Sonntag, 1. Juni 2025

Der Ausdruck des Schmerzes - War er bei den antiken Griechen anders?

G. E. Lessing über die Andersartigkeit der antiken Griechen im Umgang mit Schmerz im Vergleich zu den Nordeuropäern

Daß das Wesen der antik-griechischen Kultur kulturpsychologisch aus ganz anderen Gesetzmäßigkeiten entsprungen gewesen sein könnte als das Wesen der abendländischen Kultur, darauf hat erstmals Friedrich Hölderlin hingewiesen (s. Stg23). Seine Gedanken darüber blieben aber im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unbeachtet. Sie fanden erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Beachtung und bilden seither den Kern der sogenannten "Hellas-Hesperien-Debatte", die vor allem vor allem von Literaturwissenschaftlern geführt wird. 

Abb. 1: Die Laokoon-Gruppe, eines der berühmtesten Kunstwerke der europäischen Geschichte (Wiki) - Sie wurde von den Bildhauern Hagesandros, Polydoros und Athanadoros aus Rhodos geschaffen - In einem Zeitraum zwischen 200 v. Ztr. und 79 n. Ztr. (denn Plinius der Ältere, der 79 n. Ztr. in Pompeij starb, erwähnte dieses Kunstwerk)

Hier auf dem Blog waren wir auf dieses Thema aufmerksam geworden, als es galt, von geisteswissenschaftlicher Seite her die archäogenetische Erkenntnis zu deuten, nach der das "Paradevolk" der Indogermanen, die antiken Griechen nur acht Prozent indogermanische Steppengenetik aufgewiesen haben (Stg22). Nach dieser waren sie also von ihrer Genetik her gesehen alles andere mehr als ausgerechnet "Indogermanen". Damit war die Hölderlin'sche Erkenntnis völlig unerwartet von einer Seite her bestätigt und bekräftigt worden, von der man es vielleicht am wenigsten hätte erwarten können oder von der es nur von wenigen erwartet worden war. 

Auch so manche Deutung der antik-griechischen Kultur durch Friedrich Nietzsche erhielt für uns vor dem Hintergrund der neuen archäogenetischen Erkenntnissen neues Gewicht (Stg23).

Lessing's Schrift "Laokoon"

Nun stoßen wir neuerdings zusätzlich auf die Schrift "Laokoon" von Gotthold Ephraim Lessing aus dem Jahr 1766 (1). Wir entdecken, daß auch Lessing darin schon mit der Andersartigkeit des Wesens der antiken Griechen, sowie daraus folgend ihrer Kunst und Kultur im Vergleich zu dem Wesen der Nordeuropäer beschäftigt war.

Ein zentrales Argument Lessings im "Laokoon" ist, so lassen wir uns durch die KI belehren: In der Dichtung darf der Schmerz lauter und ungehemmter sein, weil dort keine visuellen Grenzen gesetzt sind. In der bildenden Kunst (z. B. Skulptur) muß der Ausdruck so gestaltet sein, daß er dem Ideal der Schönheit entspricht - und dauerhaft betrachtet werden kann. In diesem Sinne behandelt er die im Untertitel genannten "Grenzen der Malerei und Poesie". Lessing war sicherlich der Meinung, daß es sich hierbei um allgemein gültige und kulturunabhängige "Grenzen" handeln würde. Aber im Verlauf seiner Ausführungen kommt er auch darauf zu sprechend, daß die antik-griechische Kultur ganz anders mit dem Ausdruck von Schmerz umgegangen ist als die abendländische.

Zunächst zitiert Lessing die Ausführungen von Johann Joachim Winckelmann über den Ausdruck des Schmerzes in der Laokoon-Gruppe (Abb. 1). Er stimmt ihnen zu. Allerdings regt sich in ihm ein Widerstand bei der Bemerkung Winckelmann's, in der Laokoon-Gruppe zeige sich der Schmerz ebenso wie ihn der Philoktet in der gleichnamigen Tragödie des Sophokles (Wiki) aus dem Jahr 409 v. Ztr. zeigen würde. An dieser Stelle widerspricht Lessing und macht darauf aufmerksam, daß es eine Fülle von Zeugnissen in der antik-griechischen Dichtung und Geschichtsschreibung gibt, wo der Schmerz keineswegs so "gemessen" und "ruhig", so "ohne Wut", "ohne Geschrei" zum Ausdruck kommt wie es - nach der Deutung Winckelmann's - in dieser Laokoon-Gruppe geschieht. Lessing schreibt (1):

