Dienstag, 30. Mai 2023

Marsyas - oder: Der feurige Ehrgeiz der antiken Griechen

Eine Deutung der antiken Griechen durch Friedrich Nietzsche
- Ein Blick in die antik-griechische Volksseele
- Die größte Stärke des antik-griechischen Volkes war womöglich zugleich seine größte Schwäche - an der es schließlich untergegangen ist: Der Ehrgeiz im Wettkampf, der Neid und die Vermessenheit im Erfolg
- Die größte Stärke und größte Schwäche von uns Abendländern könnten andere sein

Die antik-griechische Volksseele ist in weiten Teilen noch völlig unerforscht. Das heißt, die Gesetzmäßigkeiten und die Grundkräfte, aus denen heraus die antik-griechische Kultur gelebt hat, aus der heraus ihre kulturschöpferische Begabung zu verstehen ist. Wenn man erst einmal einen Einblick in diese Thematik genommen hat, wird einem das erst bewußt - nämlich als Fragesstellung, als Problem. Und zwar von unermeßlichen Dimensionen. Wir hatten schon - mit Hölderlin - danach gefragt: Was unterscheidet den "südlichen Menschen" des antiken Griechenland von dem "hesperischen Menschen", dem "Abendländer" des Nordens (Stgen2023)? Und zwar auf einer grundlegenden Ebene, auf einer Ebene, aus der heraus künstlerisches, kulturelles Schaffen möglich wird.

Bei Hölderlin fanden wir eine erste Antwort. Bei Friedrich Nietsche finden wir nun noch eine weitere Antwort, die weit über Hölderlin hinaus geht, ihn vielleicht aber auch zusätzlich deutet und ergänzt (1).

Marsyas

Zunächst waren wir bei einer Zusammenstellung von antik-griechischen Porträts (WikiC, WikiCo) (für einen noch unveröffentlichten Beitrag) auf eine Skulptur des Marsyas (Wiki) (Abb. 1) gestoßen. Auf eine nicht genau zu bestimmende Weise kann sie einen irgendwie ansprechen. Es gibt ja viele, sehr eindrucksvolle Porträts der damaligen Zeit. Aber das, was dieses Porträt sagt, findet man so nicht so leicht in anderen wieder. Aber was es einem eigentlich sagt, will einem auf den ersten Blick gar nicht aufgehen. Nur daß es etwas zu sagen hat.

Abb. 1: Kopf des Flußgottes Marsyas - Nach einem Original aus der Zeit zwischen 150 und 100 v. Ztr. - Gefunden 1867 in den Bädern des Caracalla, Altes Museum Berlin (Wiki) (Fotografiert von Ophelia2)

Erst wenn man sich mit dem Mythos rund um Marsyas (Wiki) beschäftigt, bekommt man eine Ahnung davon, was dieses Porträt aussagen könnte, so wie es aus unbewußten, unterbewußten oder bewußten Triebkräften des (unbekannten) Künstlers heraus geschaffen worden sein mag: Ein Satyr und Flußgott, der es gewagt hat, in einen musischen Wettstreit mit Apollon zu treten und der von diesem dafür grausam bestraft worden ist, der von ihm bei lebendigem Leibe gehäutet worden ist. Eine Idylle, die sich in Entsetzen wandelt. Man ist schlichtweg nur entsetzt. 

Läßt man diesen Mythos eine Weile in sich nachwirken, bekommt man womöglich auf den zweiten Blick eine Ahnung, daß dieser einen tiefen Blick werfen lassen könnte in die antik-griechische Volksseele überhaupt.

Denn schon in der Antike gab es vielfältige, eindrucksvolle Darstellungen von diesem Flußgott und Satyr, der die von der Göttin Athena weggeworfene Flöte fand und sich vermessen hat, mit Hilfe derselben in einen musikalischen Wettstreit mit dem Gott Apollon zu treten und mit der von diesem gespielten Kithara, und der dafür, nachdem Apollon nur mühsam hatte siegen können, nämlich unter Zuhilfenahme seines Gesanges, bei lebendigem Leibe gehäutet worden ist. Was für eine Rache. Warum? Es ging doch nur um Musik. Der Neid der Götter eben ....? Der sehr menschlich anmutende?

Die Vielfalt der künstlerischen Auseinandersetzung mit dieser Thematik und mit dieser mythologischen Figur über die Jahrhunderte hinweg macht deutlich, daß diese Figur die antik-griechische Volksseele "umgetrieben" hat. Dasselbe möchte man aus jenem Kopf des Marsyas ablesen, der uns zuerst aufgefallen war (Abb. 1). Man liest so viel Zustimmung zu diesem Marsyas in diesem Porträt, so viel Sympathie für ihn, so viel Ergriffenheit. Man ahnt die vollumfängliche Zustimmung des Künstlers zum Gesamtgeschehen rund um Marsyas. Er sieht die Notwendigkeit seines Schicksals ein. Er ist ergriffen von diesem Marsyas, der es ein wenig unüberlegt gewagt hat, einen Gott herauszufordern. Und zwar nicht irgendeinen Gott. Sondern ausgerechnet Apollon.

