Sonntag, 25. Juni 2023

Der göttliche Wahnsinn - Er machte die antiken Griechen erst zu dem, was sie waren

Sokrates, Platon und Nietzsche hielten das für plausibel
- Wir halten es auch für plausibel. 
Denn war es nicht mehr als Wahnsinn, als Mittelmeer-Mensch dem Apoll folgen zu wollen ...? Also: göttlicher Wahnsinn?
- Und kann es nicht allein ein solcher göttlicher Wahnsinn gewesen sein, der die antiken Griechen zu dem machte, was sie waren?
- Diese Erkenntnis aber würde auf eine andere Frage zurück werfen: Welcher Wahnsinn wäre es denn, der uns Heutigen dem alten Hellas wieder nahe bringt oder uns über das alte Hellas hinaus führt?

"Wußten Sie, daß die Tragödien des Aischylos und des Sophokles die perfekte Synthese darstellen zwischen der apollinischen und der dionysischen Kunst - nach der Philosophie von Friedrich Nietzsche?"

Abb. 1: "Tanz der Bacchanten", Gemälde des Schweizer Malers Charles Gleyre (1806-1874) aus dem Jahr 1849 - Museum der Schönen Künste in Lausanne

Nein, das wußten wir nicht. 

Aber indem wir diese Frage lesen - auf Facebook in der Gruppe "Classics for All" (Fb) - erhalten wir eine erwünschte Anregung zur weiteren Auseinandersetzung mit einem der jüngsten, dringenden Fragestellungen hier auf dem Blog: Wie ist die Kultur der antiken Griechen eigentlich entstanden? Aus welchen tieferen Antrieben heraus ist sie zu verstehen? 

Tasten wir uns, ausgehend von dem Eingangszitat, Schritt für Schritt voran. Zunächst: Der soeben erwähnte Tragödien-Dichter Aischylos (525-456 v. Ztr.) (Wiki) hat Griechenland in den berühmten Schlachten von Marathon (490 v. Ztr.) und Salamis (480 v. Ztr.) in eigener Person mit der Waffe in der Hand gegen die Eroberung durch das Großreich der Perser verteidigt. Auffallend, daß manchem in diesem Zusammenhang noch der Name des Spartanerkönigs Leonidas in den Sinn kommt, mit demselben Geschehen aber nicht einen so bedeutenden Tragödien-Dichter in Zusammenhang bringt wie den Aischylos. 

Der Bruder des Aischylos ist in der ersten der beiden genannten Schlachten gefallen. 472 v. Ztr. wurde das Drama des Aischylos "Die Perser" (Wiki) uraufgeführt. Der Verfasser dieser Zeilen hat dieses sogar in der Schule durchgenommen. Es gilt als das älteste erhaltene Drama der Welt. Es behandelt den Untergang der persischen Flotte in der Seeschlacht von Salamis (480 v. Ztr.) aus der fiktiven Sicht des persischen Königshofes. Der Verfasser erinnert sich, daß es beeindruckend war zu erleben, wie sich hier ein Grieche in die Gefühle der Perser bei diesen großen militärischen Niederlagen für die Perser hinein versetzen konnte. Anstatt die - erschütternden - Erfahrungen der eigenen Kultur der letzten zwanzig Jahre zu verarbeiten, die unter anderem die vollständige Evakuierung und Zerstörung der Stadt Athen mit einschloß, verarbeitet er vielmehr die Erfahrungen des überlegenen persischen Gegners. Ob man das nicht eine kühne Geste nennen darf? Ob man das nicht auch "übermütig" nennen darf? 

Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man sich für Augen führt, daß für das Perserreich in diesem Krieg bei weitem nicht so viel auf dem Spiel stand wie für die Griechen. Die antik-griechische Kultur wäre - vermutlich - eine Fußnote der Geschichte geblieben, hätten die Griechen in den Perserkriegen nicht gesiegt.

Aus Schulzeiten war einem aber nicht mehr in Erinnerung geblieben, daß der Dichter selbst Kriegsteilnehmer war und in diesem Krieg seinen eigenen Bruder verloren hatte. Überhaupt bedeutete uns die antik-griechische Kultur in Schulzeiten noch lange nicht so viel wie sie in den ersten Jahren des Studiums für uns an Bedeutung gewonnen hat. 

Aischylos hatte auch schon früh am Dichterwettbewerb der Dionysien teilgenommen. Er war - der späteren griechischen Sage nach - von Dionysos selbst zum Dichter geweiht worden. Wir lesen (Wiki):

Nicht das eigene Handeln, sondern die Taten der durch Frevel und Hybris erzürnten Götter entscheiden das Schicksal des tragischen Helden Xerxes, dessen Volk, die Perser, hier als Schwestervolk gesehen wird.

Wenn ein Drama wie "Die Perser" eine Synthese darstellt zwischen dem dionysischen und dem apollinischen Prinzip, dann wird deutlich, mit was für umfassenden Konzepten man es es hier zu tun hat. Es geht keineswegs nur - sozusagen - um die lustvollen und erotischen Ausschweifungen, die im Kernbereich des dionysischen Prinzips wabern mögen und es geht keineswegs nur um das gemessene, "schöne", ruhevolle, erhabene Maßhalten - auch im Schmerz, das im Kernbereich des apollinischen Prinzips wabern mag (Wiki, GTG). Beide Prinzipien haben nämlich nicht nur zu tun mit dem Umgang mit Lust und Ausschweifung, sondern auch mit dem Umgang mit Schmerz und "maßlosem", erschütternden Leid. Letzterer Umstand gerät leicht aus dem Blickfeld in unserer glückshungrigen und leidmeidenden Gesellschaft: Ich kann maßlos und maßvoll sein im Leid. Ich kann sogar des Wahnsinns teilhaftig werden, sowohl im Glück wie im Leid. 