Schreien ist der natürliche Ausdruck des körperlichen Schmerzes. Homers verwundete Krieger fallen nicht selten mit Geschrei zu Boden. Die geritzte Venus schreiet laut (...). Selbst der eherne Mars, als er die Lanze des Diomedes fühlet, schreiet so gräßlich, als schrien zehntausend wütende Krieger zugleich, daß beide Heere sich entsetzen.
Soweit auch Homer sonst seine Helden über die menschliche Natur erhebt, so treu bleiben sie ihr doch stets, wenn es auf das Gefühl der Schmerzen und Beleidigungen, wenn es auf die Äußerung dieses Gefühls durch Schreien, oder durch Tränen, oder durch Scheltworte ankommt. Nach ihren Taten sind es Geschöpfe höherer Art; nach ihren Empfindungen wahre Menschen. 
Ich weiß es, wir feinern Europäer einer klügern Nachwelt wissen über unsern Mund und über unsere Augen besser zu herrschen. Höflichkeit und Anstand verbieten Geschrei und Tränen. Die tätige Tapferkeit des ersten rauhen Weltalters hat sich bei uns in eine leidende verwandelt. Doch selbst unsere Ureltern waren in dieser größer, als in jener. Aber unsere Ureltern waren Barbaren. Alle Schmerzen verbeißen, dem Streiche des Todes mit unverwandtem Auge entgegensehen, unter den Bissen der Nattern lachend sterben, weder seine Sünde noch den Verlust seines liebsten Freundes beweinen, sind Züge des alten nordischen Heldenmuts. Palnatoko gab seinen Jomsburgern das Gesetz, nichts zu fürchten, und das Wort Furcht auch nicht einmal zu nennen.

Lessing gibt hier - wie nebenbei - eine sehr gute Charakterisierung der mittelalterlichen Island-Sagas. So fremdländisch der hier erwähnte Name Palnatoko klingt, so ist er überraschenderweise doch eine Gestalt der Jomsvikinger-Saga (s. Wiki). Lessing deutet damit an, daß die andere Art des Umgangs mit Schmerz und Angst in Nordeuropa nichts mit irgendeiner Art von angeblicher "Zivilisation", bzw. "Kultivierung" - etwa durch das Christentum oder auch durch moderne Affektiertheit - zu tun hat, sondern schon ursprünglicher zum Wesen der nordeuropäischen Völker gehörte. Das würde umgekehrt heißen, daß es zum ursprünglicheren Wesen der antiken Griechen gehört hätte, Furcht und Schmerzen unbefangen zu zeigen und zum Ausdruck zu bringen.*) Dies geschieht ja nicht nur in der Dichtung, auch in der Geschichtsschreibung hören wir davon, etwa im Zusammenhang mit dem Lebensschicksal des Miltiades (Stg23). Und so schreibt Lessing dann in diesem Sinne weiter (1):

Nicht so der Grieche! Er fühlte und furchte sich; er äußerte seine Schmerzen und seinen Kummer; er schämte sich keiner der menschlichen Schwachheiten; keine mußte ihn aber auf dem Wege nach Ehre, und von Erfüllung seiner Pflicht zurückhalten. Was bei dem Barbaren aus Wildheit und Verhärtung entsprang, das wirkten bei ihm Grundsätze. Bei ihm war der Heroismus wie die verborgenen Funken im Kiesel, die ruhig schlafen, solange keine äußere Gewalt sie wecket, und dem Steine weder seine Klarheit noch seine Kälte nehmen. Bei dem Barbaren war der Heroismus eine helle fressende Flamme, die immer tobte, und jede andere gute Eigenschaft in ihm verzehrte, wenigstens schwärzte.

Letztere Auffassung über die heidnischen Germanen und Wikinger ist eine Typische für das 18. Jahrhundert. Sie ist Ausdruck des Zeitgeistes, der noch kein wirkliches Verständnis für diese gefunden hatte. Dieses kam erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf und man begann zu sehen, daß die Furchtlosigkeit der heidnischen Germanen keineswegs zwangsläufig gute Eigenschaften "schwärzte". Im Gegensatz dazu stand Lessing als Kind seiner Zeit den antiken Griechen mit viel größerem Verständnis gegenüber (1): 

Es ist merkwürdig, daß unter den wenigen Trauerspielen, die aus dem Altertume auf uns gekommen sind, sich zwei Stücke finden, in welchen der körperliche Schmerz nicht der kleinste Teil des Unglücks ist, das den leidenden Helden trifft. Außer dem Philoktet, der sterbende Herkules. Und auch diesen läßt Sophokles klagen, winseln, weinen und schreien. (...)
Selbst ein Laokoon findet sich unter den verlornen Stücken des Sophokles. Wenn uns das Schicksal doch auch diesen Laokoon gegönnet hätte! Aus den leichten Erwähnungen, die seiner einige alte Grammatiker tun, läßt sich nicht schließen, wie der Dichter diesen Stoff behandelt habe. So viel bin ich versichert, daß er den Laokoon nicht stoischer als den Philoktet und Herkules, wird geschildert haben.

