Sonntag, 24. September 2023

Die Semiten - Träger der ältesten Hochkultur der Menschheit

Die semitische Völkergruppe
- Die grundlegende Frage: In welchem Verhältnis steht die semitische Sprach- und Völkerfamilie zur levantinischen Herkunftsgruppe der Archäogenetik? 
- Ist die Frage der Urheimat der semitischen Sprach- und Völkergruppe geklärt?
- Lassen sich deshalb gemeinsame Charakteristika ihrer - womöglich - fünfzehntausend Jahre währenden Geschichte - erstmals - schärfer umreißen?
- Wurden gerade durch sie erstmals wesentliche Stufen der Kulturgeschichte der Menschheit beschritten? Gaben sie uns "unser täglich Brot"?
- Und warum sind zugleich mit ihr bis heute Polarisierungen verbunden wie mit kaum einer anderen Sprachfamilie?

Seit 2015 und 2019 ist die Frage nach der Urheimat der Indogermanen - so scheint uns - im Großen und Ganzen geklärt. Ausgiebig haben wir hier auf dem Blog in den letzten Jahren Blogartikel dazu veröffentlicht. Möglich war uns das deshalb, weil wir uns schon seit Studienzeiten mit diesen Fragen immer einmal wieder beschäftigt hatten. Das Ergebnis lautet kurz gefaßt: Bei dem Urvolk der Indogermanen handelt es sich um die Chwalynsk-Kultur an der Mittleren Wolga um 4.500 v. Ztr. (Stgen2019). 

Abb. 1: Möglicherweise ein Stadtdespot aus einer der ältesten Städte der Menschheit, aus der Stadt Jericho um 7000 v. Ztr. - Übermodellierter Schädel ("plastered skull") des Vorkeramischen Neolithikums B (PPNB), entdeckt 1953 (Kenyon Jericho Archive, UCL)

Auch manche frühen kulturellen Charakteristika der Indogermanen hatten wir in diesem Zusammenhang schon benennen können, etwa: das ausgeprägte Kriegertum, der heldische Wille (Stgen2022), das Denken und Handeln in räumlich großen Dimensionen, die Verehrung der Göttin der Morgenröte (Stgen2021) und vieles anderes mehr.

Nachdem auf diesem Gebiet in den letzten Jahren so viele Neueinsichten hatten gewonnen werden können, wächst natürlich die Erwartung dahingehend, daß ähnliche Klärungen und Neueinsichten auch für die Geschichte anderer Sprachfamilien der Menschheit gewonnen werden können. Wir hatten uns diesbezüglich schon sehr früh 

  • mit der Bantu-Sprachfamilie beschäftigt (anhand der Studie "Genes and Semes in Africa" von 2002), 
  • mit der finno-ugrischen Sprachfamilie (anhand der wertvollen Filmdokumentationen von Lennart Meri und ausgehend von der Klärung der Herkunft des Landnahme-Volkes in Ungarn im Frühmittelalter).
  • Die Ausbreitung der anatolisch-neolithischen Völkergruppe, die - vielleicht - ägäische Sprachen gesprochen hat, war immer wieder Thema hier auf dem Blog. 
  • Auch haben wir erst jüngst erste Erkundungen hinsichtlich der slawischen Sprachfamilie und ihrer Geschichte unternommen. Seitenblicke fielen 
  • auf die Ausbreitung der sino-tibetischen Sprachfamilie und 
  • der austronesischen Sprachfamilie.   

Ausständig hier auf dem Blog ist unter anderem eine Auseinandersetzung mit der Frage nach der Urheimat und der Geschichte der semitischen Sprach- und Völkergruppe (Wiki). Auf den ersten Blick wundern wir uns, daß es dazu so viel weniger intensive wissenschaftliche Erörterungen im Vergleich zu den anderen genannten Sprachfamilien zu geben scheint. Aber das mag auch daran liegen, daß wir auf dieses Thema bisher noch nie bewußter das Augenmerk gelegt haben.