Wie gewöhnlich ist es bei den antiken Griechen bei ihrer lebhaften und lebendigen Auseinandersetzung mit ihren religiösen und mythologischen Überlieferungen auch zu unterschiedlichen Deutungen und Interpretationen gekommen. Die Deutungen konnten einmal gemessener, mehr "im Rahmen" bleiben, fast schlicht bleiben, einmal exzentrischer sein. Wobei der Mythos selbst und an sich wohl durchaus als exzentrisch aufgefaßt werden kann. Und wobei der Späthellenismus womöglich eher dazu neigte, wieder ein Verständnis für diese Exzentrizität zu gewinnen als das in der klassischen Zeit der Fall gewesen sein mag. Hier eine kleine Auswahl von Auseinandersetzungen:

  • 450 v. Ztr. schuf der Athener Bildhauer Myron die Athena-Marsyas-Gruppe (Wiki) (WikiCom1, 2), die auf der Akropolis aufgestellt wurde, und deren Bekanntheit bis heute kaum hinter seinem freilich noch bekannteren Diskus-Werfer zurück steht (Abb. 2, 3).
  • 340 v. Ztr. entstand in Athen ein Relief zu dieser Thematik (Wiki).
  • Im frühen 3. Jahrhundert v. Ztr. entstand eine weitere Skulptur des Marsyas (WikiCom).
  • Am Ende des 2. Jhrdts. v. Ztr. ebenfalls (WikiCom).

Und so gibt es noch viele weitere Darstellungen von ihm.

Abb. 2: Athena und Marsyas von Myron - Marsias entdeckt die von Athena fortgeworfene Flöte - Nachbildung im Pushkin-Museum in Moskau (Wiki) (Fotografiert von: user:shakko)

In der berühmten, wohlkomponierten Schrift "Symposion" von Platon, einem der Höhepunkte der Philosophiegeschichte der Menschheit, vergleicht Alkibiades, der vergeblich versucht hatte, den Sokrates homoerotisch zu verführen (Wiki),

"die Wortgewalt des Sokrates mit der Wirkung der Aulosmusik und Sokrates direkt mit Marsyas".

Schon an dieser Stelle wird deutlich, auf welch schmalem Grad zwischen Zustimmung und Ablehnung sich die antiken Griechen gegenüber dem Flußgott und Satyr Marsyas und der ganzen Wesensart bewegten, die er verkörperte. Man war geneigt, auch den Sokrates in einer Tradition mit diesem Marsyas zu sehen - und das wurde nicht zwangsläufig als eine Beleidigung oder Herabsetzung erachtet. Im Gegenteil. Immerhin weisen ja auch antike Porträts des Sokrates (WikiCom) mancherlei Ähnlichkeit auf mit dem hier gebrachten Porträt des Marsyas (Abb. 1). Dieser schmale Grad in Zustimmung und Ablehnung scheint uns auch aus vielen anderen künstlerischen Auseinandersetzungen mit Marsyas zu sprechen (z.B. Abb. 2 und 3). 

War es nicht womöglich einfach so: In diesem Marsyas sahen die antiken Griechen sich selbst? In ihrer ursprünglicheren, "unverfälschteren" Form?

Den Griechen war es bewußt, daß naturhafte Musik und Triebhaftigkeit, wie sie von Satyren verkörpert werden konnte, gerne einmal von einem ihrer Hochgötter Apollon grausam bestraft werden konnten. Das hielt sie nicht davon ab, dieser naturhaften Musik und Triebhaftigkei Hochachtung entgegen zu bringen. So viel Menschlichkeit und Unmenschlichkeit in einem mythologischen Bild zugleich! Und zwar auf den Seiten beider, auf der Seite des "tierhaften" Marsyas ebenso wie auf Seiten des "hochkultivierten" Apollon. Eine Dialektik zwischen beiden in doppeltem Sinne!

Spiegelt sich nicht genau darin ein Grundzug der antik-griechischen Kultur?

Anhand dieses Marsyas kann man sich klar machen, daß die antiken Griechen die zügellose, ungehemmte Lust und wilde Leidenschaft, die die Satyren verkörperten, nicht nur anhand der Dionysos-Figur thematisiert haben, sondern daß das Thematisieren wilder Leidenschaft, Triebhaftigkeit und Gesetzlosigkeit überhaupt in der griechischen Kunst und Philosophie eingebettet war, und zwar zugleich in dem Wissen darum, daß solche - gegebenenfalls -  von dem Gott Apollon bei Gelegenheit würde "gehäutet" werden können, und daß sich die Göttin Athene - wie von Myron dargestellt - in Schamhaftigkeit von ihr würde abwenden können (Abb. 2, 3). Und zugleich in Zustimmung zu all diesem Geschehen. Obwohl es sie, die Griechen, selbst betraf, dieses "Häuten" bei lebendigem Leibe.

Für die antiken Griechen war eben diese Dialektik zwischen naturhafter, wohltönender Triebhaftigkeit einerseits und gemessenem Maß und Selbstbeherrschung andererseits etwas durchgängig Mitgedachtes in allem mythischen Denken, sowie künsterlischen und philosophischen Schaffen, und zwar offenbar von Anfang an in sehr nuancierten Mischungen. Und zwar wiederum zugleich auch in Mischungen von Ernst und Heiterkeit zugleich.

Wie viel zutiefst Menschliches an sich läßt sich in Auseinandersetzung mit solchem künstlerischen Schaffen thematisieren!

Man wird wohl nicht fehlgehen, in dieser Dialektik einen tieferen Wesenszug der antik-griechischen Kultur überhaupt zu suchen.

Nietzsche

Im weiteren Nachdenken stellt sich die Frage, was eigentlich Friedrich Nietzsche über Marsyas gesagt haben könnte, er, der über den Gegensatz zwischen dem Dionysischen und Apollinischen so viel Bedeutsames zu sagen gehabt hat (Wiki)*).

Und indem wir dieser Frage nachgehen, stoßen wir auf einen uns bislang unbekannten Nietzsche-Aufsatz, in dem wir mit Erstaunen feststellen, daß selbst Nietzsche sich noch entsetzt zeigte von der Grausamkeit der antiken Griechen (1) (Zeno). Entsetzter noch als wir es heute zu sein gewohnt sind, wenn wir - ebenfalls immer einmal erneut erstaunt - auf diesen Umstand aufmerksam werden (z.B.: Stgen2013). 