Abb. 2: Etienne Claude Voysard (1766-1812) "Herbst" (nach Jean-Jacques Bachelier)

Den Worten auf Facebook ist nun das Gemälde beigegeben "Tanz der Bacchanten" des Schweizer Malers Charles Gleyre (1806-1874) (Wiki) aus dem Jahr 1849 (Abb. 1, 3). Und indem man diesem Gemälde nachgeht, kommt man unerwarteterweise gleich noch viel tiefer in unsere Fragestellung hinein. Wo man auch nur ein bisschen in der lockeren Erde der kulturellen Überlieferung stochert, sprudeln sogleich die Quellen. Was für eine herrliche Fragestellung. Zunächst: Gleyre ist 23 Jahre älter als der deutsche Maler Anselm Feuerbach. Anselm Feuerbach verehren wir schon seit Jahren. Seine Kunst war ebenfalls an dem antiken Griechenland und der Auseinandersetzung mit ihm orientiert. Durch die Gemälde beider fühlen wir uns in ähnliche Stimmungen und auch gedankliche Auseinandersetzungen versetzt. Beider Anliegen ist eine Interpretation, ein Verständnis der antik-griechischen Kultur, eine "Wiederbelebung" in ihrer eigenen Zeit. Und was für begeisternde Worte lesen wir nun nur allein als Erläuterung zu dem Gemälde "Tanz der Bacchanten" von Gleyre (s. Wiki) (1):

... Die Bacchanalien sind ein beliebtes Motiv in der Kunst seit den Tagen von Tizian und Poussin. Hier aber sind Bacchus, Silenus und die Satyren noch nicht einmal anwesend. Das Gemälde ist deshalb nicht mythologisch und auch nicht fabulierend. Es ist vielmehr historisch und religiös. Gleyre malt ein geheimnisvolles, wildes und ausschließlich weibliches Ritual, das in sehr präziser Zeichenkunst und in einer glatten Technik festgehalten wird, wodurch das erzeugt wird, was ein Kritiker den seltsamen Effekt nennt einer "Choreografie, die sowohl edel als auch ungezügelt, rasend und rhythmisch ist".
In den Fußstapfen von A l'instar de Pentheus repräsentiert "Der Tanz" eine in den 1830er Jahren neue populäre Lesart zu den Wurzeln der antiken griechischen Zivilisation in ihren religiösen Ritualen. Im Gegensatz zur sonnenhaften, männlichen und apollinischen Sichtweise, die von Winckelmann seit der Mitte des 18. Jahrhunderts entworfen worden war, legt Gleyre das Augenmerk auf das primitive, östliche und dionysische Griechenland wie es sich in den Arbeiten des Philologen und Historikers Friedrich Creuzer dargestellt findet.
Die aus der Antike stammenden Motive boten dem Maler Gelegenheit zu einer persönlichen und ungewöhnlichen Betrachtung der Ursprünge der Künste, wobei jegliche Bezugnahme auf Apollo oder Orpheus vermieden wurde. Im von den Bacchantinnen erfundenen Tanz, in der Musik, die Minerva den Tieren vorspielt, in der Kunst des Spinnens, die die schöne Omphale dem absurden Herkules beigebracht hat, und in den von Sappho verfaßten Liebesgedichten - das Geheimnis der Künste scheint den Frauen vorbehalten zu sein, erworben durch eine geheimnisvolle und intuitive Affinität mit den göttlichen Kräften der Schöpfung. 
The Dance of the Bacchantes, the last painting by Gleyre exhibited publicly in Paris (at the Salon of 1849), came as a surprise to enthusiasts of bacchanals, which had been a traditional subject since the days of Titian and Poussin. Bacchus, Silenus and the satyrs are all absent, and the painting is therefore neither mythological nor fabulous, but rather historical and religious. Gleyre paints a mysterious, wild and exclusively female ritual, captured in very precise draughtsmanship and a smooth technique producing what one critic calls the strange effect of a “choreography, which is both noble and unbridled, frenzied and rhythmic”.
Following in the footsteps of A l'instar de Pentheus, The Dance reveals a new, popularised reading of the roots of ancient Greek civilisation and its forms of worship in the 1830s. Contrary to the solar, masculine and Apollonian vision which had been extolled by Winckelmann since the mid-18th century, Gleyre depicts the primitive, eastern and Dionysian Greece, posited in the works of the philologist and historian Friedrich Creuzer.
Subjects drawn from Antiquity provided the painter with the opportunity for a personal and unusual meditation on the origins of the arts, omitting any reference to either Apollo or Orpheus. In The Dance invented by the Bacchantes, the music played to animals in Minerva, the art of spinning taught to an absurd Hercules by the beautiful Omphale, and the love poetry composed by Sappho - the secret of the arts seems to be the preserve of women, acquired through a mysterious and intuitive affinity with the divine powers of creation.

Wie viel an Inhalten in einem so kurzen Text stehen kann. Ob in diesem Gemälde wirklich vornehmlich die "Ursprünge der Künste" Thema sind, mag dahin gestellt bleiben. Vielleicht hat der Maler auch einfach nur Lust an der Lust gehabt, natürlich auch der Mal-Lust.

Friedrich Creuzer deutet die antik-griechische Kultur (1810)

Immerhin interessant, was zu dem hier erwähnten Georg Friedrich Creuzer (1771-1858) (Wiki) zu erfahren ist. Er war nur ein Jahr jünger als Friedrich Hölderlin, veröffentlichte sein bedeutendstes Werk aber erst als Hölderlin schon im Turm in Tübingen lebte (Wiki):

Creuzers erstes und bekanntestes Werk war "Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen" (1810-12, 2. Aufl. 1819, 3. Aufl. 1837), in dem er behauptete, daß die Mythologie des Homer und des Hesiod aus östlichen Quellen stammen würde, vermittelt durch die Pelasger, und daß sie als Symbole einer uralten Offenbarung aufgefaßt werden könnte. Gedacht waren diese Gedanken als eine Versöhnung mit der jüdisch-christlichen Religion, sie waren - nach den Worten Walter Burkert's (1983) - "der letzte großangelegte und völlig gescheiterte Versuch dieser Art". Creuzers Arbeit stand im Widerspruch zur Ideologie des romanischen Nationalismus, der voraussetzte, daß Literatur und Kultur in sehr enger Verbindung stehen würde mit einem Volk, durch Karl Otfried Müller benannt als das Konzept der "Griechischen Stammeskultur". Für diese und die folgenden Generationen "wurden Ursprünge und organische Entwicklung viel mehr als wechselseitige kulturelle Beeinflussungen der Schlüssel zum Verständnis." Creuzer's Arbeit ist heftig angegriffen worden von Johann Gottfried Jakob Hermann in seinen "Briefen über Homer und Hesiod" und in seinen Briefen, die er an Creuzer gerichtet hat "Über das Wesen und die Behandlung der Mythologie"; durch Johann Heinrich Voss in seiner "Antisymbolik"; und durch Christian Lobeck in seinem "Aglaophamus". Sie hat jedoch auch ein kurzes Lob erfahren in der "Philosophie des Rechts" von Hegel. 
Creuzer's first and most famous work was his "Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen" (1810–12, 2nd ed. 1819, 3rd ed. 1837), in which he maintained that the mythology of Homer and Hesiod came from an Eastern source through the Pelasgians, and reflected the symbolism of an ancient revelation; as a reconciliation with Judeo-Christian religion, it was, Walter Burkert has said, "the last large-scale and thoroughly unavailing endeavor of this kind." This work ran counter to the ideology of romantic nationalism, which held literature and culture to be intimately connected with a Volk, epitomized by Karl Otfried Müller's concept of a Greek Stammeskultur, a Greek "tribal culture". For this and the next generations, "origins and organic development rather than reciprocal cultural influences became the key to understanding." Creuzer's work was vigorously attacked by Johann Gottfried Jakob Hermann in his Briefen über Homer und Hesiod, and in his letter, addressed to Creuzer, Über das Wesen und die Behandlung der Mythologie; by Johann Heinrich Voss in his Antisymbolik; and by Christian Lobeck in his Aglaophamus. It was briefly praised, however, by Hegel in his Philosophy of Right.