Der vorliegende Blogartikel zu diesem Thema ist also - wie so oft - nur als eine erste Erkundung in Richtung dieses Themenbereiches aufzufassen. In ihn werden künftig noch viele Korrekturen und Ergänzungen eingearbeitet werden müssen. Zwar bringen wir auch zu diesem Thema einige Vorkenntnisse mit. Allerdings sind diese nicht mit unseren Vorkenntnissen zum Thema der Urheimat und Geschichte der Indogermanen zu vergleichen. Wir müssen uns hier in viele Fragestellungen und Themen völlig neu einarbeiten. Wir begeben uns hier unter anderem in den Bereich der Altorientalistik (Wiki), in ein altes, ehrwürdiges Forschungsfach, zu dem wir uns viel mehr Vorkenntnisse wünschen, als wir sie derzeit schon aufweisen können. Zu ihr können wir zunächst nur auf sehr zufällige Bücherbestände im heimischen Bücherschrank zurück greifen (Hommel 1885, Barbini 1968).

Auf Wikipedia gibt es zu dieser Thematik das Portal "Alter Orient" (Wiki).

Wir wollen zur Geschichte der semitischen Sprachfamilie einige "Thesen" aufstellen. Um so prononcierter wir sie formulieren, um so besser werden wir sie künftig bei weiterer Recherche bestätigen oder widerlegen können. Im folgenden ist also zu dieser Frage das wenigste "in Stein gemeißelt". Die Geschichte der Archäogenetik der letzten Jahre sollte einen sowieso zurückhaltend gemacht haben. Allzu viele Vorannahmen, die in der Wissenschaft und im kulturellen Bewußtsein Jahrzehnte lang Geltung hatten, sind in den letzten Jahren über den Haufen geworfen worden und größeren, auch ungewohnten Gewißheiten gewichen. Ähnliches dürfte auch zur Geschichte der semitischen Sprachfamilie zu erwarten sein.

Auf Wikipedia wird gegenwärtig alles noch sehr vage behandelt (Wiki). Immerhin wird aber auf einer Grafik die Urheimat der Semiten schon auf die Zeit um 6000 vor heute im Levanteraum eingegrenzt und datiert (Wiki). Wie sollte man damit aber erklären, daß Menschen im Jemen noch heute eine semitische Sprache sprechen und genetisch weitgehend unvermischt von den Natufiern abstammen (Studgen2019)? Diese Erkenntnis soll das Aufstellen von Thesen im folgenden leiten.

Abb. 2: In der Region von Saba im Jemen hat sich die Genetik der Natufier am ursprünglichsten bis heute erhalten - Ein Beduine aus Schouba (Saba), fotografiert von Hans Helfritz 1935 (aus: Hellfritz 1935)

Seit 1995 hat sich der Bloginhaber immer einmal wieder mit Aspekten der Jahrtausende langen Völkergeschichte der Semiten im Vorderen Orient beschäftigt: 

  • 1995 behandelten wir in einer Seminararbeit vergleichsweise gründlich die vorkeramischen Kulturen des Vorderen Orients (8),  
  • 2008 behandelten wir die Stadtentwicklung in Nordmesopotamien im 4. Jahrtausend v. Ztr. (Stgen2008), 
  • 2012 die lange Vorlaufphase des Natufiums im Fruchtbaren Halbmond (Stgen2012), 
  • 2017 den Schädelkult am Göbekli Tepe (Kb2017), 
  • 2019 Grabstelen auf der arabischen Halbinsel aus dem 4. Jahrtausend v. Ztr. (Stgen2019), sowie neue Erkenntnisse über das Bergheiligtum auf dem Göbekli Tepe (Stgen2019). 
  • 2022 die wichtige Halaf-Kultur ab 6.500 v. Ztr. in Nordmesopotamien (Stgen2022), sowie die Siedlung Cayönü aus Sicht der Archäogenetik (Stgen2022), sowie  die besondere Zuchtart des Streitesels in Nordmesopotamien ab etwa 3.000 v. Ztr. (Stgen2022).

Zuletzt waren wir im Zusammenhang mit der archäogenetischen "Southern Arc"-Studie des Jahres 2022 auf diese Thematik gestoßen (1-5). Zu dieser einzigen Studie haben wir im letzten Jahr schon mehrere ausführliche Blogartikel veröffentlicht. Durch diese waren dann weitere Blogartikel angeregt worden, insbesondere zur Geschichte der antiken Griechen. Der im letzten Jahr erstellte Blogartikel-Entwurf zur Geschichte der semitischen Sprachfamilie war aber liegen geblieben und soll erst mit dem vorliegenden Blogartikel etwas abschließender und ausführlicher ausgearbeitet werden.

