Sonntag, 15. Juni 2025

Großkönige der Aunjetitzer Kultur (2.300 bis 1.600 v. Ztr.)

In Sachsen, Polen, Schlesien und Böhmen
- Von der Oder über die Elbe bis an die Donau, bis zur Weichsel und bis zur Weser

"Deutschlands erste Fürsten starben wie Pharaonen" titelte die deutsche Presse 2016 über den größten Grabhügel der Bronzezeit in Europa, der aus der Aunjetitzer Kultur (2.300 bis 1.600 v. Ztr.) (Wiki) hervorgegangen war (s. Stg19). Der dort bestattete Herrscher wurde auch als "Herr der Himmelsscheibe von Nebra" tituliert (Abb. 1).

Abb. 1: Insignien im Großreich der Aunjetitzer Kultur (1800 v. Ztr.) - Sie stehen für Himmelskunde und Selbstbehauptung - Dargebracht den Göttern im Angesicht des Sonnenuntergangs (Wiki), vielleicht bevor bedeutendere Teile des Volkes ihre Heimat verließen und erobernd gen Süden zogen, wobei die Götter zuvor um Glück gebeten worden sein mögen

Ein bronzenes "Dreiecks-Zepter", das nahe eines Dorfes zwischen Breslau und Lodz gefunden worden war, wurde 2022 zum leitenden Symbol eines einstündigen Dokumentarfilmes (Vodtv):

Ausgangspunkt des Films sind die mit Bronze- und Goldprodukten gefüllten Grabhügel, die sogenannten Fürstengräber aus der Ortschaft Łęki Małe bei Kościan in Großpolen. Es handelt sich um die größten erforschten Grabhügel in Polen. Sie wurden von Mitgliedern einer Gemeinschaft errichtet, die Archäologen heute als Aunjetitzer Kultur bezeichnen. In reich ausgestatteten Gräbern fanden Archäologen das titelgebende, sehr eindrucksvolle und für die Aunjetitzer Kultur charakteristische „Dolchzepter“.

In der deutschsprachigen Wissenschaft werden diese "Dreiecks-" oder "Dolch-Zepter" recht unprosaisch "Stabdolche" genannt (Wiki). Entsprechend heißen sie im Englischen "Staff daggers" (WikiCom). In Zusammenhang mit diesem Film (s.a.: GrodziskFb) jedenfalls sind eindrucksvolle Bilder entstanden, von denen in diesen Blogbeitrag einige eingebunden sein sollen, weil sie die Welt der Aunjetitzer Kultur ein wenig anschaulicher machen (Abb. 2-6). 

Abb. 2: Dolchzepter der Aunjetitzer Kultur - Insignie und Waffe - Machtsymbol gefunden in den bedeutenden Grabhügeln von Łęki Małe, gelegen zwischen Breslau und Lodz - Standbild aus einem Dokumentarfilm über die Aunjetitzer Kultur aus dem Jahr 2022 (Yt2022)

Die erstgenannte Titelzeile in der deutschen Presse und der genannte Dokumentarfilm machen auf die Bedeutung der genannten Grabhügel aufmerksam. Insbesondere auch auf die Bedeutung des größten Grabhügels dieser Kultur, nämlich des Bornhöck (Wiki), gelegen zwischen Halle und Leipzig in der Nähe des Schkeuditzer Kreuzes. Dieser Bornhöck ist - wie die Grabhügel von Łęki Małe - um 1800 v. Ztr. errichtet worden, also zur Zeit des Hethiter-Reiches in Kleinasien, zur Zeit des Großreiches von Ägypten am Nil. 

Der Bornhöck ist gelegen nur zehn Kilometer westlich der heutigen A9, nur zehn Kilometer westlich des Schkeuditzer Kreuzes (zwischen Halle und Leipzig) - im Grunde als Abstecher leicht zu besuchen während einer Reise von Berlin nach München (GMaps). Allerdings ist der Hügel selbst bedauerlicherweise schon bis 1900 völlig abgetragen worden. Es ist heute nichts mehr von ihm zu sehen. Seine Anlage konnte aber unterhalb der Erdoberfläche 2014 bis 2017 archäologisch untersucht werden. Dabei wurden zuvor alle in Archiven verfügbaren Dokumente aus früheren Jahrhunderten zu der Geschichte und Erforschung dieses Hügels herangezogen.

Abb. 3: Machtübernahme im Großreich der Aunjetitzer Kultur -  Standbild aus einem Dokumentarfilm zur Aunjetitzer Kultur aus dem Jahr 2022 (Yt2022)

Das hat dann insgesamt zu der genannten Neubewertung seiner vormaligen Bedeutung geführt (Stg19):

Hier lag das Zentrum eines hierarchisch gegliederten Reiches,

ist der Tenor - ähnlich wie im Dokumentarfilm von 2022. Der Hallenser Archäologe Harald Meller (Stg19) ...

... vergleicht die Anlage mit den Pyramiden des pharaonischen Ägypten. Nicht nur, daß die Goldbeigaben ihn als gottgleichen Herrscher ausweisen. Sondern auch Organisation und Ressourcen, die für den Bau eingesetzt wurden, belegen bereits eine soziale Differenzierung und Arbeitsteilung, die Herrschaft ermöglichte und dabei weit über das hinausgeht, was etwa die Römer 2000 Jahre später in Germanien vorfanden.

Solche Aussagen muten gewagt an. Auf jeden Fall ist ihr Inhalt noch kaum in das Geschichtsbild der Gegenwart eingegangen.

Aber auch über die Ethnogenese, Herkunft und den Ausbreitungsmodus der Aunjetitzer Kultur hatten wir hier auf dem Blog schon verstreut Hinweise zusammen getragen (Stg21), ohne daß sich uns daraus schon ein Gesamtbild formte. Bislang ist hier auf dem Blog also noch gar keine Zusammenschau zur Aunjetitzer Kultur gegeben worden. Dazu wird im folgenden ein erster Versuch gemacht.