Wir erhalten hier einen Blick in die Generationen lang andauernden Bemühungen um ein tieferes Verständnis der Ursprünge und der Herkunft der antik-griechischen Kultur. 

Vor allem aber sehen wir, daß all diese Bemühungen erst jetzt, in den Jahren 2022 und 2023 eine abschließende, befriedigende und schlüssige Klärung gefunden haben, und daß hierdurch - womöglich - auch noch so mancherlei Irrtümer und Fehldeutungen von Walter Burkert richtig gestellt werden können (?). Nämlich durch die Archäogenetik. Friedrich Creuzer hat - so steht zu vermuten - mit viel größerer Deutlichkeit Recht behalten als all seine Kritiker bis heute mögen angenommen haben und als man das überhaupt bislang gewagt hat anzunehmen. Und wieder einmal war es ein einstiger Jugendfreund Hölderlins - Hegel - der diesen Gedankengängen noch am ehesten unter seinen vielen Zeitgenossen folgen konnte. 

Abb. 3: "Tanz der Bacchanten", Gemälde des Schweizer Malers Charles Gleyre aus dem Jahr 1849 - Museum der Schönen Künste in Lausanne (Wiki)

In welchem Gedankenzusammenhang hier die Erwähnung des Pentheus steht, wird uns nicht ganz schlüssig. Aber vollkommen verrückt auch der Mythos rund um diese Gestalt, dieses Königs von Theben (Wiki):

Als Dionysos nach Theben kam und die Frauen zu seinen Ehren auf dem Kithairon (ein Berg zwischen Theben und Korinth) ein bacchantisches Fest feierten, versuchte Pentheus, es zu verhindern und Dionysos, der in der Erscheinung eines Bacchanten aufgetreten war, gefangen zu nehmen, was jedoch mißlang. Schließlich kann Dionysos den schon verblendeten Pentheus überreden, als Frau verkleidet die im Gebirge schwärmenden Mänaden zu belauschen. Als er dort auf den Wipfel eines Baumes stieg, wurde er jedoch entdeckt und von seiner eigenen Mutter und seinen Tanten Ino und Autonoë, die ihn für ein wildes Tier hielten, in bacchantischer Wut zerrissen. Ein Orakel der Pythia wies die Frauen nun an, den Baum wiederzufinden und ihn wie einen Gott zu verehren. Daraufhin wurden aus dem Holz des Baumes zwei Bilder, die Dionysos darstellten, geschnitzt. Diese Bilder sah Pausanias noch bei seinem Besuch in Korinth.

Was für rätselhafte Dinge sich wohl alle noch hinter diesem Mythos verbergen mögen. Man komme Frauen in bacchantischer Wut nicht zu nahe. Man könnte von ihnen zerrissen werden. Sicher ist: In der antik-griechischen Kultur findet sich immer wieder eine Exzentrik, die im Abendland, in Hesperien gewiß nicht zu finden ist. Und da diese Exzentrik auch lange vor Homer schon die Mythen bestimmt zu haben scheint, reicht sie auch vergleichsweise tief in die Kulturgeschichte Griechenlands hinab, anzunehmenderweise doch wohl bis in die Bronzezeit zurück, bis in die mykenische Palastzeit zurück.*)

Nietzsche, der Herrliche

Aber gehen wir nun weiter zu dem eingangs erwähnten Friedrich Nietzsche. Dieser schrieb seine Schrift "Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik" in den Jahren zwischen 1869 und 1871, in den Jahren seiner Wagner-Verehrung. Es ist der Grundgedanke der gesamten Schrift, daß nicht nur die genannten Tragödien, sondern die klassische griechische Kultur insgesamt eine "perfekte Synthese darstellen zwischen der apollinischen und der dionysischen Kunst". Fünfzehn Jahre später und nachdem er 1885 seinen "Zarathustra" in quasi ekstatischer Eingebung in einem großen Zug nieder geschrieben hatte, schrieb er zu seinem älteren Werk in einem Vorwort nun die schönen Worte (Zen):

Wie schade, daß ich, was ich damals zu sagen hatte, es nicht als Dichter zu sagen wagte: ich hätte es vielleicht gekonnt! Oder mindestens als Philologe: - bleibt doch auch heute noch für den Philologen auf diesem Gebiete beinahe alles zu entdecken und auszugraben! Vor allem das Problem, daß hier ein Problem vorliegt, - und daß die Griechen, so lange wir keine Antwort auf die Frage "was ist dionysisch?" haben, nach wie vor gänzlich unerkannt und unvorstellbar sind ...

Oh, wie große Worte. Oh, wie tiefe Worte. Einer, der ein Problem sieht. Endlich. Endlich einmal zu sagen, daß wir so vieles noch gar nicht verstanden haben über die antiken Griechen, noch nicht einmal als Problem erkannt haben! Und Nietzsche ist hier sofort am Kernproblem dran. Was apollinisch ist, können wir verstehen, was dionysisch ist, ist viel, viel schwerer zu verstehen in all seinen Facetten und Ausprägungen. Bei diesem Prinzip stoßen wir immer wieder auf Neues, Unbekanntes - aber Wesentliches, wesentlich, um die antik-griechische Kultur wirklich von allen Seiten her zu verstehen. Und wie schön auch, wenn einer - wie Nietzsche - sich selbst kritisieren kann. Das tut er in diesem Vorwort. Aber man möchte gleich im nächsten Schritt sagen, daß es immer noch zu "abendländisch", zu "hesperisch" gedacht sein mag, wenn Nietzsche in diesem Vorwort von 1885 an den antiken Griechen die Frage richtet (Zen),   

ob wirklich sein immer stärkeres Verlangen nach Schönheit, nach Festen, Lustbarkeiten, neuen Kulten aus Mangel, aus Entbehrung, aus Melancholie, aus Schmerz erwachsen ist?