Lessing kommt dann wieder auf die Laokoon-Gruppe zurück (1):

Und nunmehr komme ich zu meiner Folgerung. Wenn es wahr ist, daß das Schreien bei Empfindung körperlichen Schmerzes, besonders nach der alten griechischen Denkungsart, gar wohl mit einer großen Seele bestehen kann: so kann der Ausdruck einer solchen Seele die Ursache nicht sein, warum demohngeachtet der Künstler in seinem Marmor dieses Schreien nicht nachahmen wollen; sondern es muß einen andern Grund haben, warum er hier von seinem Nebenbuhler, dem Dichter, abgehet, der dieses Geschrei mit bestem Vorsatze ausdrücket. 

Wie schon gesagt, ist der Grundgedanke dieser Schrift von Lessing, daß der Dichter - sowohl bei den antiken Griechen wie in der Moderne - den Schmerz viel expressiver darstellen und zum Ausdruck bringen dürfe als der Maler oder Bildhauer. Denn den antiken Griechen und der Moderne würde Schönheit über alles gehen und ein schmerzverzerrtes Gesicht, das ein Maler oder ein Bildhauer gar zu expressiv und "naturalistisch" zum Ausdruck bringen würde, würde damit nicht in Einklang zu bringen sein.

Darin spiegelt sich natürlich wiederum vor allem die Kunstauffassung des 18. Jahrhunderts. Die expressionistischen Bilder etwa eines Edvard Munch oder auch die Skulptur "Krieg" des Höchster Bildhauers Richard Biringer (1877-1947) aus dem Jahr 1928 (Wiki) halten sich ja dann später keineswegs mehr an solche Sichtweisen. Aber obwohl es Lessing gar nicht deutlich ausdrücklich anspricht, sind seine Ausführungen natürlich auch als eine Kritik an vielen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Darstellungen der "Leiden Christi" anzusehen. Auch ein Maler wie Matthias Grünewald (1480-1528) (Wiki) würde aus seiner Sichtweise mancherlei Kritik auf sich ziehen.

Abb. 2: Medea mit ihren Kindern - Wandmalerei in Pompeji, Museum von Neapel (Wiki)

Es ist sehr interessant, daß Lessing auch auf ein antik-griechischen Kunstwerk zu sprechen kommt, das wir selbst schon andernorts behandelt haben: "Ein Kind in einem Ehekonflikt in Pompeji im Jahr 79 n. Ztr." (GAj2021) (Abb. 2). Wir erfahren durch Lessing, daß die sehr psychologische Darstellung in diesem Kunstwerk ebenfalls von der Tendenz der antik-griechischen Künstler geprägt wäre, nichts gar zu Häßliches darstellen zu wollen, nämlich in diesem Fall die Tötung der eigenen Kinder durch Medea. Stattdessen wird in diesem Fall als Thema das unmittelbare Innehalten vor dem Ausführen der Tat selbst gewählt. Um dieser "psychologischen" Darstellungen willen hat der Maler Timomachus in der Antike sehr viel Wertschätzung erfahren, etwa von Cäsar, in dessen Leben ein Innehalten vor der Tat ja ebenfalls wiederholt eine Rolle spielte.

Indem Lessing allerdings Cicero zitiert, wird auch deutlich, daß die antiken Römer insgesamt einen anderen Umgang mit Schmerz kannten als die antiken Griechen. Vielleicht kein Wunder, denn sie trugen ja auch 12 % indogermanische Steppengenetik mehr in sich.

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*) Lessing ist in dieser Sichtweise allerdings keineswegs konsequent. In Ausführungen nur einige Seiten weiter meint er es allein mit Kunstgesetzen entschuldigen zu können, daß von griechischen Dichtern dennoch Schmerzen zum Ausdruck gebracht werden. Er schließt aus anderen antiken Dichtungen auf die verloren gegangene Laokoon-Dichtung des Vergil und schreibt über letztere (1):

Virgils Laokoon schreiet, aber dieser schreiende Laokoon ist eben derjenige, den wir bereits als den vorsichtigsten Patrioten, als den wärmsten Vater kennen und lieben. Wir beziehen sein Schreien nicht auf seinen Charakter, sondern lediglich auf sein unerträgliches Leiden. Dieses allein hören wir in seinem Schreien; und der Dichter konnte es uns durch dieses Schreien allein sinnlich machen.  

Hier scheint doch wieder seine ("abendländische") Meinung durch, daß Schreien Ausdruck eines weniger heldischen Charakters wäre, obwohl er doch zuvor und sonst schon klar gemacht hatte, daß diese Auffassung eben eine abendländische ist und für die antik-griechische Welt gar nicht kennzeichnend war. Er hält also an seinen eigenen Erkenntnissen nicht durchgehend fest. Aber ihm geht es ja auch im Kern allgemein um die "Grenzen der Malerei und Poesie", nicht um Wesensunterschiede zwischen Antike und Abendland.

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  1. Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Mit beiläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte. 1766 (Gutenb)

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