Ethnogenese der Aunjetitzer Kultur in Pommern? - Ethnozidaler Ausbreitungsmodus

Die aus Nordfrankreich und vom Rhein stammende Glockenbecherkultur hat ab 2.500 v. Ztr. in Böhmen ein sehr umfangreiches, vermutlich genozidales "genetic replacement" zustande gebracht (Stg25). Solche genozidalen "replacement"-Vorgänge sind für die italo-keltischen Kulturen über die Jahrtausende hin sehr oft in vielen Teilen Europas festgestellt worden (britische Inseln, iberische Halbinsel etc.). Sie deuten sich auch in derselben Zeit an für die Ankunft der indogermanischen Griechen und der Armenier in Griechenland und Armenien.

Abb. 4: Herr über Leben und Tod (Yt2022) - Standbild aus einem Dokumentarfilm zur Aunjetitzer Kultur von 2022 (Yt2022)

Zweihundert Jahre nach Ankunft der ersten Glockenbecherleute hat es dann aber offenbar in Böhmen ein erneutes genozidales "genetic replacement" gegeben, und zwar diesmal durch die Menschen der Aunjetitzer Kultur, deren Angehörige möglicherweise Nachfahren von Glockenbecher-Leuten waren, die sich bis in den Ostseeraum ausgebreitet hatten, die sich bis Pommern ausgebreitet hatten, und die von dort aus eine etwas "veröstlichte" Genetik mit nach Böhmen gebracht haben, wobei sie wiederum genozidal gegenüber kulturell und genetisch verwandten Nachfahren von Glockenbecher-Leuten scheinen vorgegangen zu sein. 

Auf Verbreitungkarten zur Glockenbecherkultur sieht man - und aus sonstigen Zusammenhängen wissen wir - daß sich die Glockenbecherkultur zeitweise bis nach Dänemark (und Norwegen), bis an die Odermündung und bis ins Kulmer Land an der Weichsel (Kujawien) ausgebreitet hatte (s. Abb. 6). 

Abb. 5: Bestattet mit Waffe und Zepter - Standbild aus einem Dokumentarfilm zur Aunjetitzer Kultur (2022) (Yt2022)

Wir hatten hier auf dem Blog 2021 anhand einer damals erschienenen archäogenetischen Studie zu Böhmen referiert (Stg21):

Für die frühe Aunjetitzer Kultur (2.300 bis 1.600 v. Ztr.) vermuten die Forscher den zusätzlichen genetischen Beitrag von Glockenbecher-Populationen aus der späten Glockenbecher-Zeit (2.400 bis 2.200 v. Ztr.), die noch nicht sequenziert worden sind, um eine auftretende Verschiebung des genetischen Spektrums Richtung osteuropäischer und westsibirischer Jäger-Sammler-Genetik zu erklären. 
Eine solche genetische Umwälzung zeigt sich an dem Wechsel der Y-chromosomalen Linien noch deutlicher: 80 % der Y-chromosomalen Linien in der frühen Aunjetitzer Kultur sind neu, gehören aber zum Y-chromosomalen Glockenbecher-Spektrum.
All das würde nahelegen, daß es mit Aufkommen der Aunjetitzer Kultur noch einmal einen erneuten genetischen Umbruch in Böhmen gegeben hat, daß also eine Glockenbecher-Untergruppe unter dem Dach der Aunjetizer Kultur andere Glockenbecher-Untergruppen kriegerisch und/oder demographisch "verdrängt" hat. Der genetische Umbruch könnte 50 % der Genetik insgesamt betroffen haben, so die Forscher. Die Forscher sehen Hinweise darauf, daß die Indogermanen der Aunjetitzer Kultur aus dem Ostseeraum stammen. Wenn man sich Verbreitungskarten der Aunjetitzer Kultur ansieht (Wiki), könnte sie diesbezüglich am ehesten aus Pommern stammen.  

Die groben Umrisse der Kultur und Gesellschaft der bedeutenden frühbronzezeitlichen Aunjetitzer Kultur werden damit also eigentlich immer deutlicher sichtbar, ohne daß wir uns das hier auf dem Blog bislang ausreichend deutlich gemacht hatten - bei der Fülle der archäogenetischen Neuerkenntnisse, die sonst zu behandeln war.

Abb. 6: Das Glockenbecherphänomen und beeinflußte benachbarte Territorien (Resg2019)

Auch der vorliegenden Artikel wird dazu nur Ungenügendes leisten. Aber der englischsprachige Wikipedia-Artikel zu dieser Kultur gibt im Grunde schon einen guten Überblick (Wiki). Obwohl es im einzelnen viele Unterschiede geben wird gegenüber der späteren Urnenfelderkultur (1300 bis 750 v. Ztr.) (Wiki), so scheint es doch, als ob - gerade auch mit dem zeitlichen Abstand von heute - sehr viele Gemeinsamkeiten zwischen der Aunjetitzer Kultur einerseits und der Urnenfelder-Kultur andererseits wahrnehmbar sind, zwischen der "Kultur der Himmelsscheibe von Nebra" und der "Goldhut-Kultur" (Stg25). 

Großreiche, stadtähnliche Siedlungen und "Reichsadel" seit dem Mittelneolithikum

Großreiche, Königreiche, Fürstentümer mit einer überregional heiratenden "Beamten-Elite", einem "Adel" hatte es in Europa schon im Mittelneolithikum ab 4.500 v. Ztr. gegeben. In Großsteingräbern und in Statuenmenhiren (Stg19) hat dieser Beamten-Adel Selbstdarstellung betrieben. Solche Statuenmenhire sind auch schon von dem sekundären Urvolk der Indogermanen am Mittleren Dnjepr ab 3.300 v. Ztr. aufgestellt worden. Auch dichter besiedelte Herrschaftszentren, umwallte Anlagen lassen sich schon für die Zeit des Mittelneolilthikums feststellen, nicht nur westlich des Volkes der Späten Urindogermanen am Mittleren Dnjepr (Cucuteni-Tripolje), sondern überall in Europa.