Oh, nein, da könnten wir gar nicht folgen. Das wäre uns sicherlich viel zu abendländisch, christlich, nüchtern gedacht. Oh nein. Die antiken Griechen haben alles - alles, was sie überhaupt getan haben, aus Übermut getan, aus Emphase getan, aus Lebensfreude getan. Ihnen war noch kein Gallentrank gemischt. Selbst ihr Leid war "unmittelbar" - der Schmerz, der sie innerlich zerreißen konnte, war eine Geburt aus der hohen Freude, die sie lebten, sonst lebten.

Aber, ach, herrlicher Nietzsche! Wenigstens stellst du Fragen, denen nachzugehen sich lohnen könnte. Wenigstens das. Oh, herrlicher Nietzsche wie turmhoch stehst du über all den anderen, die noch nicht einmal mehr Fragen haben. Weil sie jene sind, die du voraus gesehen hast, "Erdflöhe", "letzte Menschen"  ..... - Ach, Nietzsche, herrliche Worte (Zen):

Worauf weist jene Synthesis von Gott und Bock im Satyr? Aus welchem Selbsterlebnis, auf welchen Drang hin mußte sich der Grieche den dionysischen Schwärmer und Urmenschen als Satyr denken?

Weil er dem Apollinischen im Indogermanentum begegnet war. Das ihn auf sich selbst als Satyr hat blicken lassen. Der "gehäutet" werden mußte, um bei Apoll anzukommen. Der aber - zugleich - sich selbst nachtrauerte. Weil er - weiterhin - Sympathie - mit sich selbst - empfand, mit Marsyas, dem Geköpften, dem Gehäuteten. Das wäre unsere Antwort. Vorläufig (Stgen2023).

Abb. 4: Jean-Jacques Bachelier (1724-1806) "Betrunkener Bacchus" oder: "Eingeschlafenes Kind" (1765) - Museum der Schönen Künste in Orléans

Ja, wir möchten Nietzsche mit jenen Worten antworten, die er dann gleich selbst benutzt: Es war Wahnsinn, als Mittelmeer-Mensch, als Marsyas Apoll folgen zu wollen. Und weil es Wahnsinn war, war es - zugleich - so herrlich. Und die Griechen waren sich dieses Wahnsinns - dumpf - bewußt. Sie dachten nicht über ihn nach. Aber im Späthellenismus trat ihnen dieser Wahnsinn - womöglich - noch ein wenig deutlicher vor Augen. Deshalb oft die womöglich noch tiefere seelische Einsicht im Späthellenismus, deshalb die oft noch größere Exzentrik, der "Expressionismus" in der Kunst des Späthellenismus. Dies, um auf Nietzsche zu antworten, der fragt (Zen):

Wie? (...) wenn es gerade der Wahnsinn war, um ein Wort Platos zu gebrauchen, der die größten Segnungen über Hellas gebracht hat?

Ja, genau dieser Wahnsinn war es. Und schon vorher fragte er, fragtest du, herrlicher Nietzsche:

Gibt es vielleicht - eine Frage für Irrenärzte - Neurosen der Gesundheit? der Volks-Jugend und -Jugendlichkeit?

Oh, wir möchten wieder anfangen zu tanzen, mit dir, du großer, weiser Nietzsche. Du bist so jung. Du bist - noch in unserem Zeitalter - so jung. Oder gerade erst in unserem Zeitalter. Du stelltest die richtigen Fragen. Und wir erst - wir erst, haben die Antworten. Erst im Zeitalter des "letzten Menschen" kann man - womöglich - jenen Wahnsinn verstehen, der "Volk-Gesundheit" hervor bringt. Notwendigerweise Volks-Gesundheit. In all dem Wahnsinn, der uns umgibt, gelebt von den Erdflöhen und letzten Menschen.

Ja, wir fühlen uns in diesem Augenblick auch an den Komponisten Richard Strauß erinnert. Nicht daß uns seine Musik auch nur irgend etwas sagen würde. Er hat unserem Zeitalter gerade eben noch nicht jene "Wahnsinns-Musik" geliefert, die für das innere seelische Überleben des modernen Menschen notwendig wäre. Aber immerhin, der heilige Richard Strauß, auch er, hat wenigstens so die eine oder andere Fragestellung verstanden. Warum war er eigentlich nicht noch mehr "Nietzsche"? Um sich der Erdflöhe zu erwehren, die ihn umgaben und die seine Musik in unverständlichen Wirrwarr münden ließen, da er zu sehr auf sie - statt auf seinen eigenen, inneren Tanz - gehört hat (FürKultur2016)?

Sokrates, der Herrliche

Aber gehen wir weiter. Da war gerade Plato erwähnt. Was denn hat Plato über den "göttlichen Wahnsinn" gesagt? In einer Hausarbeit an der Freien Universität Berlin von 2007 lesen wir (1):

Im Phaidros ist es auch, wo Platon zwischen menschlichem und göttlichem Wahnsinn unterscheidet und sagt, die größten Güter kämen von den Göttern durch Wahnsinn.

Was für Worte! Was wir alles über die griechische Antike und ihr Denken noch nicht wissen. Mensch, und sogar die Freie Universität Berlin weiß davon. Schauen wir doch einmal in den "Phaidros" hinein. Da hören wir nun den Sokrates gegenüber dem Phaidros folgendermaßen zum Thema sprechen (das wird jetzt - leider -  ein längeres Zitat, das scheint sich nicht vermeiden zu lassen, zu ungewohnt ist uns die ganze Art zu denken und zu argumentieren) (aber ein fröhlicher Wahnsinn wird uns schon zum Verständnis bringen ...) (Zen):