Abb. 3: Athena und Marsyas von Myron - Marsias entdeckt die von Athena fortgeworfene Flöte - Nachbildung im (Wiki) (Fotografiert von Zserghei)

Aber gerade durch die Archäogenetik - zusammen mit den zahlenmäßig anwachsenden archäologischen Befunden zu Massenmorden an Frauen und Kindern seit dem Neolithikum - haben wir in den letzten Jahren erst eine umfassendere Ahnung bekommen davon, daß jenes "genetic replacement", das in der Völkergeschichte immer einmal wieder beobachtet werden kann, viel mit einer solchen Grausamkeit, mit der physischen Ausrottung und Versklavung ganzer Völker und Stämme zu tun haben könnte, mit Verelendung und Streßzeiten in der Völkergeschichte. Davon handeln viele Blogbeiträge der letzten vier Jahre hier auf dem Blog (hier nur als Beispiel: Stgen2021a, b).

So daß wir es hier mit einem Charakterzug zu tun haben, der nicht nur auf die antiken Griechen zutrifft, sondern mit der Welt seßhafter, Ackerbau treibender Völker insgesamt. Daß in der Völkerwelt der Menschheitsgeschichte sich das Recht des Stärkeren und das Prinzip des Wettkampfs der Völker miteinander viel unverblümter geltend machte, als wir uns das lange Zeit hatten eingestehen wollen.**)

Es handelt sich aber um einen Charakterzug, der auch in Jäger-Sammler-Völkern anzutreffen ist, zum Beispiel bei den Kopfjägern in Tibet (Stgen2007). Es handelt sich zugleich auch um ein Bündel von Verhaltenstendenzen, von dem Peter Sloterdijk schon 2006 in seinem Buch "Zorn und Zeit" und in einem damaligen Cicero-Interview forderte, daß es in der Psychologie unserer Zeit mehr Berücksichtigung finden sollte, von ihm zusammen gefaßt unter dem sehr umfassenden Begriff der "thymotischen Energien" (Stgen2007).

Es handelt sich um einen Charakterzug und um ein Verhaltensbündel, die durch monotheistischen Eifer - oder später durch atheistisch-ideologischen Eifer - nur noch einmal erneut entflammt und angefacht worden sind und werden, die aber schon zuvor als ein Eifer noch etwas anderer Art in der Welt waren, als ein Eifer zum Beispiel, der Beste zu sein - worauf uns Nietzsche hier aufmerksam macht (siehe gleich).

Zunächst ist man - aus heutiger Sicht - fast verwundert, daß ausgerechnet Nietzsche ein solches Entsetzen aufweist gegenüber den oft außerordentlich schrecklichen Phantasien und Taten, die sich in den antik-griechischen Mythen (Orpheus-Mythos, Dionysos-Mythos u.a.) ebenso wiederspiegeln wie in vielfältigen Taten der antik-griechischen Geschichte.

Nietzsche macht dann aber im weiteren Verlauf seiner Überlegungen Beobachtungen, die noch heute tiefer in die Volksseele der antiken Griechen blicken lassen könnten (1):

Das gesamte griechische Altertum denkt anders über Groll und Neid als wir und urteilt wie Hesiod, der einmal eine Eris als böse bezeichnet, diejenige nämlich, welche die Menschen zum feindseligen Vernichtungskampfe gegeneinander führt, und dann wieder eine andre Eris als gute preist, die als Eifersucht, Groll, Neid die Menschen zur Tat reizt, aber nicht zur Tat des Vernichtungskampfes, sondern zur Tat des Wettkampfes. Der Grieche ist neidisch und empfindet diese Eigenschaft nicht als Makel, sondern als Wirkung einer wohltätigen Gottheit.

Was für ein schöner Gedanke in diesem letzten zitierten Satz enthalten ist. Er zaubert uns ein Lächeln auf die Lippen. Vielleicht ist der Grieche ja auch nur ehrlicher als wir, geht einem dabei durch den Kopf. Eine Eigenschaft, die man ehrlich auslebt, läßt sich auch ehrlich überwinden. Eine Eigenschaft, deren Vorhandensein man neigt hinwegzuleugnen, weil man sie gar zu sehr verdammt, wird man viel schwerer überwinden können. Denn sie wird dann nur doppelt so stark wirken in unserer heutigen, so durch und durch von ätzendem Ressentiment durchtränkten Kultur. 

Wie viel Neid mag in der heutigen Welt sein. Und wie viel Neid mag das Leben der Menschen angefressen, verbittert und verzerrt sein lassen. Womöglich waren die antiken Griechen davor durch ihren sehr ehrlichen und offenen Umgang viel besser geschützt. Sie thematisierten diesen Neid ganz ehrlich. Und sprachen ihm gute Kräfte zu. 

"Willkommen Gewinn!"

Lesen wir nicht an der Eingangstür eines Geschäftes in Pompeji den so wunderschönen Spruch "Willkommen Gewinn!" - ? Welcher so ganz und gar andere Geist spricht aus diesen beiden Worten als der Geist des christlichen Abendlandes mit all seinem verkniffenen Ressentiment, der es einerseits wegleugnet, daß wir uns über Gewinn freuen, sich andererseits dann aber klammheimlich um so mehr darüber freut und ihn dem anderen neidet. Oder der in offener Frivolität und egoistischem Materialismus keine anderen Lebensziele kennt als diesen rein materiellen Gewinn. Oh, was für ein verfluchtes, unehrliches, orientierungsloses, gottloses Jahrhundert, Jahrtausend. 

Wann sie wohl wieder kommen werden, die Zeiten von Pompeji?