Abb. 7: Waffen und Herrschaftszeichen der Aunjetitzer Kultur (Antiquity) - Gefunden 2021 nahe des Dorfes Mauskow südlich des Warthebruches in Ostbrandenburg

Ab 2.800 v. Ztr. breiten sich dann die halbnomadischen Indogermanen vom heutigen Südpolen, also Wolhynien aus nach und nach über ganz Europa aus. Sie benutzen die Großsteingräber der Vorgängerkulturen weiter, auch religiöse Anlagen benutzen sie weiter (s. Stonehenge). Die zuvor schon bestehenden großstaatlichen Strukturen, Großreiche (etwa der Kugelamphoren-Kultur) scheinen sie ebenfalls einfach weiter geführt zu haben - insbesondere nachdem die Schnurkeramiker und die Glockenbecherleute, die ursprünglich Herdenhalter waren, seßhaft geworden waren und Ackerbau betrieben. 

Sowohl in der Aunjetitzer Kultur wie auch in der Urnenfelder Kultur gab es dann die ersten proto-urbanen Siedlungen, also stadtähnliche Anlagen, deren Existenz vor 15 Jahren hier auf dem Blog noch eine Sensation war (Stg10).

In Böhmen, Mähren und in der Slowakei hat sich die Aunjetitzer Kultur wirtschaftlich und demographisch ebenso erfolgreich entwickelt wie in Sachsen und östlich der Oder. In der Nähe von Prag gab es bedeutende "Fürstengräber", ebenso aber weiter nördlich zwischen Elbe und Weichsel, unter anderem eben auch nahe des Dorfes Łęki Małe zwischen Breslau und Lodz (siehe oben, bzw. siehe unten). In Böhmen, Mähren und der Slowakei gibt es etwa 1.400 dokumentierte Fundstätten der Aunjetitzer Kultur. Im Land östlich der Oder und der Neiße, also im heutigen Polen gibt es 550, im heutigen Deutschland 500 Fundstätten. Außerdem ist die Aunjetitzer Kultur auch in Nordostösterreich sowie in der Westukraine bekannt (Wiki). 

Abb. 8: Die Landschaft südlich des Warthebruchs - Hier das Dorf Mauskow (Feldpost-Karte, 1941)

Insgesamt sind Aunjetitzer Bronze- und Keramikfunde jedoch sogar von Irland und Skandinavien bis hinab in die italienische Halbinsel und bis hinab in den Balkan gemacht worden. Diese Kultur hatte also eine große Strahlkraft, sie bezog auch ihre Rohstoffe und verschiedene Herstellungstechniken aus fast ganz Europa - etwa an der Himmelsscheibe von Nebra ablesbar, die auch als ein Abbild dieser Europa überspannenden Verbindungen angesehen werden kann (Abb. 1).

Aunjetitz international - Wanderungsbewegungen bis in die Levante, bis nach Italien, bis nach Spanien, bis an die Seidenstraße?

Die beiden großen Völkergruppen, die germanische und die kelto-italische, die einerseits von der Schnurkeramik-Kultur, andererseits von der Glockenbecher-Kultur abstammen (Stg24), mögen sich in jener Zeit sprachlich auch noch gar nicht so weit voneinander getrennt haben, als es dann für die Eisenzeit bezeugt, bzw. anzunehmen ist.

Die Aunjetitzer Kultur könnte außerdem sogar ein sprachlich heute ausgestorbenes "Zwischenglied" zwischen beiden gebildet haben, in ihr könnte eine "vor-germanische" und "vor-keltische" Sprache gesprochen worden sein. Die Menschen der Aunjetitzer Kultur scheinen ja ab 1800 v. Ztr. den Weichselraum ganz verlassen zu haben und sich bis nach Nordwestitalien ausgebreitet zu haben. Von ihr scheinen die dortigen Ligurer abzustammen (Stg25), ja, vielleicht stammen ja sogar die in Ugarit im Levanteraum gefundenen Ösenhalsringe und Vollgriffdolche von ihnen (Stg10) - ähnlich wie ja vereinzelt zu jener Zeit auch schon Skandinavier auf Zypern bestattet wurden (Stg24). Sie könnten sogar die lusitanische Sprache auf die iberische Halbinsel gebracht haben (Stg25).

Die eingangs erwähnten "Stabdolche", dreieckigen Bronzezepter (Wiki) (WikiCom) waren verbreitet von Spanien über Irland, sowie über die Tarimwüste bis nach China. Vielleicht ist das ein Hinweis darauf, daß die Tocharer von der Aunjetitzer Kultur abstammen. Aus sprachgeschichtlicher Sicht sollen sie sich ja vergleichsweise früh von den anderen Indogermanen getrennt haben.

Die Gräberfelder der Aunjetitzer Kultur waren in der Regel weniger als ein Kilometer von der zugehörigen Siedlung entfernt. Die Gräber waren astronomisch ausgerichtet, was zusätzlich zur Himmelsscheibe auf fortgeschrittene astronomische Beobachtungen hinweist.

Abb. 9: Ein Landkreis südlich des Warthebruchs - Der Landkreis Oststernberg in der Neumark in Ostbrandenburg - Das Dorf Mauskow liegt ziemlich in der Mitte des Kreises

Während in der nachherigen Urnenfelder-Kultur Bronzeschwerter vorherrschten, herrschten in der Aunjetitzer Kultur die dreieckigen "Bronzezepter", "Stabdolche" vor (Wiki) (WikiCom) zusammen mit dreieckigen Vollgriffdolchen (s. Abb. 2, 7). Es ist nicht endgültig geklkärt, ob die dreieckigen Bronzezepter vornehmlich zeremonielle Funktion hatten und lediglich als Herrschaftszeichen genutzt wurden oder auch als Waffe. Inzwischen scheint es wenigstens einige Anhaltspunkte dafür zu geben, daß sie auch als Hiebwaffen genutzt wurden (siehe gleich).

Religiöse Vorstellungen und Zeremonien haben offensichtlich in beiden Kulturen eine ähnlich große Rolle gespielt wie etwa in der Ilias dargestellt, bzw. wie in der mykenischen und in der antiken Mittelmeer-Kultur. Es kann also vor allem auch Wahrsagerei angenommen werden

Südlich des Warthebruches in Ostbrandenburg - Dreiecks-Zepter als Weihgaben an die Götter (um 1700 v. Ztr.)