Durch Schriftsprachen bezeugte semitische Völker 

Als älteste überlieferte Schriftsprache im Zweistromland gilt das Sumerische. Diese Sprache steht isoliert für sich. Es konnte bislang keine Verwandtschaft mit anderen Sprachen aufgezeigt werden.

Als eine der ältesten schriftlich bezeugten semitischen Sprachen (Wiki) gilt dann die akkadische Sprache (Wiki). Diese teilt sich auf in das Babylonische und in das Assyrische. Ein weiterer Dialekt des Akkadischen war das in Syrien gesprochene Eblaitische. Eine weitere semitische Sprache ist das Aramäische, das die Verwaltungssprache im Neuassyrischen und Neubabylonischen Reich bildete. Große, ehrwürdige, berühmte, mächtige Reiche hat die semitische Völkergeschichte hervor gebracht.

Die Sprache der Amurriter und die Sprache des Stadtstaates Ugarit gelten ebenfalls als semitische Sprachen. In Kanaan wurden ebenfalls semitische Sprachen gesprochen, nämlich die kanaanitische Sprachen. Zu ihnen zählt das Hebräische. Zu den kanaanitischen Sprachen gehörte weiterhin das Phönizische und davon abgeleitet das Punische. Weiterhin gehörten dazu: Moabitisch, Ammonitisch und Edomitisch. Als weitere semitische Sprache gilt dann das Arabische.

Im Nordosten grenzt das Verbreitungsgebiet der semitischen Sprachen an die hurro-urartäischen Sprachen (Wiki) mit Hurritisch und Urartäisch und noch weiter nördlich davon wurden ursprünglich die kaukasischen Sprachen (Wiki) gesprochen.

In der Ägäis wurden ursprünglich die ägäischen Sprachen (Wiki) gesprochen. Dazu zählt das Minoische, das Eteokretische, das Eteokyprische und die tyrsenischen Sprachen (bestehend aus dem Lemnischen, Etruskischen und Rätischen). Außerdem vermutet man eine Sprache der Pelasger. Es ist gut möglich, daß Sprachen dieser Sprachfamilie sich mit der anatolisch-neolithischen Völkergruppe heraus gebildet und ab 6.000 v. Ztr. rund um das Mittelmeer und nach Europa hinein verbreitet haben.

Abb. 3: In der Region von Saba im Jemen hat sich die Genetik der Natufier am ursprünglichsten bis heute erhalten - Ein Beduine vom Stamm der "Al Burek" aus Schobua (Saba), fotografiert von Hans Helfritz 1935 (aus Hellfritz 1935) (UniKöln) (Wiki)

Die semitischen Sprachen werden mit den meisten nordafrikanischen Sprachen zur Afroasiatischen Sprachfamilie (Wikiengl) gezählt. Über diese heißt es (Wiki):

Die Rekonstruktion der afroasiatischen Protosprache gestaltet sich aufgrund der kurzen Überlieferungsgeschichte der meisten Zweige und der teilweise gravierenden Unterschiede zwischen den einzelnen Hauptzweigen sowohl im Bereich der Grammatik als auch im lexikalischen Bereich wesentlich schwieriger als z. B. die Rekonstruktion des Proto-Indogermanischen. Diese gravierenden Unterschiede lassen sich auf die verhältnismäßig große Zeittiefe des Proto-Afroasiatischen zurückführen, nach glottochronologischen Untersuchungen soll das Proto-Afroasiatische um 10.000-9.000 v. Chr. gesprochen worden sein. (...) Aufgrund lexikalischer Übereinstimmungen des Afroasiatischen mit dem Indogermanischen, den kaukasischen Sprachen und dem Sumerischen sowie der kulturellen Stellung des rekonstruierten proto-afroasiatischen Vokabulars vertreten einige Wissenschaftler wie z. B. Alexander Militarev eine Urheimat in der Levante

Im Grunde ist es ja doch auch mehr als naheliegend, in den Vertretern der ursprünglichen natufischen, bzw. levantinischen Herkunftskomponente auch die ursprünglichsten Sprecher der semitischen Sprachen zu sehen. Dadurch könnte die Geschichte der semitischen Sprachen - der Theorie nach - bis in das Vorkeramikum, bis in die Zeit vor 10.000 und 15.000 Jahren zurück verfolgt werden.

