labor von Eske Willerslev erschienen, die den Ursprung der Glockenbecher-Kultur in Nordfrankreich lokalisierte für die Zeit ab 2.463 v. Ztr., und die eine Ausbreitung in die Niederlande ab 2.384 v. Ztr. annahm (Stg25). Man darf gespannt sein, wie weit sich die Kernregion der Ethnogenese der Glockenbecherkultur künftig noch eingrenzen lassen wird.
Jedenfalls wird hier einmal erneut eine spannende Beobachtung gemacht. Einmal erneut - wie dies schon zum Beispiel archäogenetischen Studien zu Böhmen (Stg21) oder zu Ungarn/Kroatien (Stg22) gleich mehrfach beobachtet worden war - sind es einheimische europäische Jäger-Sammler-Anteile, die einen entscheidenden Beitrag leisten zur Ethnogenese neuer Völker. In dem vorliegenden Fall an der Nordseeküste sogar zur Ethnogenese eines der bedeutendsten Völker der europäischen Geschichte überhaupt, nämlich der Glockenbecher-Kultur und damit der italo-keltischen Völkergruppe.
"Das untergehende Vaterland" - ein "Werden im Vergehen"
Wir ahnen, bzw. bekommen damit einmal erneut vor Augen geführt, daß "konservative" Völker dennoch zum Fortschritt der Völkergeschichte beitragen oder vielleicht gerade deshalb, weil sie so konservativ sind und darum einer Welt, die sich inzwischen völlig gewandelt hat, "Impulse" geben können, die aus weniger konservativen Völkern nicht mehr gegeben werden können, da sie zu sehr angepaßt sind an die inzwischen "modern" gewordene Welt. Wir ahnen einmal erneut ein dynamisches Wechselspiel zwischen sehr konservativen und sehr fortschrittlichen Tendenzen und Ausrichtungen innerhalb der Völkergeschichte, und daß beide Tendenzen oft sehr nahe beieinander liegen können. Ähnliches glaubten wir ja auch schon etwa bei der Ethnogenese der Urindogermanen an der Mittleren Wolga zu beobachten, wo zwei sehr gegensätzliche Lebensweisen zu einer neuen Lebensweise verschmolzen und etwas völlig Neues schufen.
Und wir erkennen damit - vielleicht einmal erneut: daß auch die norddeutsche Tiefebene und die Küstenregionen der Nordsee schon im Neolithikum und in der frühen Bronzezeit eine für das übrige Europa vergleichsweise "konservative" Genetik und Kultur aufgewiesen haben, die aber nicht bedeutungslos im "Strom der Geschichte" "versiegten". Denn welch große Überraschung zugleich: Genau diese konservative Genetik und Kultur in den Küstenregionen der Nordsee scheinen der Ausgangspunkt gewesen zu sein für die Entstehung einer der bedeutendsten Völkergruppen der europäischen Geschichte, insbesondere der Bronze- und Eisenzeit, nämlich der italo-keltischen Völkergruppe und der Glockenbecher-Kultur, die diese begründete.
Wir erkennen damit zugleich, daß die große Geschichte der Völkergruppe der westeuropäischen Jäger und Sammler (Stg21) um 2.400 v. Ztr. zwischen Weser und Schelde einen sehr überraschenden "Endpunkt" findet, einen Abschluß, der womöglich sogar als ein neues, illustrierendes Beispiel gelten kann für den so grundlegenden geschichtsphilosophischen Gedanken von Friedrich Hölderlin (1770-1843) rund um das von ihm umsonnene Theorem vom "Werden im Vergehen" (Zeno):
Das untergehende Vaterland, Natur und Menschen, insofern sie in einer besondern Wechselwirkung stehen, eine besondere ideal gewordene Welt, und Verbindung der Dinge ausmachen, und sich insofern auflösen, damit aus ihr und aus dem überbleibenden Geschlechte und den überbleibenden Kräften der Natur, die das andere, reale Prinzip sind, eine neue Welt, eine neue, aber auch besondere Wechselwirkung, sich bilde, so wie jener Untergang aus einer reinen, aber besondern Welt hervorging. (...) Dieser Untergang oder Übergang des Vaterlandes (in diesem Sinne) fühlt sich in den Gliedern der bestehenden Welt so, daß in eben dem Momente und Grade, worin sich das Bestehende auflöst, auch das Neueintretende, Jugendliche, Mögliche sich fühlt.
In der von uns behandelten Studie (1) wird ja zudem auch noch ausgeführt, daß es tatsächlich eine besondere "Wechselwirkung" gegeben hat zwischen den Menschen an der Nordseeküste und dem dortigen, wasserreichen Naturraum, die dazu führte, daß die vollneolithische und die nachmalige indogermanische Lebensweise viel zögernder angenommen wurde als in anderen Regionen.
Und es kann ja gar keinem Zweifel unterliegen, daß sich "das Neueintretende, Jugendliche, Mögliche" in der Glockenbecher-Kultur "fühlte" - - - angesichts des geradezu rasenden Eroberungssturmes, mit dem die Glockenbecherkultur von dem kleinen umrissenen Raum der Nordseeküste aus vordrang bis nach Südnorwegen, bis nach Böhmen, bis nach Schottland und Irland, bis nach Sizilien, bis nach Portugal, bis nach Nordafrika.
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- Long-term hunter-gatherer continuity in the Rhine-Meuse region was disrupted by local formation of expansive Bell Beaker groups. By: Iñigo Olalde, Eveline Altena, (...) Iosif Lazaridis, Swapan Mallick, Nick Patterson, Nadin Rohland, Martin B. Richards, Ron Pinhasi, Wolfgang Haak, Maria Pala, David Reich. bioRxiv 2025.03.24 (biorxiv)
- Ben Krause-Kyora, Nicolas Antonio da Silva, Almut Nebel et al. Long-distance kinship in megalithic Europe, 06 May 2025, Preprint (Version 1) (Research Square) [https://doi.org/10.21203/rs.3.rs-6464608/v1]
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