Mit den in der Bronzezeit weit verbreiteten, inmitten der Landschaft abgelegten Weihgaben an die Götter haben wir uns hier auf dem Blog schon beschäftigt. Sie wurden oft an landschaftlich besonderen, an landschaftlich schönen Orten niedergelegt (Stg21).

2021 hat ein Bauer auf einem Feld auf einer Anhöhe nahe eines Dorfes vier Kilometer südlich des Warthebruches (Wiki) in der Neumark in Ostbrandenburg, dreißig Kilometer östlich von Küstrin einen mit Steinen abgedeckten Hortfund der Aunjetitzer Kultur entdeckt (Baron2025). Die Anhöhe befindet sich am Nordwestrand des Dorfes  Mauskow (Wiki) (GMaps), die Anhöhe, auf der der Hortfund abgelegt worden war, war vom sogenannten "Mauskower Fließ" umflossen, der nach Norden in den Warthebruch abfließt (Abb. 7-16).

Abb. 10: Die Landschaft südlich des Warthebruchs - Hier das Städtchen Zielenzig - Die Landschaft erinnert ein wenig an die wellige Landschaft Hinterpommerns (Fb)

Mit der Region des Fundortes dieser Aunjetitzer Weihgabe an die Götter nahe dem Dorf Mauskow muß man sich erst ein wenig beschäftigen, da diese Region seit 1945 sehr aus dem Blickfeld geraten ist jener Deutschen, die dort bis 1945 mehr als achthundert Jahre gelebt hatten. Dies geschieht in diesem Beitrag zunächst vor allem anhand von Karten und Fotografien (Abb. 8 - 16).

Bis 1945 gehörte das Dorf Mauskow zum Kreis Oststernberg in der Neumark in Ostbrandenburg (Wiki) (Ostst). Die Hauptstadt des Landkreises Oststernberg war Zielenzig. Von Zielenzig fährt man nach Nordwesten hinaus über die Dörfer Langenfeld und Trebow nach Mauskow (s. Abb. 13). Alle drei genannten Dörfer sind offenbar - anhand der Karte ablesbar - Rodungsinseln inmitten von ausgedehnten Forsten. Von Mauskow geht die Landstraße weiter nach Limmritz, das am Südrand des Warthebruches liegt, der sich nach Westen bis nach Küstrin an der Oder hinzieht. Eine deutsche Karte von diesen Gegenden mit noch höherer Auflösung als den hier in den Blogbeitrag eingebundenen findet sich übrigens auch noch anderwärts (s. Archive).

Im Sommer 1985 fuhr der Verfasser dieser Zeilen von der Oder aus (Frankfurt an der Oder oder Küstrin?) Richtung Osten und kam dann zwei Wochen später von Ostpreußen und von der Marienburg aus, wenn er sich recht erinnert, auch über Küstrin an die Oder zurück. Und er war damals erstaunt, daß man da an weiten Regionen vorbei kam, die unter Wasser standen. Es wird sich um das Warthebruch gehandelt haben.

Abb. 11: Südlich des Warthebruches - Die Örtlichkeit des Hortfundes in Mauskow (Antiquity)

Über die 2021 bei dem Dorf Mauskow gefundene Aunjetitzer Weihgabe an die Götter (Abb. 7) lesen wir nun in einer neuen Veröffentlichung (Baron2025):

Der Hort umfaßt 15 Objekte: fünf Stabdolche, einen Dolchfragment, einen Meißel, eine Axt, eine Streitaxt, einen Röhrenschaft und fünf Nieten. Die Radiokarbondatierung einer Holzprobe aus der Fassung von Objekt Nr. 2 weist auf eine Datierung in die spätere Phase der Frühbronzezeit hin (Poz-164203: 1886–1694 v. Chr.). (...) Obwohl Stabdolche früher vorwiegend als zeremonielle Objekte galten, weisen die Stabdolche aus Mauskow deutliche Gebrauchsspuren wie Beschädigungen an Klingen und Tüllen auf, was darauf hindeutet, daß sie sowohl für zeremonielle als auch für Kampfzwecke gefertigt wurden.

In der Veröffentlichung werden die Stabdolche "halberds" genannt, also zu Deutsch Hellebarden. Letzteres sind aber mittelalterliche Waffen, die nur wenig Bezüge aufweisen zu den bronzezeitlichen Dreiecks-Zeptern, bzw. Stabdolchen.

Man wird jedenfalls annehmen können, daß es in dieser Gegend auch zumindest eine dörfliche Siedlung der Aunjetitzer Kultur gegeben hat, ja daß hier sogar eine Familie des Hochadels der Aunjetitzer Kultur angesiedelt war. Bandkeramische Funde gibt es zum Beispiel bei Angermünde (Brdbg). Ob sie bis in die Neumark östlich der Oder verbreitet war, scheint aktuell nicht sicher feststellbar zu sein. Die Neumark ist zwar von den Berliner Archäologen bis 1945 sehr intensiv erforscht worden, seither aber wissenschaftlich sehr vernachlässigt worden (Acad2007). Vielleicht sind also die drei Rodungsinseln schon von dieser angelegt worden, vielleicht auch erst von mittelneolithischen Nachfolgekulturen.  

Abb. 12: Die Landschaft südlich des Warthebruchs - Ein Findling auf einer Anhöhe bei Zielenzig (Fb) (Früher stand an dieser Stelle auch ein hölzerner Aussichtsturm)

Mauskow hat im Jahr 2005 die 600-Jahr-Feier seines Bestehens gefeiert (s. Mauskow2005). Mit diesem frühbronzezeitlichen Weihgaben-Fund von 2021 kann nun eine 3.700-Jahr-Feier anvisiert werden.

Mauskow ist umgeben von den Landstädten Limmritz und Sonnenburg im Nordwesten, dem Landstädtchen Königswalde im Osten, der Kreishauptstadt Zielenzig (Wiki) 15 Kilometer südöstlich (GMaps). Noch weiter südlich liegt das Städtchen Sternberg (s. Abb. 9). Mauskow ist aber außerdem von großen Wäldern ("Forsten") umgeben: dem Raudener Forst, dem Forst Limmritz, dem Königswalder Forst. Insofern könnten auch die Kiefern im Hintergrund von Aufnahmen des Dokumentarfilmes von 2022 Sinn ergeben (Abb. 3 bis 5). 