Ehrlich und offen freut sich hier ein Geschäftsmann über seinen Gewinn. Amazon, du Steuerhinterzieher in allergrößtem Umfang, wie wäre das, wenn du offen und ehrlich als Titelzeile über deine Seiten setzt: "Willkommen Gewinn!" Denn um nichts anderes geht es. 

Auch dir. Sei ehrlich. Wenigstens das. Wenn dich die Regierungen weltweit schon so auffällig schonen und dir keine Steuerbeamten auf den Hals hetzen. Dir und unzähligen anderen, weltweit agierenden Konzernen.

In dem hier herangezogenen Text von 1872 ist Friedrich Nietzsche denkbar weit entfernt von seinem Gedanken vom "Willen zur Macht", der doch zwangsläufig einher gehen muß mit "Streit", "Abwehr", "Kampf", "Antagonismus". Die Götter fordern doch für sich Macht ein. Deshalb ist es doch ganz selbstverständlich, daß sie diese gegenüber den Menschen, Halbgöttern und Satyren auch durchsetzen - auf welche Weise auch immer. Aber wir lesen aus diesem Text immerhin heraus, wie sich dieser sein späterer Gedanke vom "Willen zur Macht" zu formen begann. 

Der Wettstreit - Er hatte eine so ganz andere Bedeutung in der antik-griechischen Kultur

Sein Text erhält im weiteren Verlauf unglaubliches Gewicht, wenn er darauf aufmerksam macht, daß es der Wettkampf ist, der zu den tieferen Grundkräften des antik-griechischen kulturellen Schaffens gehört (1):

Je größer und erhabener aber ein griechischer Mensch ist, um so heller bricht aus ihm die ehrgeizige Flamme heraus, jeden verzehrend, der mit ihm auf gleicher Bahn läuft. Aristoteles hat einmal eine Liste von solchen feindseligen Wettkämpfen im großen Stile gemacht: darunter ist das auffallendste Beispiel, daß selbst ein Toter einen Lebenden noch zu verzehrender Eifersucht reizen kann. So nämlich bezeichnet Aristoteles das Verhältnis des Kolophoniers Xenophanes zu Homer. Wir verstehen diesen Angriff auf den nationalen Heros der Dichtkunst nicht in seiner Stärke, wenn wir nicht, wie später auch bei Plato, die ungeheure Begierde als Wurzel dieses Angriffs uns denken, selbst an die Stelle des gestürzten Dichters zu treten und dessen Ruhm zu erben. Jeder große Hellene gibt die Fackel des Wettkampfes weiter; an jeder großen Tugend entzündet sich eine neue Größe. Wenn der junge Themistokles im Gedanken an die Lorbeeren des Miltiades nicht schlafen konnte, so entfesselte sich sein frühgeweckter Trieb erst im langen Wetteifer mit Aristides zu jener einzig merkwürdigen, rein instinktiven Genialität seines politischen Handelns, die uns Thukydides beschreibt.

Es handelt sich also um den Eifer, der Beste sein zu wollen. Diesen Geist des Wettkampfes, der so viel Herrliches in der Kultur und Geschichte der antiken Griechen hervorgebracht haben mag, ist nicht genügend gebändigt worden durch "das Vaterländische", so hatten wir uns schon durch Hölderlin belehren lassen. Aber da er zugleich eine so starke Triebkraft war zu kulturellem Schaffen - wie möchte man ihn da noch verdammen? War da die antik-griechische Kultur nicht geradezu zwangsläufig zum Untergang verdammt? Da ihr der Wettkampf untereinander, nicht zuletzt der leidenschaftliche Wettkampf - auf vielen Ebenen - zu einer so wichtigen kulturellen Antriebskraft nötig war?

Wir verdammen diesen Ehrgeiz heute. Und das zu vielen Teilen auch zurecht. Wir verdammen ihn auch deshalb, weil wir spüren, daß es seiner nicht bedarf, um höchste kulturelle Leistungen hervor zu bringen. Wollte Beethoven "besser" sein als alle anderen und wurde er insbesondere deshalb dieses "Genie"? Nein, wir empfinden hier stark den Unterschied zwischen der antik-griechischen und der abendländischen Kultur. Wir spüren geradezu, daß die abendländischen Antriebskräfte zum kulturellen Schaffen, der Natur desselben näher stehen als die antik-griechischen Antriebskräfte. Freilich stehen die abendländischen Antriebskräfte zugleich auch in größerer Gefahr, "einzuschlafen", weil sie sich durch Wettstreit untereinander womöglich nicht genügend anspornen lassen.

Wie kam es uns schon beim ersten Studium der griechischen Geschichte***) so sonderbar vor, daß die antiken Griechen gar zu sehr herausragende Größe einzelner Persönlichkeiten im politischen Leben nicht ertragen konnten und gegen sie immer und immer wieder das Mittel der Verbannung, des Ostrakismos anwendeten. Wie unweise, ja töricht kam uns das wieder und wieder vor. Ja, deshalb sogar abstoßend. Wie uns überhaupt die rein politische Geschichte der antiken Griechen allezeit abstoßend erschienen ist. Und jetzt erkennen wir, warum sie - einem Abendländer - abstoßend erscheinen muß. Allein um der politischen Geschichte und Kultur der antiken Griechen willen würden wir ihnen jedenfalls längst nicht jene große Hochachtung entgegen bringen können, wenn wir nicht zugleich davon wüßten, daß sie von der Sonne des Homer beschienen war und daß sie zugleich so herrliche Kunst, Philosophie und Wissenschaft hervor gebracht haben. Hier bei Nietzsche aber finden wir nun eine gute Erklärung für dieses elendige Verbannen der besten Politiker, Staatsmänner und Feldherren (1):

Der ursprüngliche Sinn dieser sonderbaren Einrichtung ist aber nicht der eines Ventils, sondern der eines Stimulanzmittels: man beseitigt den überragenden einzelnen, damit nun wieder das Wettspiel der Kräfte erwache: ein Gedanke, der der "Exklusivität" des Genius im modernen Sinne feindlich ist, aber voraussetzt, daß in einer natürlichen Ordnung der Dinge es immer mehrere Genies gibt, die sich gegenseitig zur Tat reizen, wie sie sich auch gegenseitig in der Grenze des Maßes halten. Das ist der Kern der hellenischen Wettkampf-Vorstellung: sie verabscheut die Alleinherrschaft und fürchtet ihre Gefahren, sie begehrt, als Schutzmittel gegen das Genie - ein zweites Genie.

