Mittwoch, 21. Mai 2025

Die Italiener haben viele Worte für "Traube" ...

...  die Amischen für "Buggy",
... die Inuit für "Schnee"
- Wie sich die Lebens- und Denkwelt der Völker in ihrer Sprache wiederspiegelt

Die Inuit haben vier Wörter für das Wortfeld "Schnee" (ScAm2025) und einige für das Wortfeld "See-Eis" (1), Hindi hat viele Wörter für das Wortfeld "Liebe". Ob es sich bei diesen Aussagen nur um Vorurteile handelt, ist in einer neuen Studie durch quantitative Auswertung von Wörterbüchern untersucht worden. Die Ergebnisse können auch in einem frei zugänglichen "Lexical Elaboration Explorer" (LEE) besichtigt werden.

Abb. 1: Die Pennsylvania-Deutschen hatten viele Worte für "Bugy" - Hier ein amischer Buggy auf einem Feldweg in Holmes County, Ohio, nahe des Wallnuß-Baches (Fotografie von Carol M. Highsmith, 2016) (Garystock)

Welch immense Auswirkung die muttersprachliche Prägung auf die Wahrnehmung der Welt und der sozialen Beziehungen hat, ist in Wahrnehmungsstudien festgestellt worden, etwa an englischsprachigen, fünf Monate alten Kindern. Diese nehmen räumliche Konzepte, die nur im Koreanischen hervor gehoben werden, noch wahr, was zwar erwachsene Engländer nicht mehr tun, erwachsene Koreaner aber schon (2, 3). Das heißt, daß erwachsene Engländer eine andere muttersprachliche Prägung ihrer räumlichen Wahrnehmung aufweisen als erwachsene Koreaner.

Gegenüber diesem Forschungsergebnis, das schon 2004 gewonnen worden ist, ist eine aktuelle Annäherung an dasselbe Phänomen über die Erforschung der unterschiedlichen Größe von Wortfeldern in einzelnen Sprachen eine Annäherung an ähnliche Phänomen aus anderer Richtung und auf weniger grundsätzlicher Ebene (1).   

Mittelalterliche europäische Sprachen

Im mittelalterlichen Deutschen (Mittelhochdeutsch) werden von dem neuen "Lexical Elaboration Explorer" (LEE) die Wortfelder mit den meisten Worten angeführt von den folgenden Wortfeldern, bzw. Konzepten: Witz, Glanz, Kampf, Bewaffnung, Helm. Ähnliches gilt für Altenglisch und Altfranzösisch. Man fühlt sich bei solchen Konzepten und Wortfeldern - natürlich - an die Welt des Nibelungenliedes und an ähnliche Dichtungen erinnert. Das sind ja auch die Sprachdokumente, aus denen die analysierten Wörterbücher destilliert worden sind!

Bei den Wortfeldern mit den meisten Worten noch im heutigen Isländischen fühlt man sich aber ebenso oft an die isländische Saga-Welt aus dem Mittelalter erinnert. Diese wirkt also noch nach, obwohl hier die Wörterbücher nicht vornehmlich aus mittelalterlichen Dichtungen abgeleitet worden sind: Spitzname, Vers, Qual, Wundheilung, Waffenstillstand, Totschlag, Metapher, Zauberer, Riese, Schreiber, Geächteter sind hier die Konzepte, bzw. Wortfelder mit den meisten Worten.

Noch im heutigen Italienischen geht es sehr viel um bäuerliche Nahrungsmittel: Traube, Kastanie, Heuraufe, Käse, Wein sind die Konzepte, bzw. Wortfelder mit den meisten Begriffen.

Für das Lettische wird als Wortfeld mit den meisten Begriffen angeführt "Birke", für das Litauische "Duckmäuser".

Für die Sprache der Samoaner: Lava, Taro, Einsamkeit, Brotfrucht, Dach, Kanu, Häuptling, Taube. Auch hier spiegelt sich die traditionelle Lebenswelt und Lebensweise der Samoaner wieder.

Neuzeitliche europäische Sprachen

Im "Pennsylvania-Dutch" werden folgende Konzepte/Wortfelder als jene mit den meisten Begriffen angeführt: Buggy (s. Abb. 1), Scheune, Prediger, Apfelwein, Wagen, Kirsche. Auch in dieser Auswahl spiegelt sich - offensichtlich - die traditionelle Lebensweise der Deutschen in Pennsylvania wieder, die zu großen Teilen Mennoniten waren, und von denen die heutigen deutschsprachigen Amischen sprachlich und kulturell als solche in den USA fortexistieren.

Die modernen Deutschen nun sollen - merkwürdigerweise - vor allem viele Wörter haben für das Wortfeld "Kaminsims" (engl. "Mantel"). Das mutet reichlich merkwürdig an und hier scheint uns doch irgendetwas schief gelaufen, fehlerhaft zu sein. Außerdem sollen die modernen Deutschen Rekordhalter sein für Wortfelder wie: Stufe, Stiefel, Stall, Lehrer, Schnürsenkel, Entwurf, Rechnung, Humor, Tonne, Bad. Was auch immer man aus diesem Forschungsergebnis ableiten möchte!!