Abb. 13: Südlich des Warthebruches - Das Dorf Mauskow liegt - umgeben von Wäldern - nördlich der Kreishauptstadt Zielenzig

1939 hatte Mauskow 540 deutsche Einwohner (GenWiki), heute hat es 270 Einwohner polnischer Muttersprache. Das Dorf wird durch den "Mauskower Fließ" durchflossen (GB1921), der auch der Bezugspunkt des Hortfundes zu sein scheint. Dieses Mauskower Fließ kommt weiter nordwestlich des Dorfes - den Karten nach - auch an einem - vermutlich idyllisch gelegenen - See vorbei.

Abb. 14: Ein farbenfroher Sommertag auf dem Marktplatz von Zielenzig in der Neumark in den 1970er Jahren (Fb)

In Mauskow hat sich unter anderem eine Sage aus dem Dreißigjährigen Krieg erhalten, und zwar von einem Müller, dem die Mühle über dem Kopf von den schwedischen Soldaten angezündet worden ist, und der deshalb mit seiner Frau in seiner Mühle verbrannt ist.

Grund dafür war, daß er das Wasser rund um seine Mühle so weit aufgestaut hatte, daß die plündernden und requirierenden Soldaten nicht an die Mühle und ihre Kornschätze heran kamen und daß sie aus Zorn darüber oder aus Strafe die Mühle mit brennenden Pfeilen anzündeten. 

Abb. 15: Mauskow - Landkarte von 1936 (Landkarten) - - - (für Karte mit höherer Auflösung siehe hier: Archive)

Die anderen Dorfbewohner aber, die in die Wälder geflohen waren, behielten das Müller-Ehepaar in ehrendem Gedenken. Denn als sie in das Dorf zurück kamen, fanden sie die Mühle zwar verbrannt und die Müllersleute tot unter den Trümmern - aber das dort gelagerte Korn war in weiten Teilen erhalten geblieben. Und mit ihm konnten sie den nächsten Winter überstehen in einer Zeit, in der es viel Hungersnot gab. Das erhaltene Korn wurde gerecht auf alle Dorfbewohner aufgeteilt (Mauskow2005).

Abb. 16: Das Dorf Mauskow im Jahr 1905 - Der Hortfund dürfte auf der Anhöhe oben links gefunden worden sein - Nördlich der Anhöhe findet sich ein See (nicht auf der Karte)

Von dem Dorf Mauskow aus 300 Kilometer nach Südosten nahe dem Dorf Łęki Małe (Wiki), 100 Kilometer südwestlich von Lodz, 110 Kilometer nordöstlich von Breslau, gab es nun eine bedeutende Grabhügel-Gruppe der Aunjetitzer Kultur. 

Zwischen Breslau und Lodz - Die Fürstengräber von Łęki Małe 

Łęki Małe liegt zwei Kilometer von dem Städtchen Lututow (Wiki) entfernt, dessen Name abgeleitet war von mittelalterlichen deutschen Personennamen Ludolf. Beide Ortschaften lagen bis 1918 25 Kilometer von der Grenze zum Deutschen Reich bei Wieruszow, bzw. Wilhelmsbrück (Wiki) (GMaps) entfernt. Außerdem liegen beide 112 Kilometer von Breslau an der Oder entfernt (GMaps).

Nahe dieses Dorfes gab es bis in das 19. Jahrhundert hinein 14 Grabhügel der Aunjetitzer Kultur. Von diesen 14 haben sich bis heute vier erhalten und sind erforscht worden. 

Abb. 17: Chronologische Abfolge der Fürstengräber von Łęki Małe (aus: 3) - Grab 3 enthält 19 Angehörige der Fürstenfamilie

Diese erwiesen sich nun als sehr reich ausgestattet. In ihnen fanden sich wiederum Dreiecks-Bronzezepter, bzw. Stabdolche, die wie "Zepter" wirken, aber offenbar auch als Waffen benutzt wurden (s.o.). In einem derselben fand sich sogar ein Vollgriffdolch aus Gold (Wiki). 2022 wurde am größten erhaltenen Grabhügel ein Gedenkstein aufgestellt mitsamt eines Dreiecks-Bronzezepters.

In Grabhügel 3 sind die meisten Menschen bestattet, nämlich insgesamt 19. Es dürfte sich bei ihnen um die Angehörigen derselben Fürsten-, bzw. Königsfamilie gehandelt haben.

Abb. 18: Grabhügel von Łęki Małe im Vergleich mit anderen Fürstengräbern der Aunjetitzer Kultur (aus: 3)

Dieser Grabhügel mit 19 Bestatteten ist eine außergewöhnliche Erscheinung, wenn die bekannten Grabhügel der Aunjetitzer Kultur miteinander verglichen werden (Abb. 18). Es können inzwischen sogar Chronologien von Grabhügeln erstellt werden (Abb. 17-19).

Abb. 19: Entwicklung der Fürstengräber der Aunjetitzer Kultur in Schlesien (aus: 3)

Über die Fürstengräber der Aunjetitzer Kultur lesen wir (3):