Nietzsche ist hier ebenso genial wie die antiken Griechen. Beide zaubern uns an dieser Stelle ein Lächeln auf die Lippen. Wie heiter und voller Sonnenschein wird Weltgeschichte und Kulturgeschichte, wenn wir sie aus ihren tieferen Antriebskräften heraus verstehen. Wie lösen sich dann alle Widersprüche auf - oder erscheinen doch wenigstens in einem milderen, nicht mehr so grell-widersprüchlichen Licht. Nietzsche sagt so richtig (1):

Dort, wo der moderne Mensch die Schwäche des Kunstwerks wittert (nämlich im persönlichen Ehrgeiz des Künstlers), sucht der Hellene die Quelle seiner höchsten Kraft! 

Wir spüren deutlich: In diesem Umstand können uns die Hellenen nicht Vorbild sein. Wir sind in diesem Punkt - eigentlich - weiter. Und waren es immer schon. Vielleicht schon - sozusagen - "von Natur aus". Soll Tilman Riemenschneider in Wettstreit getreten sein mit den anderen Bildhauern seiner Zeit und nur um dieses Wettstreites willen ein so ergreifender Künstler geworden sein? Nein. Wie sehr würden wir hier das Wesen seiner Kunst verkennen. Kunst ist uns vielmehr die Abwesenheit von Wettstreit und Ehrgeiz. Und doch: Mit diesem Gedanken darf man sich den Künstlern der griechischen Antike durchaus nähern, ohne an sie Unangemessenes heran zu tragen.

Und daran wird deutlich erkennbar, daß die griechische Antike aus anderen Grundkräften lebte als das Abendland (1):

Nehmen wir dagegen den Wettkampf aus dem griechischen Leben hinweg, so sehen wir sofort in jenen vorhomerischen Abgrund einer grauenhaften Wildheit des Hasses und der Vernichtungslust. Dies Phänomen zeigt sich leider so häufig, wenn eine große Persönlichkeit durch eine ungeheure glänzende Tat plötzlich dem Wettkampfe entrückt wurde und hors de concours (außer Konkurrenz), nach seinem und seiner Mitbürger Urteil war. Die Wirkung ist, fast ohne Ausnahme, eine entsetzliche.

Ob man an dieser Stelle nicht richtig liegt, wenn man in diesem Wesenszug die "orientalischen", "mediterranen" Charakterzüge zu finden glaubt, die die vorgriechische Kultur der Pelasger geprägt haben werden - so wie den ganzen übrigen Orient? Und ob die indogermanisierten Griechen mit ihren 92 % mediterraner Herkunft nur auf diese Weise diese Verhaltenstendenz in Schach halten konnten, kultivieren konnten, bändigen konnten, daß sie den Wettstreit zuließen als Mittel der Kultivierung und der Einhaltung des Maßes? 

Ist dies - in den Worten Hölderlins (s. Stgen2023) - "die Regel, womit sie den übermütigen Genius vor des Elements Gewalt behüteten", bzw.: zugleich behüteten wie entfachten?

Abb. 4: Porträtbüste des Miltiades d. J. (554 bis 459 v. Ztr.), Nationalmuseum von Ravenna (Wiki)

Auf eine Art, die zugleich in sich die Gefahr des Untergangs barg, weil sie über dem Wettstreit untereinander die Gemeinsamkeit vergessen konnten? 

Miltiades

Nietzsche erläutert seine Erkenntnis anhand des Lebensschicksals des Feldherrn Militades (554-489 v. Ztr.), das genau zu jenem Verstörendsten gehört, auf das man beim Studium der antik-griechischen, politischen Geschichte überhaupt stoßen kann (1):

Es gibt kein deutlicheres Beispiel als die letzten Schicksale des Miltiades. Durch den unvergleichlichen Erfolg bei Marathon auf einen einsamen Gipfel gestellt und weit hinaus über jeden Mitkämpfenden gehoben, fühlt er in sich ein niedriges rachsüchtiges Gelüst erwachen gegen einen parischen Bürger, mit dem er vor alters eine Feindschaft hatte. Dies Gelüst zu befriedigen, mißbraucht er Ruf, Staatsvermögen, Bürgerehre und entehrt sich selbst. Im Gefühl des Mißlingens verfällt er auf unwürdige Machinationen. Er tritt mit der Demeterpriesterin Timo in eine heimliche und gottlose Verbindung und betritt nachts den heiligen Tempel, aus dem jeder Mann ausgeschlossen war. Als er die Mauer übersprungen hat und dem Heiligtum der Göttin immer näher kommt, überfällt ihn plötzlich das furchtbare Grauen eines panischen Schreckens: fast zusammenbrechend und ohne Besinnung fühlt er sich zurückgetrieben, und über die Mauer zurückspringend stürzt er gelähmt und schwer verletzt nieder. Die Belagerung muß aufgehoben werden, das Volksgericht erwartet ihn, und ein schmählicher Tod drückt sein Siegel auf eine glänzende Heldenlaufbahn, um sie für alle Nachwelt zu verdunkeln. Nach der Schlacht bei Marathon hat ihn der Neid der Himmlischen ergriffen. Und dieser göttliche Neid entzündet sich, wenn er den Menschen ohne jeden Wettkämpfer gegnerlos auf einsamer Ruhmeshöhe erblickt. Nur die Götter hat er jetzt neben sich - und deshalb hat er sie gegen sich. Diese aber verleiten ihn zu einer Tat der Hybris, und unter ihr bricht er zusammen.