Denn freilich, wäre es unbedingt richtig, daß der Wahnsinn ein Übel sei, so wäre das schön gesprochen. Nun aber werden uns die größten der Güter durch Wahnsinn zuteil, freilich nur einen Wahnsinn, der durch göttliche Gabe gegeben ist. Denn die Prophetin in Delphoi und die Priesterinnen zu Dodona haben ja vieles und Schönes in besonderen und öffentlichen Angelegenheiten unserer Hellas im Stande des Wahnsinns geleistet, in dem der Besinnung aber noch weniges oder nichts. Und wollten wir noch von der Sibylla und den anderen sprechen, welche, göttlicher Wahrsagekunst mächtig, fürwahr vielen vieles vorausgesagt und für die Zukunft berichtigt haben, so würden wir, doch nur von Allbekanntem sprechend, allzu weitläufig werden. (...) In demselben Maß nun (...) ist nach dem Zeugnis der Alten auch der Wahnsinn edler als die Besonnenheit, der gottgewirkte als die menschlich bedingte. Aber auch von Krankheiten und den größten Mühsalen,
"Von dem, was etwa altem Götterzorn entsprang
In einzelnen Geschlechtern,"
hat ein in diesen auftretender und das Verborgene enthüllender Wahnsinn den Bedürftigen Erlösung erfunden, indem er, zu Gebeten und Götterverehrungen seine Zuflucht nehmend und durch ihre Vermittlung in den Besitz von Reinigungen und heiligen Weihungen gekommen, den von ihm Berührten sowohl das jetzige als das künftige Leben sühnte und so für den in echter Weise Wahnsinnigen und Besessenen eine Lösung von seinen jetzigen Leiden erfand. Die dritte Art von Begeisterung und Wahnsinn ist die von den Musen, die, wenn sie eine zarte und unentweihte Seele ergreift und zu Festgesängen und anderer Dichtung aufregt und entzückt, tausend Taten der Alten verherrlichend, die Nachkommen bildet. Wenn aber einer ohne diesen Musenwahnsinn zu den Pforten der Dichtkunst kommt, in der Überzeugung, er könne auch wohl durch Kunst ein guter Dichter werden, der wird teils selber als ein Ungeweihter erachtet, teils wird seine Dichtung als die des Besonnenen von der der Wahnsinnigen verdunkelt.
So vieles und mehr noch habe ich dir zu sagen von den edeln Taten eines von Göttern kommenden Wahnsinns. Daher wollen wir uns gerade davor ja nicht fürchten, noch soll uns eine gewisse Rede verwirren, die uns mit der Behauptung verblüffen will, daß man den besonnenen Freund dem Gottbewegten vorziehen müsse; nein, dann erst soll sie den Siegespreis davon tragen, wenn sie zu jenem noch dieses erwiesen hat, daß nicht zum Heil dem Liebenden und dem Geliebten die Liebe von Göttern gesendet werde. Hinwiederum aber haben wir das Gegenteil zu beweisen, daß zum größten Segen solcher Wahnsinn von Göttern verliehen werde. (...) Zuvörderst nun muß man über die Natur der Seele, die göttliche sowohl als die menschliche, indem man teils ihre Leiden, teils ihr Tun ins Auge faßt, das Wahre begreifen. 

Und nun setzt Sokrates - nach Platon - zu einem Bild an, wie die Menschenseele ursprünglich (vor unserer Geburt) die "jenseitige" Welt der Götter gesehen hat, daß sie dann in die "diesseitige" Welt der Menschen hinab gestiegen ist und sich hier - unter günstigen Umständen - an ihr früheres Leben in der jenseitigen Welt an der Seite der Göttern erinnern kann:

Von dem Diesseitigen sich an jenes (Jenseitige) wieder zu erinnern, ist nicht leicht für jede (Menschenseele): nicht für diejenigen, die damals das Jenseitige nur flüchtig sahen, noch für diejenigen, die, hierher herabgefallen, Mißgeschick hatten, so daß sie, durch irgendwelche gesellschaftliche Verbindungen zum Unrecht verleitet, das Heilige, das sie damals gesehen, vergessen haben. Wenige fürwahr bleiben übrig, denen das Vermögen des Erinnerns noch in genügendem Maße zu Gebot steht. Diese aber, wenn sie irgend ein Abbild des Jenseitigen sehen, werden gewaltig aufgeregt und sind ihrer selbst nicht mehr mächtig. (...) Die Schönheit aber war damals leuchtend zu sehen, als mit dem beglückenden Reigen wir im Gefolge des Zeus, andere in dem eines anderen der Götter eines seligen Anblicks und Schauens genossen, und als wir in diejenige der Weihen eingeweiht waren, welche die seligste zu nennen heilige Pflicht ist, und die wir feierten, selbst noch fehllos und unberührt von den Übeln, die in späterer Zeit auf uns warteten, dabei aber fehllose und lautere und wandellose und beglückende Gesichte mit geweihtem und priesterlichem Auge in reinem Glanze schauend, als Reine selbst und nicht eingekerkert in diesen Körper, wie wir das jetzt nennen, was wir mit uns, der Auster gleich angebunden, herumtragen. (...)
Zwar nun (...) wer dem Verderben schon verfallen, den zieht es nicht mit scharfem Drange von hier nach dort zu der Schönheit selbst, wenn er schaut, was hienieden ihre Benennung trägt. Sein Anblick stimmt ihn daher nicht zur Verehrung; sondern der Lust fröhnend, sucht er nach tierischer Art den Trieb des Geschlechts und der Begattung zu befriedigen und fürchtet und schämt sich nicht, der Lust in zügelloser Annäherung wider die Natur nachzujagen. Wer aber noch frisch geweiht ist und das Damalige vielfältig geschaut hat, der, wenn er ein gottähnliches, die Schönheit wohl abbildendes Antlitz sieht oder eine solche Körpergestalt, wird zuerst von Schauer ergriffen, und es überkommt ihn etwas von den damaligen Beängstigungen; sodann aber, wenn er es anblickt, verehrt er es wie einen Gott, und fürchtete er nicht den Schein eines übermäßigen Wahnsinns, er würde gar dem Liebling opfern wie einem Götterbild und einem Gott. Nun er ihn aber gesehen, ergreift ihn, wie nach dem Fieberschauer, eine veränderte Stimmung, Schweiß und ungewohnte Hitze. Indem er nämlich durch die Augen den Ausfluß der Schönheit in sich aufnimmt, wird er von einer Erwärmung durchdrungen, in deren befeuchtendem Zug die Keimkraft des Gefieders sich löst. Infolge dieser Erwärmung aber schmilzt um den Keim desselben das, was vorlängst in Härte sich zusammenschließend ihn zu sprossen verhindert hat. Indem aber nun Nahrung zuströmt, schwillt und strebt aus der Wurzel hervorzukeimen des Gefieders Kiel um die ganze Gestalt der Seele; denn ehedem war sie ganz befiedert! Dabei nun pocht und gärt ihr ganzes Wesen, und was das Leiden der Zahnenden mit den Zähnen ist, wenn sie zuerst hervorbrechen, ein Jucken und Stechen im Zahnfleisch, dasselbe fürwahr leidet die Seele dessen, dem das Gefieder zu keimen anfängt; es pocht und juckt und kitzelt sie, indem ihr das Gefieder keimt. Zwar nun, wenn sie auf die Schönheit des Lieblings blickt und die von dieser sich losreißenden und zur Liebe reizenden Teile, welche ja deshalb Liebreiz genannt werden, wenn sie, sage ich, diesen Liebreiz in sich aufnehmend, von jenem lösenden Wärmezug durchströmt wird, so erholt sie sich vom Schmerz und fühlt sich wohl. Wenn sie aber einsam ist und vertrocknet, so dorren die Ränder der Öffnungen da, wo das Gefieder hervorbricht, zusammen und sperren, sich verschließend, den sprossenden Trieb des Gefieders ab. Dieser aber, innen mit dem Liebreiz abgesperrt, hüpft nun gleich dem Aderschlag und sticht gegen jedwede Öffnung, auf die er trifft, so daß die ganze Seele ringsum gestachelt rast und voll Schmerzen ist. Weil sie aber die Erinnerung des Schönen in sich trägt, fühlt sie sich auch wieder wohl. Indem aber so die Eindrücke von beidem sich mischen, wird ihr unheimlich über der Seltsamkeit dieses leidenschaftlichen Zustandes, und da sie sich nicht zu helfen weiß, gerät sie in Wut, und wahnsinnig, wie sie ist, kann sie weder bei Nacht schlafen, noch bei Tag bleiben, wo sie auch sein mag, läuft aber sehnsuchtsvoll überall hin, wo sie den sehen zu können meint, der die Schönheit besitzt. Sobald sie ihn aber sieht und sich neuen Liebreiz zuleitet, löst sie das vorhin Zusammengeschrumpfte auf, und wieder Atem schöpfend, entledigt sie sich der Stacheln und Schmerzen und genießt wieder im jetzigen Augenblick jene süßeste Lust. Deswegen verläßt sie ihn auch freiwillig nicht, noch schätzt sie jemanden höher als den Schönen: sondern Mutter und Brüder und alle Genossen vergißt sie und schlägt es für nichts an, wenn Hab und Gut fahrlässigerweise verloren geht; unbekümmert aber um Bewahrung von Sitte und Anstand, womit sie sonst sich zierte, ist sie bereit, ein dienstbares Leben zu führen und, wo er es irgend gestattet, nur so nahe als möglich bei dem Gegenstand ihrer Sehnsucht zu ruhen. Denn neben dem, daß sie von Verehrung erfüllt ist, findet sie auch in ihm, der die Schönheit besitzt, allein einen Arzt für die größten Mühsale. Diesen leidenschaftlichen Zustand aber, o schöner Knabe, an den ja meine Rede gerichtet ist, heißen die Menschen Eros; hörst du aber, wie ihn die Götter nennen, so wirst du mit Recht ob dem jugendlichen Mutwillen lachen. Es sagen nämlich, meine ich, einige der Homeriden aus den geheimen Gesängen zwei Verse auf den Eros, von denen der zweite sehr ausgelassen und nicht eben wohllautend ist. Sie singen nämlich:
"Den nun nennen die Sterblichen zwar den geflügelten Eros,
Pteros aber die Götter vom Sinnbetörenden Flattern."
Diesem nun kann man Glauben schenken oder auch nicht; jedenfalls aber verhält es sich wirklich in jener Weise mit dem leidenschaftlichen Zustand der Liebenden und der Ursache davon.