In Mitteleuropa wurden ungefähr 55 Grabhügel der Aunjetitzer Kultur gefunden. Die große Mehrheit der Grabhügel ist in der archäologischen Literatur behandelt aber nur etwa 60 % davon sind gemäß modernen wissenschaftlichen Maßstäben ausgegraben worden. Grabhügel sind auch aus Großpolen (Łęki Małe; Kowiańska-Piaszykowa 2008; Knapowska-Mikołajczykowa 1957) und Deutschland (Leubingen, Helmsdorf, Baalberge, Dieskau II, Nienstedt, Kleinkornbetha, Hohenbergen, Sömmerda I–II, Königsaue und Österkörner; Steffen 2010, 19; Kadrow 2001, 123; Gimbutas 1965, 262–268) bekannt. Die höchste Konzentration früher bronzezeitlicher Grabhügel findet sich jedoch in Nord- und Mittelböhmen (z.B. Brandýs, Březno, Mladá Boleslav-Čejetičky-Choboty, Horní Přím, Chotěšov, Kojetice, Konobrže, litovice,Odolena voda, Prag 5 – Řeporyje, Prag 6 – Bubeneč, Selibice, Stračovská lhota, Toužetín, Tursko, Zlončice und Želeč;Danielisová 2013, 81; Kruťová und Turek 2020).
Approximately 55 Uneticean barrows has been found inCentral Europe; the majority of monuments was published in archaeological literature, but only approximately 60% of that number has been excavated according to modern standards. Barrows are also known from Greater Poland (Łęki Małe;Kowiańska-Piaszykowa 2008; Knapowska-Mikołajczykowa1957), and Germany (Leubingen, Helmsdorf, Baalberge, Dieskau II, Nienstedt, Kleinkornbetha, Hohenbergen, Sömmerda I–II, Königsaue and Österkörner; Steffen 2010, 19; Kadrow 2001,123; Gimbutas 1965, 262–268). However the highest concen-tration of the EBA barrows can be found in northern and cen-tral Bohemia (e.g. Brandýs, Březno, Mladá Boleslav-Čejetičky-Choboty, Horní Přím, Chotěšov, Kojetice, Konobrže, litovice,Odolena voda, Prague 5 – Řeporyje, Prague 6 – Bubeneč, Sel-ibice, Stračovská lhota, Toužetín, Tursko, Zlončice and Želeč;Danielisová 2013, 81; Kruťová and Turek 2004; Ernee 2020).

Die Archäogenetik stellt für die Frühe Bronzezeit in Niederösterreich (Stg2010) fest, daß die Donau dort auch eine genetische Grenze darstellte, daß also die oben genannten "genetic replacements" offenbar jeweils an der Donau endeten.

Die Donau als genetische Grenze in der Frühbronzezeit

Die Menschen der Aunjetitzer Kultur nördlich der Donau in Niederösterreich haben zwischen 2.300 und 1.600 v. Ztr. mehr Steppengenetik als anatolisch-neolithische Genetik in sich getragen. Die Menschen der zeitgleichen Unterwölbing-Kultur südlich der Donau haben mehr anatolisch-neolithische Genetik als Steppengenetik in sich getragen. Und zwar grob (4):

  • Aunjetitzer: 50 bis 55 % Steppengenetik, 35 % anatolisch-neolithische Genetik und 12 % westeuropäische Jäger-Sammler-Herkunft
  • Unterwölbing: 35 bis 45 % Steppengenetik, 40 bis 55 % anatolisch-neolithische Genetik und ebenfalls 12 % westeuropäische Jäger-Sammler-Genetik.  

In beiden Völkern konnten nur 18 % der Menschen als Erwachsene rohe Milch verdauen (4).

Das sind einige Schlaglichter auf die Geschichte der Aunjetitzer Kultur, deren Bestehen im Weichselraum offenbar durch Abwanderungen unter anderem nach Norditalien ab 1800 v. Ztr. zu einem Ende kam.

Man darf noch auf viele weitere Details zur Erforschung dieser Kultur gespannt sein. 

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  1. Baron J, Nowak K, Grześkowiak M, Horváth A, Sinkowski S, Sych D.: Halberds of power: an Early Bronze Age hoard from Muszkowo in Poland. Antiquity. Published online 2025:1-8. doi:10.15184/aqy.2025.67 (Antiquity)
  2. 600 Jahre Mauskow. Oststernberger Heimatbrief 2/2005 (pdf)
  3. Dalia Anna Pokutta, Evgeny Vdovchenkov: The Unetice Culture Group in palaeosociological perspective. 2020 (Resg2020)
  4. Tracing social mechanisms and interregional connections in Early Bronze Age Societies in Lower Austria. Anja Furtwaengler, Katharina Rebay-Salisbury, Gunnar U Neumann, Fabian Kanz, Harald Ringbauer, (...) Ron Pinhasi, David Emil Reich, Johannes Krause, Philipp Stockhammer and Alissa Mittnik. bioRxiv. posted 10 February 2025 (bioRxiv2025)

Sonntag, 1. Juni 2025

Der Ausdruck des Schmerzes - War er bei den antiken Griechen anders?

G. E. Lessing über die Andersartigkeit der antiken Griechen im Umgang mit Schmerz im Vergleich zu den Nordeuropäern

Daß das Wesen der antik-griechischen Kultur kulturpsychologisch aus ganz anderen Gesetzmäßigkeiten entsprungen gewesen sein könnte als das Wesen der abendländischen Kultur, darauf hat erstmals Friedrich Hölderlin hingewiesen (s. Stg23). Seine Gedanken darüber blieben aber im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unbeachtet. Sie fanden erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Beachtung und bilden seither den Kern der sogenannten "Hellas-Hesperien-Debatte", die vor allem vor allem von Literaturwissenschaftlern geführt wird. 

Abb. 1: Die Laokoon-Gruppe, eines der berühmtesten Kunstwerke der europäischen Geschichte (Wiki) - Sie wurde von den Bildhauern Hagesandros, Polydoros und Athanadoros aus Rhodos geschaffen - In einem Zeitraum zwischen 200 v. Ztr. und 79 n. Ztr. (denn Plinius der Ältere, der 79 n. Ztr. in Pompeij starb, erwähnte dieses Kunstwerk)

Hier auf dem Blog waren wir auf dieses Thema aufmerksam geworden, als es galt, von geisteswissenschaftlicher Seite her die archäogenetische Erkenntnis zu deuten, nach der das "Paradevolk" der Indogermanen, die antiken Griechen nur acht Prozent indogermanische Steppengenetik aufgewiesen haben (Stg22). Nach dieser waren sie also von ihrer Genetik her gesehen alles andere mehr als ausgerechnet "Indogermanen". Damit war die Hölderlin'sche Erkenntnis völlig unerwartet von einer Seite her bestätigt und bekräftigt worden, von der man es vielleicht am wenigsten hätte erwarten können oder von der es nur von wenigen erwartet worden war. 

Auch so manche Deutung der antik-griechischen Kultur durch Friedrich Nietzsche erhielt für uns vor dem Hintergrund der neuen archäogenetischen Erkenntnissen neues Gewicht (Stg23).