Genial gedeutet. Wir für uns müssen sagen, daß wir damit - mehr als dreißig Jahre nach Beginn unseres Studiums der Alten Geschichte im Nebenfach und dabei der politischen Zerrissenheit der griechischen Poliswelt endlich eine Deutung für diese finden, der wir Befriedigung entgegen bringen können. Wir saßen damals in Seminaren über die politische Geschichte des antiken Griechenland und konnten wieder und wieder nur den Kopf schütteln darüber, warum ein solches Wirrwarr und eine Geschichte voller Widersprüche nun als etwas "Besonderes" sollte angesehen werden. Erst als wir die erste große Liebe in unserem Leben erfuhren und uns - damit in Verbindung stehend - auf die Lektüre des Homer eingelassen haben, war uns die antik-griechische Kultur innerlich näher gekommen. Im politischen Leben der antiken Griechen findet man ihre Seele am wenigsten. Da ist sie überschattet von den widersprüchlichen Lebensschicksalen solcher bedeutender Persönlichkeiten wie der des Miltiades. Und Nietzsche geht noch weiter (1):

Bemerken wir wohl, daß so, wie Miltiades untergeht, auch die edelsten griechischen Staaten untergehen, als sie durch Verdienst und Glück aus der Rennbahn zum Tempel der Nike gelangt waren. Athen, das die Selbständigkeit seiner Verbündeten vernichtet hatte und mit Strenge die Aufstände der Unterworfenen ahndete, Sparta, welches nach der Schlacht von Ägospotamoi in noch viel härterer und grausamerer Weise sein Übergewicht über Hellas geltend machte, haben auch, nach dem Beispiele des Miltiades, durch Taten der Hybris ihren Untergang herbeigeführt zum Beweise dafür, daß ohne Neid, Eifersucht und wettkämpfenden Ehrgeiz der hellenische Staat wie der hellenische Mensch entartet. Er wird böse und grausam, er wird rachsüchtig und gottlos, kurz, er wird "vorhomerisch" - und dann bedarf es nur eines panischen Schreckens, um ihn zum Fall zu bringen und zu zerschmettern. Sparta und Athen liefern sich an Persien aus, wie es Themistokles und Alkibiades getan haben; sie verraten das Hellenische, nachdem sie den edelsten hellenischen Grundgedanken, den Wettkampf, aufgegeben haben: und Alexander, die vergröbernde Kopie und Abbreviatur der griechischen Geschichte, erfindet nun den Allerwelts-Hellenen und den sogenannten "Hellenismus". –

Das von dem "Allerwelts-Hellenen" möchten wir so nicht unterstreichen. Auch noch der Hellenismus hat als kulturelle Erscheinung eine so viel größere, überragende Herrlichkeit im Vergleich zu einem großen Teil all dessen, was sich christliches Abendland schimpft, daß wir in der Bewertung hier sehr behutsam sein sollten. Aber ansonsten: Wie genial gedeutet. Ob die Bedeutung dieses Textes von Nietzsche wohl jemals genügend gewürdigt worden ist? Oder gibt es noch bessere Deutungen zu den tieferliegenden Lebensgesetzen der antik-griechischen Kultur?

Wir verstehen auch gleich, warum Griechenland gegen das Perserreich bestehen konnte. Weil es einen edlen Wettstreit gab zwischen allen Poleis, im Kampf gegen die Perser zu bestehen und sich hervorzutun. Wir verstehen, warum es diesen Wettstreit gab zwischen Athen und Sparta. Wir verstehen, warum das antike Griechenland nicht in einen ähnlichen Wettstreit treten konnte mit dem persischen Großreich: Es lebte aus ganz anderen Triebkräften heraus als die antiken Griechen. Wie oft sind die Spartaner aufgefordert worden, Krieg gegen das persische Großreich zu führen, das militärisch leicht zu besiegen wäre. Sie ahnten vermutlich nur zu gut, daß diese Hybris ihnen nicht gut tun würde.

Und der "panische Schrecken", den wir bei den antiken Griechen wieder und wieder finden, auch bei den größten Helden, und der schon so manchem Kulturpsychologen als so sonderbar fremd und nicht-germanisch erschienen ist - auch er wird nicht nur Ausfluß des damaligen Aberglaubens sein, nein, er wird Ausfluß der fortbestehenden angeborenen Verhaltenstendenzen der 92 % mediterraner Herkunft sein. Wenn wir solche Dinge verstehen, verstehen wir gleich so viel anderes außerdem.

2.200 v. Ztr. - Als die "Häutung" der Pelasger durch Apollon begann

Aber kommen wir auch noch einmal auf die Häutung des Marsyas bei lebendigem Leibe zurück durch den erhabenen griechischen Gott Apollon: Man möchte fast sagen, daß so die griechische Kultur entstand während der zerstörerischen Zuwanderung der Indogermanen um 2.200 v. Ztr., die grob 50 % Steppengenetik in sich trugen (so wie heute noch die Skandinavier): sie häuteten die Vorgängerbevölkerung, die der Pelasger, sie wandelten sie dabei um in ein Volk von Apollon-Verehrern und -Anhängern. Aber das war nur möglich durch "Häutung". Ob eine solche Deutung richtig ist, angemessen ist? Ob die Ahnung von einer solchen Vergangenheit in diesem Mythos mitschwingt? 