Jüdische Sprachen

Eindeutiger sind die Ergebnisse dann schon wieder für die jüdischen Sprachen und Dialekte. Hier finden sich viele Worte für das Konzept/Wortfeld "Synagoge", am meisten im Jüdisch-babylonischen Aramäischen (Wiki), dann im Judeo-Jemenischen Arabisch (Wiki), dann im Ladino (Judäo-Spanisch) (Wiki) der sephardischen Juden, dann im Ostjiddischen (Wiki) und im Modernen Hebräisch (Wiki) der aschkenasischen Juden. All das mutet nachvollziehbar und einsichtig an. 

Das moderne Hebräisch hat noch mehr Wörter für "Rabbi", gefolgt vom Ostjiddischen (beides aschkenasische Juden).

Auffällig und auch nachvollziehbar mag auch sein, daß im Modernen Hebräisch ebenso wie im Ladino der sephardischen Juden offenbar fast alle jene Konzepte/Wortfelder, die die meisten synonymen Begriffe aufweisen, im Zusammenhang mit religiösem Kontext stehen: captivity, desolation, terror, atonment (Sühne), redemption (Erlösung) und so weiter.

Im Ostjiddischen der aschkenasischen Juden kommen interessanterweise Wortfelder hinzu wie "Paranthese" (was in der Rhetorik eine größere Rolle spielt). Außerdem Wortfelder/Konzepte wie "fun", "holiday" oder "polish".

Im Judeo-Jemenischen Arabisch spielen auch Wortfelder offenbar aus dem außerreligiösen Lebensalltag eine Rolle wie: "land", "baking", "fodder", "camel", "oven" etc..

Insgesamt läßt sich also wohl als eine erste Schlußfolgerung ableiten, daß jene Bereiche, mit denen die Menschen in einer Sprachgemeinschaft besonders viel beschäftigt sind, worüber sie viel reden, was ihnen wichtig ist, auch besonders viele Worte aufweisen. Im Jüdischen ist es der religiöse Bereich, in den mittelalterlichen europäischen Sprachen ist es unter anderem das Rittertum/Kriegertum, in vielen bäuerlichen Völkern sind es Worte aus der bäuerlichen Lebenswelt.

Ein Wechsel der Lebenswelt - wie er durch einen Epochenwechsel wie den vom Mittelalter zur Neuzeit markiert wird - kann auch einen Wandel der meist benutzten Worte mit sich bringen - muß dies aber nicht. All das ist einsichtig und nachvollziehbar. 

Aber vielleicht werden aus solchen Forschungen künftig noch weitergehende Schlußfolgerungen abgeleitet werden können.

Für tieferliegende muttersprachliche Prägungen zum Beispiel der Wahrnehmung der räumlichen Umwelt oder der sozialen Umwelt werden allerdings noch ganz andere sprachliche Zusammenhänge eine Rolle spielen als es durch die Größe der Wortfelder in einer jeweiligen Sprache erforscht werden kann. 

__________

  1. T. Khishigsuren,T. Regier,E. Vylomova,& C. Kemp,  A computational analysis of lexical elaboration across languages, Proc. Natl. Acad. Sci. U.S.A. 122 (15) e2417304122, https://doi.org/10.1073/pnas.2417304122 (2025). (Preprint)
  2. Hespos, Susan J., and Elizabeth S. Spelke: Conceptual precursors to language. In: Nature (2004): 453-456 (Resg)
  3. Osterkamp, Jan: Erst denken, dann sprechen - Sprachentwicklung. In: Spektrum d. Wiss., 21.7.2004 (Spektrum2004)

Keine Kommentare:

Related Posts Plugin for WordPress, Blogger...

Beliebte Posts (*darunter finden sich leider selten neuere Beiträge*)

Registriert unter Wissenschafts-Blogs

bloggerei.de - deutsches Blogverzeichnis

Haftungsausschluß

Urheber- und Kennzeichenrecht

1. Der Autor ist bestrebt, in allen Publikationen die Urheberrechte der verwendeten Bilder, Grafiken, Tondokumente, Videosequenzen und Texte zu beachten, von ihm selbst erstellte Bilder, Grafiken, Tondokumente, Videosequenzen und Texte zu nutzen oder auf lizenzfreie Grafiken, Tondokumente, Videosequenzen und Texte zurückzugreifen.

2. Keine Abmahnung ohne sich vorher mit mir in Verbindung zu setzen.

Wenn der Inhalt oder die Aufmachung meiner Seiten gegen fremde Rechte Dritter oder gesetzliche Bestimmungen verstößt, so wünschen wir eine entsprechende Nachricht ohne Kostennote. Wir werden die entsprechenden Grafiken, Tondokumente, Videosequenzen und Texte sofort löschen, falls zu Recht beanstandet.