Lessing's Schrift "Laokoon"

Nun stoßen wir neuerdings zusätzlich auf die Schrift "Laokoon" von Gotthold Ephraim Lessing aus dem Jahr 1766 (1). Wir entdecken, daß auch Lessing darin schon mit der Andersartigkeit des Wesens der antiken Griechen, sowie daraus folgend ihrer Kunst und Kultur im Vergleich zu dem Wesen der Nordeuropäer beschäftigt war.

Ein zentrales Argument Lessings im "Laokoon" ist, so lassen wir uns durch die KI belehren: In der Dichtung darf der Schmerz lauter und ungehemmter sein, weil dort keine visuellen Grenzen gesetzt sind. In der bildenden Kunst (z. B. Skulptur) muß der Ausdruck so gestaltet sein, daß er dem Ideal der Schönheit entspricht - und dauerhaft betrachtet werden kann. In diesem Sinne behandelt er die im Untertitel genannten "Grenzen der Malerei und Poesie". Lessing war sicherlich der Meinung, daß es sich hierbei um allgemein gültige und kulturunabhängige "Grenzen" handeln würde. Aber im Verlauf seiner Ausführungen kommt er auch darauf zu sprechend, daß die antik-griechische Kultur ganz anders mit dem Ausdruck von Schmerz umgegangen ist als die abendländische.

Zunächst zitiert Lessing die Ausführungen von Johann Joachim Winckelmann über den Ausdruck des Schmerzes in der Laokoon-Gruppe (Abb. 1). Er stimmt ihnen zu. Allerdings regt sich in ihm ein Widerstand bei der Bemerkung Winckelmann's, in der Laokoon-Gruppe zeige sich der Schmerz ebenso wie ihn der Philoktet in der gleichnamigen Tragödie des Sophokles (Wiki) aus dem Jahr 409 v. Ztr. zeigen würde. An dieser Stelle widerspricht Lessing und macht darauf aufmerksam, daß es eine Fülle von Zeugnissen in der antik-griechischen Dichtung und Geschichtsschreibung gibt, wo der Schmerz keineswegs so "gemessen" und "ruhig", so "ohne Wut", "ohne Geschrei" zum Ausdruck kommt wie es - nach der Deutung Winckelmann's - in dieser Laokoon-Gruppe geschieht. Lessing schreibt (1):

Schreien ist der natürliche Ausdruck des körperlichen Schmerzes. Homers verwundete Krieger fallen nicht selten mit Geschrei zu Boden. Die geritzte Venus schreiet laut (...). Selbst der eherne Mars, als er die Lanze des Diomedes fühlet, schreiet so gräßlich, als schrien zehntausend wütende Krieger zugleich, daß beide Heere sich entsetzen.
Soweit auch Homer sonst seine Helden über die menschliche Natur erhebt, so treu bleiben sie ihr doch stets, wenn es auf das Gefühl der Schmerzen und Beleidigungen, wenn es auf die Äußerung dieses Gefühls durch Schreien, oder durch Tränen, oder durch Scheltworte ankommt. Nach ihren Taten sind es Geschöpfe höherer Art; nach ihren Empfindungen wahre Menschen. 
Ich weiß es, wir feinern Europäer einer klügern Nachwelt wissen über unsern Mund und über unsere Augen besser zu herrschen. Höflichkeit und Anstand verbieten Geschrei und Tränen. Die tätige Tapferkeit des ersten rauhen Weltalters hat sich bei uns in eine leidende verwandelt. Doch selbst unsere Ureltern waren in dieser größer, als in jener. Aber unsere Ureltern waren Barbaren. Alle Schmerzen verbeißen, dem Streiche des Todes mit unverwandtem Auge entgegensehen, unter den Bissen der Nattern lachend sterben, weder seine Sünde noch den Verlust seines liebsten Freundes beweinen, sind Züge des alten nordischen Heldenmuts. Palnatoko gab seinen Jomsburgern das Gesetz, nichts zu fürchten, und das Wort Furcht auch nicht einmal zu nennen.

Lessing gibt hier - wie nebenbei - eine sehr gute Charakterisierung der mittelalterlichen Island-Sagas. So fremdländisch der hier erwähnte Name Palnatoko klingt, so ist er überraschenderweise doch eine Gestalt der Jomsvikinger-Saga (s. Wiki). Lessing deutet damit an, daß die andere Art des Umgangs mit Schmerz und Angst in Nordeuropa nichts mit irgendeiner Art von angeblicher "Zivilisation", bzw. "Kultivierung" - etwa durch das Christentum oder auch durch moderne Affektiertheit - zu tun hat, sondern schon ursprünglicher zum Wesen der nordeuropäischen Völker gehörte. Das würde umgekehrt heißen, daß es zum ursprünglicheren Wesen der antiken Griechen gehört hätte, Furcht und Schmerzen unbefangen zu zeigen und zum Ausdruck zu bringen.*) Dies geschieht ja nicht nur in der Dichtung, auch in der Geschichtsschreibung hören wir davon, etwa im Zusammenhang mit dem Lebensschicksal des Miltiades (Stg23). Und so schreibt Lessing dann in diesem Sinne weiter (1):

Nicht so der Grieche! Er fühlte und furchte sich; er äußerte seine Schmerzen und seinen Kummer; er schämte sich keiner der menschlichen Schwachheiten; keine mußte ihn aber auf dem Wege nach Ehre, und von Erfüllung seiner Pflicht zurückhalten. Was bei dem Barbaren aus Wildheit und Verhärtung entsprang, das wirkten bei ihm Grundsätze. Bei ihm war der Heroismus wie die verborgenen Funken im Kiesel, die ruhig schlafen, solange keine äußere Gewalt sie wecket, und dem Steine weder seine Klarheit noch seine Kälte nehmen. Bei dem Barbaren war der Heroismus eine helle fressende Flamme, die immer tobte, und jede andere gute Eigenschaft in ihm verzehrte, wenigstens schwärzte.