Ob den antiken Griechen unterschwellig bewußt war, daß sie vom Typ her eigentlich mehrheitlich "Marsyas" sind, und daß sie erst grausam gehäutet werden mußten, bevor sie "Apollon" werden konnten, apollinisch, homerisch? Wir möchten diesen Gedanken als Hypothese in den Raum stellen.

Völkergeschichte ist - mitunter - so grausam. Und - mitunter - entspringt solcher Grausamkeit, solcher grausamen Mißhandlung höchste Kultur. Eigentlich sprechen alle mythologischen Vorstellungen der antiken Griechen über ihre dunkle Vorzeit von solcher Grausamkeit, von solcher Mißhandlung, insbesondere der Mythos rund um Orpheus und Dionysos.

Ergänzung 10.6.23: Darf man es womöglich so sagen: Wollten die mediterranen Menschen von heute in den kulturschaffenden Sog von einst kommen, wollten sie in den kulturschaffenden Sog ihrer antik-griechischen Vorfahren zurück kehren: Womöglich müßten sie dafür in sich jenen feurigen Ehrgeiz entfachen und jene Wettkämpfe wiederbeleben, die den antiken Griechen für ihr kulturelles Schaffen und politisches Wirken so nötig und unabdingbar waren.

Trauma und Trauma-Heilung bei den antiken Griechen

(1.7.23) Wir möchten noch weitere Gedanken anfügen, die sich inzwischen bei uns ergeben haben. Wenn wir im Folgebeitrag (Stgen2023) hören, wie Sokrates im "Phaidros" die Worte zitiert

"Von dem, was etwa altem Götterzorn entsprang
In einzelnen Geschlechtern,"

werden wir ganz überraschend aufmerksam auf den Umstand, daß Traumata auch schon in vorgeschichtlichen und antiken Zeiten von Generation zu Generation weiter gegeben worden sein können, nein, weitergegeben worden sind - so wie heute (siehe z.B. Thema "Kriegsenkel" [Wiki], zu dem wir mehrere Artikel in Vorbereitung haben). Aber wie viel "schöner", angemessener erscheint es, diese Traumata als einen "Götterfluch" zu interpretieren, an dem der einzelne gar keine "Schuld" hat, an dem er schuldlos leidet - so wie heute. 

Wie viel schöner ist es überhaupt, Traumata in Beziehung zu setzen zu dem Verhältnis des Menschen zu den Göttern, als Traumata - so wie heute - allein aus einem atheistischen Weltbild heraus "heilen" zu wollen. Oh, ihr unseligen Menschen von heute! Ihr wollt Traumata nicht mehr als einen "alten Götterfluch" erachten? Ihr wollt so viel klüger sein als die antiken Griechen? Nie und nimmermehr. Die Griechen waren viel dichter am Kern der eigentlichen Thematik dran. In allem geht es immer um das Verhältnis des einzelnen Menschen zu Gott, um die Erschütterung dieses Verhältnisses, um die Entwurzelung aus Gottvertrautheit, aus Gottgeborgenheit. Wie soll Traumaheilung möglich werden, wenn wir orientierungslos im wabernden Raum der Beliebigkeit weltanschaulicher Möglichkeiten mehr taumeln als gehen? Während allein eine klare und entschiedene Ausrichtung auf das Göttliche selbst heilsam sein könnte?  In entschiedener Abwendung, Abstoßung von allem Gottlosen, Kulturlosen - ?

Jedenfalls werden wir damit zugleich aufmerksam darauf, wie die antiken Griechen Traumata - unter anderem - "heilten". Nämlich - unter anderem - durch das Theater, das sie - womöglich vor allem zu diesem Zwecke - erst "erfunden" haben. In der Tragödie wird ein erschütterndes Geschehen auf eine Bühne gestellt, wird auf dieser "nachgespielt". (Und zwar in "Dionysien". Dionysos also, der Gott des Spiels und der Verwandlung, sowie der Ekstase ist zugleich der Gott der Heilung.) Die gesamte Stadt, die gesamte Gemeinschaft nimmt erschüttert Anteil an dem Geschehen auf der Bühne. Gerade jene, die besonders traumatisiert worden sind durch irgendein Geschehen oder die ein Trauma in der Familie über Generationen hinweg ererbt erhalten haben, können - inmitten der Gemeinschaft sitzend - Heilung, "Katharsis" erfahren während der Aufführung. Und in ihrer Ausrichtung auf das Göttliche eine innere Erneuerung und Verlebendigung finden.

Und zwar - letztlich - ganz ähnlich wie Trauma-Heilung auch bei den heutigen Turkana-Kriegern in Ostafrika - traditionellerweise - geschieht (2). Nämlich indem die Traumatisierten in die Mitte der Gemeinschaft genommen werden, und indem man ihnen zuhört, an ihrem Schicksal Anteil nimmt. Und zwar die gesamte Gemeinschaft (auch dazu haben wir seit 2020 einen Artikel in Vorbereitung).

Welche ganz neue Bedeutung würden Theater heute erhalten, wenn man sie bewußt als Mittel der Trauma-Heilung nutzen würde. (Und nicht für all die erbärmlichen, völlig sinnlosen, nutzlosen oder seichten Spielereien und Schreieren, für die sie heute - viel zu oft - genutzt werden.)