Später faßt Sokrates, bzw. Platon seine Lehre noch einmal zusammen:

Den göttlich bewirkten Wahnsinn aber haben wir dann nach vier Göttern in vier Teile geteilt, indem wir
  • die wahrsagerische Eingebung dem Apollon zueigneten,
  • dem Dionysos aber die die Weihen betreffende, 
  • ferner den Musen die dichterische, 
  • die vierte aber der Aphrodite und dem Eros; 
sodann haben wir gesagt, der erotische Wahnsinn sei der beste, und, den erotischen Zustand ich weiß nicht womit vergleichend, vielleicht dabei etwas Wahres berührend, möglicherweise aber auch nach anderer Richtung hin falsch geführt, haben wir eine ganz und gar nicht überzeugungsunkräftige Rede zubereitet und einen mythischen Hymnos mit Anstand und in frommer Weise spielend angestimmt deinem und meinem Gebieter, dem Eros, o Phaidros, dem Aufseher schöner Knaben!

Indem wir diese Ausführungen des Sokrates zum göttlichen Wahnsinn zur Kenntnis nehmen, beschließen wir vorerst einmal diesen Blogartikel. Genug ist gesagt. 

Abb. 5: Blick ins Ilissos-Tal und auf die Akropolis von Athen, um 1900 - Heute ist das Tal viel mehr bewaldet (natürlich auch bebaut) als es um 1900 war - Dort im Tal unter einer Platane fand das philosophische Gespräch statt zwischen Sokrates und Phaidros, von dem wir Ausschnitte bringen

Wohl hast du geredet, Sokrates unter der Platane gelagert am Ilissos (Wikiengl) beim Zirpen der Zikaden und einem kühlenden Luftzug.

Anhang: Zu kulturgeschichtlichen Hintergründen

Ergänzungen zu den bisherigen Ausführungen (26.6.23): Womöglich lohnt sich auch noch einmal ein Blick in Werke des oben zitierten Religionshistorikers Walter Burkert (1931-2015) (Wiki) (3). Er hat - zu unserer Überraschung - auch Fragestellungen der Klassischen Verhaltensforschung (nach Konrad Lorenz) sowie Fragestellungen der Soziobiologie an die griechische Religionsgeschichte herangetragen (4). Da hätte er sicher auch ein gutes Gespür gehabt für die Bedeutung der heutigen Erkenntnisse der Archäogenetik zum Gesamtverständnis der antik-griechischen Kultur. Vielleicht hätte er mit diesen sein harsches Urteil über Friedrich Creuzer revidiert (?).

Nun, der oben erwähnte Hegel und Friedrich Creuzer hatten sich gegenseitig persönlich an der Universität Heidelberg in den Jahren 1816 und 1818 kennen und schätzen gelernt. Hegel hat auch viel umfangreicher aus dem Werk Creuzers geschöpft als das im oben gebrachten Zitat anklang (5): 

Hegel hat, wie wir von seinem ersten Biographen Karl Rosenkranz (1805-1879) wissen, Creuzers bei den Zeitgenossen nicht unumstrittene "Symbolik und Mythologie" umfassend exzerpiert und in den betreffenden Teilen seiner Berliner Vorlesungen wiederholt herangezogen. Das Werk diente ihm sowohl als Quellenfundus zur materialen Erschließung der orientalischen und griechisch-römischen Welt als auch - in seinen Vorlesungen über die Ästhetik - als Ausgangpunkt für die konzeptionelle Fassung der symbolischen Kunstform, die Hegel der klassischen und romantischen Kunstform voraufgehen läßt.