Letztere Auffassung über die heidnischen Germanen und Wikinger ist eine Typische für das 18. Jahrhundert. Sie ist Ausdruck des Zeitgeistes, der noch kein wirkliches Verständnis für diese gefunden hatte. Dieses kam erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf und man begann zu sehen, daß die Furchtlosigkeit der heidnischen Germanen keineswegs zwangsläufig gute Eigenschaften "schwärzte". Im Gegensatz dazu stand Lessing als Kind seiner Zeit den antiken Griechen mit viel größerem Verständnis gegenüber (1): 

Es ist merkwürdig, daß unter den wenigen Trauerspielen, die aus dem Altertume auf uns gekommen sind, sich zwei Stücke finden, in welchen der körperliche Schmerz nicht der kleinste Teil des Unglücks ist, das den leidenden Helden trifft. Außer dem Philoktet, der sterbende Herkules. Und auch diesen läßt Sophokles klagen, winseln, weinen und schreien. (...)
Selbst ein Laokoon findet sich unter den verlornen Stücken des Sophokles. Wenn uns das Schicksal doch auch diesen Laokoon gegönnet hätte! Aus den leichten Erwähnungen, die seiner einige alte Grammatiker tun, läßt sich nicht schließen, wie der Dichter diesen Stoff behandelt habe. So viel bin ich versichert, daß er den Laokoon nicht stoischer als den Philoktet und Herkules, wird geschildert haben.

Lessing kommt dann wieder auf die Laokoon-Gruppe zurück (1):

Und nunmehr komme ich zu meiner Folgerung. Wenn es wahr ist, daß das Schreien bei Empfindung körperlichen Schmerzes, besonders nach der alten griechischen Denkungsart, gar wohl mit einer großen Seele bestehen kann: so kann der Ausdruck einer solchen Seele die Ursache nicht sein, warum demohngeachtet der Künstler in seinem Marmor dieses Schreien nicht nachahmen wollen; sondern es muß einen andern Grund haben, warum er hier von seinem Nebenbuhler, dem Dichter, abgehet, der dieses Geschrei mit bestem Vorsatze ausdrücket. 

Wie schon gesagt, ist der Grundgedanke dieser Schrift von Lessing, daß der Dichter - sowohl bei den antiken Griechen wie in der Moderne - den Schmerz viel expressiver darstellen und zum Ausdruck bringen dürfe als der Maler oder Bildhauer. Denn den antiken Griechen und der Moderne würde Schönheit über alles gehen und ein schmerzverzerrtes Gesicht, das ein Maler oder ein Bildhauer gar zu expressiv und "naturalistisch" zum Ausdruck bringen würde, würde damit nicht in Einklang zu bringen sein.

Darin spiegelt sich natürlich wiederum vor allem die Kunstauffassung des 18. Jahrhunderts. Die expressionistischen Bilder etwa eines Edvard Munch oder auch die Skulptur "Krieg" des Höchster Bildhauers Richard Biringer (1877-1947) aus dem Jahr 1928 (Wiki) halten sich ja dann später keineswegs mehr an solche Sichtweisen. Aber obwohl es Lessing gar nicht deutlich ausdrücklich anspricht, sind seine Ausführungen natürlich auch als eine Kritik an vielen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Darstellungen der "Leiden Christi" anzusehen. Auch ein Maler wie Matthias Grünewald (1480-1528) (Wiki) würde aus seiner Sichtweise mancherlei Kritik auf sich ziehen.

Abb. 2: Medea mit ihren Kindern - Wandmalerei in Pompeji, Museum von Neapel (Wiki)

Es ist sehr interessant, daß Lessing auch auf ein antik-griechischen Kunstwerk zu sprechen kommt, das wir selbst schon andernorts behandelt haben: "Ein Kind in einem Ehekonflikt in Pompeji im Jahr 79 n. Ztr." (GAj2021) (Abb. 2). Wir erfahren durch Lessing, daß die sehr psychologische Darstellung in diesem Kunstwerk ebenfalls von der Tendenz der antik-griechischen Künstler geprägt wäre, nichts gar zu Häßliches darstellen zu wollen, nämlich in diesem Fall die Tötung der eigenen Kinder durch Medea. Stattdessen wird in diesem Fall als Thema das unmittelbare Innehalten vor dem Ausführen der Tat selbst gewählt. Um dieser "psychologischen" Darstellungen willen hat der Maler Timomachus in der Antike sehr viel Wertschätzung erfahren, etwa von Cäsar, in dessen Leben ein Innehalten vor der Tat ja ebenfalls wiederholt eine Rolle spielte.

Indem Lessing allerdings Cicero zitiert, wird auch deutlich, daß die antiken Römer insgesamt einen anderen Umgang mit Schmerz kannten als die antiken Griechen. Vielleicht kein Wunder, denn sie trugen ja auch 12 % indogermanische Steppengenetik mehr in sich.

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*) Lessing ist in dieser Sichtweise allerdings keineswegs konsequent. In Ausführungen nur einige Seiten weiter meint er es allein mit Kunstgesetzen entschuldigen zu können, daß von griechischen Dichtern dennoch Schmerzen zum Ausdruck gebracht werden. Er schließt aus anderen antiken Dichtungen auf die verloren gegangene Laokoon-Dichtung des Vergil und schreibt über letztere (1):

Virgils Laokoon schreiet, aber dieser schreiende Laokoon ist eben derjenige, den wir bereits als den vorsichtigsten Patrioten, als den wärmsten Vater kennen und lieben. Wir beziehen sein Schreien nicht auf seinen Charakter, sondern lediglich auf sein unerträgliches Leiden. Dieses allein hören wir in seinem Schreien; und der Dichter konnte es uns durch dieses Schreien allein sinnlich machen.  

Hier scheint doch wieder seine ("abendländische") Meinung durch, daß Schreien Ausdruck eines weniger heldischen Charakters wäre, obwohl er doch zuvor und sonst schon klar gemacht hatte, daß diese Auffassung eben eine abendländische ist und für die antik-griechische Welt gar nicht kennzeichnend war. Er hält also an seinen eigenen Erkenntnissen nicht durchgehend fest. Aber ihm geht es ja auch im Kern allgemein um die "Grenzen der Malerei und Poesie", nicht um Wesensunterschiede zwischen Antike und Abendland.

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  1. Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Mit beiläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte. 1766 (Gutenb)

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