Abb. 4: Herkunftsanteile der Völker des Mittleren Ostens - Der (sehr kleine) sehr dunkellila Anteil ist der Anteil "Steppen-Genetik" der Indogermanen, der spätestens ab dem Seevölkersturm in diesen Raum gekommen ist (aus: Almarri2021) (s.a. Stgen2019)

Mit Ursprung und Verbreitung der levantinischen Herkunftsgruppe hatten wir uns zuletzt im Januar des letzten Jahres beschäftigt (Stgen2022). Man wird wohl sagen dürfen: Überall dort, wo noch heute im Vorderen Orient eine semitische Sprache gesprochen wird, weisen die Menschen auch einen größeren Anteil levantinischer Herkunftsgenetik auf (Abb. 4). Diese tritt bei den heutigen Arabern noch am wenigsten vermischt auf (Abb. 2, 3). Auch im bronzezeitlichen Sidon war sie noch recht stark vertreten. Diese Herkunftsgruppe ist das gemeinsame genetische Kennzeichen der allermeisten Völker der semitischen Sprachfamilie.

Ausbreitung levantinischer Herkunft nach Norden - Um 6.500, 3.500 und 500 v. Ztr.?

Der Anteil der levantinischen Herkunft hat sich nun innerhalb von Anatolien über einen Zeitverlauf von fast 10.000 Jahren kaum noch verschoben. Er betrug immer rund 20 %. Während er um 2.000 v. Ztr. als solcher vergleichsweise einheitlich über alle Menschen verteilt war, war er zu anderen Zeiten deutlich ungleichmäßiger verteilt, nämlich:  

  • um 6.500 v. Ztr. 
  • um 3.500 v. Ztr. 
  • um 500 v. Ztr. 

Zu diesen Zeiten trugen einigen Individuen jeweils noch einmal 60 bis 80 % levantinischer Herkunft in sich (1, Fig. 2C). Man darf sich fragen, ob das ein Hinweis darauf ist, daß sich zu diesen Zeiten jeweils noch einmal eher unvermischte Bevölkerungen levantinischer Herkunft erneut in Anatolien ausbreiteten. Dies könnte natürlich jeweils in Zusammenhang mit dem Bedeutungszuwachs der nordmesopotamischen oder levantinischen Stadtkulturen geschehen sein. Hier werden vielleicht künftige Studien noch ein genaueres Bild entwerfen. Heute ist die Herkunftszusammensetzung in Anatolien in etwa: 40 % anatolisch-neolithisch, 40 % iranisch-neolithisch und 20 % levantinisch-neolithisch (1, Fig. 2). Die Forscher schreiben dazu (2):

Die levantinische Herkunft hat sich während des Neolithikums ausgebreitet. Aber ihre spätere Entwicklung in der Levante selbst (einschließlich von Individuen aus Jordanien, Israel, Syrien und dem Libanon) zeigt einen Rückgang um etwa 8 % pro Jahrtausend vom vorkeramischen Neolithikum bis zum Mittelalter auf, wobei sie im Wesentlichen ersetzt wird durch Kaukasus- und anatolische Herkunft aus dem Norden und dem Westen (?, gemeint ist wohl: Osten).
Levantine ancestry may have flourished during the Neolithic, and yet its later trajectory in the Levant itself (including individuals from Jordan, Israel, Syria, and Lebanon) exhibits a decrease of ~8% per millennium from the Pre-Pottery Neolithic down to the Medieval period, largely replaced by Caucasus- and Anatolian-related ancestry from the north and west (Fig. 4).

Die 2022 neu sequenzierten neun vorkeramischen Menschen aus der Levante werden in der damals erstellten Hauptkomponentenanalyse zur genetischen Herkunft der Völker und Kulturen einheitlich am unteren rechten Rand eingeordnet (1, Fig. 1C, orangene Kreise). 

Die Natufier im fruchtbaren Halbmond

In der Studie von 2022 wurden untersucht ... (2):

... vorkeramische neolithische Bauern von der Tigris-Seite des nördlichen Mesopotamien: einer vom Fundort Boncuklu Tarla nahe Mardin und zwei vom Fundort Nemrik 9 im nördlichen Irak. (...) Wir haben drei vorkeramische neolithische Bauern aus dem nördlichen Zagros-Gebirge vom Fundort Bestansur und aus der Zawi Chemi-Komponente der Shanidar-Höhle im Irak sequenziert, die eine Lücke ausfüllen zwischen den mehr westlichen und nördlichen Individuen und schon publizierten aus dem Zentralen Zagros-Gebirge im Iran.
... Pre-Pottery Neolithic farmers from the Tigris side of Northern Mesopotamia: one from Boncuklu Tarla near Mardin in Southeastern Turkey and two from Nemrik 9 in Northern Iraq. (...) We sampled three Pre-Pottery Neolithic farmers from the Northern Zagros at Bestansur and the Zawi Chemi component of Shanidar cave in Iraq, who fill a gap between the more western and northern individuals and published data from the Central Zagros in Iran (1).