Wir lesen gar von "The Creuzerstreit und Hegel's Philosophy of History" (6):

Stewart ist der Meinung, daß Hegel's Verteidigung von Creuzer und die Ähnlichkeiten in ihren Methoden und Projekten uns innehalten lassen sollten und uns die weit verbreitete Bewertung von Hegel's Philosophie der Geschichte neu überdenken sollten.  
Stewart has argued that Hegel's support of Creuzer, and the similarities in their methods and projects, should make us pause to reconsider the widely held view of Hegel's philosophy of history.

Auch dazu also könnten nun insbesondere auch die Erkenntnisse der Archäogenetik Anregung geben. Nämlich die angebliche Europa-Zentriertheit von Hegel's Denken infrage zu stellen.

Friedrich Creuzer und Karoline von Günderrode

Friedrich Creuzer weilte schon 1790/91 in Jena, wo er Schillers Vorlesungen hörte, während Hölderlin erst 1794/95 in Jena weilte. Aber fast war es ja zu erwarten, daß man erfährt, daß auch Friedrich Creuzer nicht nur ein trockener Stubengelehrter war. Und wie wertvoll mag es sein, davon zu erfahren. Wie auch könnte man als bloßer trockener Stubengelehrter irgend etwas Wertvolleres über die antiken Griechen sagen können? Nein, wir erfahren (7):

"Nach der Wiederbegründung der Universität Heidelberg im Jahr 1803 war Georg Friedrich Creuzer als Professor der klassischen Philologie (1804-1845) eine Schlüsselfigur der romantischen Bewegung mit Ausstrahlung weit über den Bereich der Altertumswissenschaft hinaus. Seit 1810 hielt er regelmäßig alle zwei Jahre Vorlesungen über Archäologie, in denen er die gesamte griechische Kunst systematisch behandelte. Seine eigene Sammlung sowie eine von Seminaristen gestiftete Kollektion von Münzen, Gemmen und Abgüssen, das ,Antiquarium Creuzerianum‘, bildete später den Grundstock der archäologischen Universitätssammlung“ - so erinnert noch heute das Seminar für klassische Archäologie Heidelberg im Internet an seine Geschichte. Was wir sonst heute noch über Creuzer wissen, ist seine Freundschaft mit Goethe und Clemens Brentano und daß er eine Liaison mit Karoline von Günderrode hatte, die sich das Leben nahm, nachdem er die Beziehung plötzlich beendet hatte."

Abb. 6: Friedrich Creuzer
Creuzer war nämlich verheiratet mit einer dreizehn Jahre älteren Frau und wollte sich schließlich doch nicht von ihr trennen. Während Karoline von Günderrode (1780-1806) (Wiki) es sich in ihrem Freiheitsdrang schwer vorstellen konnte, Professoren-Gattin zu werden. Und so hat die Liebe zu Friedrich Creuzer für das Leben der Karoline von Günderrode lebensentscheidende Bedeutung gehabt. Sie nahm sich 1806 das Leben, fünf Jahre vor Heinrich von Kleist, und mit nur 26 Jahren.

An Creuzer hatte Karoline zuvor geschrieben (Gutenb):

"Mit Freude denk ich oft zurück an den Tag, an welchem wir uns zuerst fanden, als ich Dir mit einer ehrfurchtsvollen Verlegenheit entgegentrat wie ein lehrbegieriger Laie dem Hohenpriester. Ich hatte es mir vorgesetzt, Dir womöglich zu gefallen, und das Bewußtsein meines eigenen Wertes wäre mir in seinen Grundfesten erschüttert worden, hättest Du Dich gleichgültig von mir abgewendet; wie es mir aber gelang, Dich mit solchem Maße für mich zu gewinnen, begreife ich noch nicht; mein eigner Geist muß bei jener Unterredung zwiefach über mir gewesen sein. Mit ihr ist mir ein neues Leben aufgegangen, denn erst in Dir habe ich jene wahrhafte Erhebung zu den höchsten Anschauungen, in welchen alles Weltliche als ein wesenloser Traum verschwindet, als einen herrschenden Zustand gefunden. In Dir haben mir die höchsten Ideen auch eine irdische Realität erlangt. Wir andern Sterblichen müssen erst fasten und uns leiblich und geistig zubereiten, wenn wir zum Mahle des Herrn gehen wollen, Du empfängst den Gott täglich ohne diese Anstalten."

Und an wen solche Liebesbriefe geschrieben werden, dessen theoretische Ansätze erhalten durch diese eine ganz andere Beleuchtung, ein ganz anderes Leben. 

Über diese theoretischen Ansätze ist noch zu erfahren (7):

Den spezifischen Ansatz von Creuzer erhellt ein Aufsatz, den er 1808 in den Heidelberger Jahrbüchern veröffentlichte. Dieser Ansatz läßt sich auf drei Thesen bringen: die griechische Kultur ist auf den Mythos gegründet; diese Mythen müssen mit den indischen zusammengesehen werden; man muß sie mit Hilfe der neuplatonischen Philosophie symbolisch auslegen. (...) Vor Homer gab es eine „orphisch[e] Religion“ in Vorderasien, wo „der ewige Naturgeist“ herrschte und Priester als Erzieher wirkten (z. B. in Ägypten und im Orient). Mit Homer gerät diese vorderasiatische Religiosität in Vergessenheit, „die Ungenügsamkeit ältester Göttersymbolik wird gefügt unter Griechisches Maß.“

Das apollinische Prinzip begegnet dem dionysischen. 

Menschen ohne indogermanische Steppengenetik wollten noch bessere Indogermanen sein als die Indogermanen selbst

(Ergänzung 1.7.23) Diese religionsgeschichtliche Unterscheidung zwischen "vor Homer" und "nach Homer" findet sich übrigens ähnlich auch noch bei Nietzsche. Auch Nietzsche geht davon aus, daß Dionysos erst nach den Zeiten des Homer in Griechenland an Popularität gewonnen hätte (und daß die Apollons-Priesterschaft auf diese Popularität klug "reagiert" hätte) (WikiGTG). In der heutigen Forschung geht man aber viel eher - und plausibler - davon aus, daß sowohl Apoll wie Dionysos Götter sind, die - vermutlich aus dem nördlichen Griechenland oder aus Thrakien kommend - jedenfalls schon in der Bronzezeit in Griechenland selbst heimisch waren.