Google Scholar-Suche zu dem Thema "psychological trauma ancient greece" liefert tatsächlich überraschend viele und konkrete weiterführende Ergebnisse, die zu vielen neue Gedanken Anlaß geben können und die Perspektive bedeutend erweitern. So allein der Gedanke in dem Aufsatz "Phäaken-Therapie in der Odyssee des Homer", in dessen Zusammenfassung es so schön prägnant formuliert wird (3, S. 47):

Stellen Sie sich einen von der normalen Gesellschaft isolierten Ort vor, dessen Bewohner einen erschöpften, mittellosen Veteranen aufnehmen, ihm Kleidung geben, ihm zu Essen geben und baden, ihre ganze Aufmerksamkeit seiner Anwesenheit widmen, für Geschenke, Unterhaltung und sportliche Erholung sorgen und zusehen, wie er in Tränen ausbricht, wenn er an seine Vergangenheit erinnert wird, die sich seine persönliche Geschichte aufmerksam anhören, die ihn sogar nach weiteren Einzelheiten fragen und die ihn weiter reisen lassen mit einem Vorrat an Reichtümern versehen, die er bei seiner Rückkehr nach Hause verwenden kann. Wie könnte man einen solchen Ort nennen? Ein Sanatorium? Eine Reha-Einrichtung?

Was für ein herrlicher Gedanke. Man möchte es erst gar nicht glauben. Man blickt sofort in das entsprechende Kapitel von Homer's Odyssee bei den Phäaken hinein. Und findet alles bestätigt! Und findet in diesem einen Kapitel eine Beschreibung, wie Traumaheilung stattfinden sollte, wie eine Reha-Einrichtung eingerichtet sein sollte. Und wir merken allein durch dieses eine Buchkapitel, wie viele neue Erkenntnisquellen uns aufgetan sind, wenn wir uns mit dem Thema "Trauma und Traumaheilung bei den antiken Griechen" beschäftigen. 

Uns kommt aus den Zusammenhängen des bisherigen Nachdenkens über die antiken Griechen auch der folgende Gedanke: Während mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit in geheimen, elitären satanistischen und okkulten Psychosekten, die hinter den Geheimdiensten weltweit stehen, aufgrund Jahrhunderte langer "Erprobung" bei der "traumabasierten Bewußtseinsontrolle" durch zahllose Folterungen von Geburt an gezielt und methodisch die multiple Persönlichkeitsstörung hervorgerufen wird, um "willige Vollstrecker" der Befehle geheimer Schattenregierungen in den weltweiten "gelenkten Demokratien" von heute heranzuziehen, könnten in früheren Jahrtausenden schwere Traumatisierungen auch dazu  geführt haben, ganze Völker hinauf zu reißen zu Edelsinn und Schönheits-Trunkenheit - so wie die antiken Griechen, und zwar durch "Häutung bei lebendigem Leibe". Wobei sie dann später - dennoch - gelegentlich mit einer leichten Trauer auf ihr früheres Dasein als "Marsyas" zurück schauen konnten.

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*) Eine Schrift, die - nebenbei gesagt - auch Thema der mündlichen Abschlußprüfung im Nebenfach Philosophie des Verfassers dieser Zeilen bei Professor Rudolf Malter in Mainz im Jahr 1993 war.
**) Unter anderem auch in Zurückweisung des materialistischen Sozialdarwinismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der so viele üble Folgen mit sich gebracht hatte. Darunter unter anderem den Gedanken vom "Volk ohne Raum" auf deutscher Seite und umgekehrt die Umvolkungen aufgrund des Deutschenhasses in den freimaurerischen, sowjetischen und nach-sowjetischen Eliten weltweit zwischen 1914 und 1945, sowie weiterwirkend bis heute.
***) Am Seminar für Alte Geschichte der Universität Mainz bei Professor Bellen (1927-2002) (Wiki) und anderen in den Jahren zwischen 1989 und 1993.

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  1. Nietzsche, Friedrich: Homers Wettkampf (1872). In: Fünf Vorreden zu ungeschriebenen Büchern. Für Frau Cosima Wagner in herzlicher Verehrung und als Antwort auf mündliche und briefliche Fragen, vergnügten Sinnes niedergeschrieben in den Weihnachtstagen 1872. In: ders.: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 263-267 (Zeno)
  2. Matthew R. Zefferman, Sarah Mathew: An evolutionary theory of moral injury with insight from Turkana warriors. In: Evolution and Human Behavior, Available online 16 July 2020, https://doi.org/10.1016/j.evolhumbehav.2020.07.003, https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1090513820300829
  3. Meineck, P., Konstan, D. (eds) Combat Trauma and the Ancient Greeks. The New Antiquity. Palgrave Macmillan, New York 2014, https://link.springer.com/book/10.1057/9781137398864

1 Kommentar:

Ingo Bading hat gesagt…

Trauma und Trauma-Heilung bei den antiken Griechen

Wir haben den Blogartikel heute um einen weiteren Abschnitt ergänzt.

(1.7.23) Wir möchten noch weitere Gedanken anfügen, die sich inzwischen bei uns ergeben haben. Wenn wir im Folgebeitrag hören, wie Sokrates im "Phaidros" die Worte zitiert
"Von dem, was etwa altem Götterzorn entsprang
In einzelnen Geschlechtern,"
werden wir ganz überraschend aufmerksam auf den Umstand, daß Traumata auch schon in vorgeschichtlichen und antiken Zeiten von Generation zu Generation weiter gegeben worden sein können, nein, weitergegeben worden sind - so wie heute (siehe z.B. das Thema "Kriegsenkel" , zu dem wir mehrere Artikel in Vorbereitung haben). Aber wie viel "schöner", angemessener erscheint es, diese Traumata als einen "Götterfluch" zu interpretieren, an dem der einzelne gar keine "Schuld" hat, an dem er schuldlos leidet - so wie heute die nachgeborenen Generationen.
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