Bevor aber die Indogermanen um 2.200 v. Ztr. nach Griechenland gekommen sind, hat es dort schon kulturelle - und offenbar auch genetische - Einflüsse einer Händler-Elite aus dem Bereich der Oberläufe von Euphrat und Tigris gegeben (vergleichbar einem parallelen Geschehen auf Sardinien) - also aus dem Kernland des damaligen Orient. Griechenland lag also im Kreuzungspunkt sehr verschiedener, sich geltend machender kultureller Großräume. Man könnte also sagen, daß die vorindogermanischen Griechen an diesen wechselnden "Bekehrungsversuchen" zuerst von Süden her und dann von Norden her am Ende vollends irre an sich selber wurden. Erst sollten sie "orientalisiert" werden, dann sollten sie "indogermanisiert" werden.

Aus den Wechselbädern solcher Gefühle könnte dann aber jene fast bewußt durchgestaltete, durchgeformte Entschiedenheit in der Ausrichtung auf das Göttliche gefolgt zu sein, die für die antik-griechischen Kultur der klassischen Zeit so kennzeichnend ist. 

Abb. 7: Geradezu Jugendstil-mäßig stilisiert - und deshalb hochmodern - Eine 2015 entdeckte, 3.500 Jahre Kampfdarstellung auf einem 3,4-Zentimeter langen Siegelstein aus dem Grab des Greifenkriegers in Pylos in Westgriechenland, 1450 v. Ztr. (Wiki), der noch keine indogermanische Steppengenetik aufwies

Aber doch offensichtlich auch schon für die griechische Kultur der mykenischen Zeit. Denn man betrachte doch nur dazu den berühmten, erst 2015 entdeckten Siegelstein des Greifen-Kriegers von Pylos in Westgriechenland aus der Zeit um 1450 v. Ztr. (Abb. 7). Dieser atmet nichts mehr als den Geist der Entschiedenheit und der unbesiegbaren Entschlossenheit (Stgen2019).

Und sein Träger wies auffallender Weise noch gar keine indogermanische Steppengenetik auf, während andere Menschen an seinem Hof, an seinem Palast diese durchaus schon aufwiesen  (Stgen2022). Dieser Siegelstein allein schon könnte Ausdruck all dessen sein, was sich während der Bronzezeit in Griechenland an innerem seelischen Geschehen vollzog. Man könnte vermuten: Menschen ohne indogermanische Steppengenetik wollten noch bessere Indogermanen sein als die Indogermanen selbst. Und formten deshalb in diesem ihren Sein eine Entschiedenheit und Entschlossenheit aus, die Indogermanen in anderen kulturellen Zusammenhängen sonst in einer solchen Entschiedenheit nicht - oder viel seltener - aufzeigen.

Daß ihnen aus dieser Entschiedenheit heraus Apollon ebenso dienlich sein konnte wie Dionysos versteht sich dabei dann ganz von selbst und bedarf keiner weiteren Erklärung mehr.

____________

*) Ergänzung 8.1.2024: Schon im Juli 2023 haben wir uns mit Euripides beschäftigt und dabei erfahren, daß der hier behandelte Mythos rund um Pentheus und Dionysos als Inhalt der letzten Tragödie des Euripides "Die Backchen" gewählt worden ist (Stgen2023). Auch Aischylos soll eine Tragödie mit diesem Inhalt geschrieben haben. Aber diese ist verloren. Die Tragödie des Euripides hat, wir wir dort erfuhren, schon vielfältige Deutungen erfahren. Nun aber, im Januar 2024, studieren wir einen außergewöhnlich aufwühlenden Aufsatz aus dem Jahr 1963 von Peter Szondi, und zwar über Hölderlins bedeutende Dichtung "Wie wenn am Feiertage" (8).
Und durch diesen werden wir erst darauf aufmerksam, daß von Hölderlin selbst auch eine Übersetzung eines kürzeren Ausschnitts aus den "Backchen" des Euripides erhalten ist, und zwar sein Anfang, und daß der darin erwähnte Mythos rund um die Zeugung des Dionysos durch einen Blitz des Zeus das tiefer liegende Bild dieser ganzen Dichtung darstellt, das Bild, von dem aus diese Dichtung erst - und mit ihr das gesamte Spätwerk Hölderlins - seine angemessene, noch tiefere Sinndeutung erhält. Das war uns zuvor in dieser Dimension nicht bewußt.
Immer mehr wird einem durch solche Dinge bewußt, daß den Wesenszug des Dionysischen in der griechischen Kultur - und womöglich in aller Kultur - niemand so tief und grundlegend gedeutet worden ist als durch Hölderlin. Schon in der mehrfachen Bezugnahme innerhalb seines Werkes auf den Künstler-Roman "Adringhello" von Heinse ist dieser Wesenszug des Dionysischen in vollstem Ausmaß angesprochen. Und er klingt wieder und wieder heraus vor allem im Spätwerk Hölderlins. Szondi schreibt (8, S. 36):

... Der Blitz, das "himmlische Feuer". Hölderlin hat von ihm in einem Brief an seinen Freund Böhlendorf gesagt: "Unter allem, was ich schauen kann von Gott, ist dieses Zeichen mir das auserkorene geworden."     

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  1. Matthew Innis: Charles Gleyre: The Reformed Romantic. Underpaintings Magazine, July 30, 2016.
  2. Grzegorz Olszowka: Platon und der göttliche Wahnsinn. GRIN Verlag, München 2007 https://www.grin.com/document/89309
  3. Burkert, Walter: Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche. Kohlhammer, 1977 (508 S.) (Zitat zu Creuzer: S. 22)
  4. Burkert, Walter: Kulte des Altertums. Biologische Grundlagen der Religion. C. H. Beck, München 1998
  5. Glatz, Uwe B. (2015): Brief Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) an Friedrich Creuzer (1771–1858) vom 30. Oktober 1819. Jena: Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek. (= Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena - Objekt des Monats). Online unter: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:gbv:27-dbt-20220831-102736-001.
  6. Nicholas A. Germana: The Creuzerstreit and Hegel's Philosophy of History. In: Journal of the History of Ideas (University of Pennsylvania Press) Volume 80, Number 2, April 2019, pp. 271-288, 10.1353/jhi.2019.0015, https://muse.jhu.edu/article/722381
  7. Christoph Jamme: „Göttersymbole“ - Friedrich Creuzer als Mythologe und seine philosophische Wirkung in Mythos als Aufklärung. In: Mythos als Aufklärung Dichten und Denken um 1800 Brill 2013, S. : 199-210, DOI: https://doi.org/10.30965/9783846755532_015
  8. Szondi, Peter: Der andere Pfeil. Zur Entstehungsgeschichte von Hölderlins hymnischem Spätstil. Insel, Frankfurt am Main 1963; auch enthalten in: Szondi, Peter: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1967, 1970

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