Zur Herkunft der ersten Menschen, die im Karcadac-Gebirge der heutigen Südtürkei zwischen den Oberläufen von Euphrat und Tigris das Bergheiligtum Göbekli Tepe errichteten und die zu Seßhaftigkeit und Ackerbau übergegangen sind, nämlich zur Herkunft der "Natufier" wird ausgeführt, daß diese dieselbe Genetik aufweisen wie die ihnen in der Levante nachfolgenden vorkeramischen Neolithiker (2):

Es wird vermutet, daß die Natufier (...) ihre gesamte Abstammung von einer vorkeramischen levantinischen Quelle ableiten; dies bedeutet natürlich nicht, daß die früheren Natufier von den ihnen folgenden vorkeramischen neolithischen Bauern abstammen, sondern vielmehr, daß beide eine gemeinsame Abstammung haben (in Wirklichkeit von den Natufiern zu den vorkeramischen neolithischen Bauern).
The Natufians are inferred to (...) derive all of their ancestry from the Levant Pre-Pottery Neolithic source; this of course does not mean that the earlier Natufians are descended from the Pre-Pottery Neolithic farmers that followed them but rather that both share ancestry (in reality, from the Natufians to the Pre-Pottery Neolithic farmers).

Das ist ja im mittleren und östlichen Teil des Fruchtbaren Halbmonds offensichtlich anders, so daß man schlußfolgern könnte, daß die Natufier jene kulturellen Anregungen zum Übergang zum Ackerbau an die östlich benachbarten Völkerschaften auf kulturellem Weg weitergegeben haben, den sie selbst eingeleitet hatten.

Dieser levantinische Herkunftsanteil wird dann ab etwa 6.500 v. Ztr. und in den nachfolgenden Jahrhunderten von der anatolischen und iranischen Genetik zurück gedrängt und hat sich  nach der Bronzezeit und bis heute vor allem auf der arabischen Halbinsel und in der Levante in Anteilen gehalten. 

Uns hätte ja auch noch interessiert - was wir hier auf dem Blog auch schon erörtert hatten - ob mit der so auffälligen Ausbreitung des PPNB (womöglich bis an den Unterlauf des Don im Norden und bis in die Negev-Wüste im Süden) (s. Stgen2022) auch eine Ausbreitung neuer Genetik einhergegangen ist. Davon allerdings scheint nirgendwo wirklich die Rede zu sein.

Dasselbe gilt für die allmähliche Vermischung der anatolischen und der iranischen genetischen Herkunft ab 7.000, bzw. 6.500 v. Ztr. in Anatolien, die aber womöglich schon durch die Ausbreitung des PPNB zumindest vorgebahnt worden ist. Auch dazu hören wir sozusagen nur, was im Wesentlichen schon vorher bekannt gewesen ist, nämlich (1):

Während des Neolithikums und der Kupferzeit wuchs der Herkunftsanteil der Kaukasus-Jäger-Sammler am Marmara-Meer von 0 auf 33 % an. In Zentralanatolien stellen wir einen Zuwachs von 10 bis 15 % in den neolithischen Fundorten Çatalhöyük und Tepecik-Çiftlik fest, sowie ein vergleichbares Anwachsen auf 33 % im kupferzeitlichen Fundort Çamlıbel Tarlası und auf ~42% an den bronzezeitlichen Fundorten Kalehöyük und Ovaören. Im Mittelmeer-Raum (Südwest-Anatolien) finden wir dasselbe Drittel an Herkunftsanteil am bronzezeitlichen Fundort Harmanören Göndürle. In der Ägäis (Westanatolien) stellen wir einen ähnlichen Herkunftsanteil von 29 % in der Bronzezeit fest.
In the Marmara region, Caucasus hunter-gatherer ancestry increased from ~0 to ~33% between the Neolithic and Chalcolithic periods [to define the Chalcolithic, we added four in- dividuals from Ilıpınar to a single one from Barcın previously published (10)]. In the Central region, we document an increase from ~10 to 15% at Neolithic Çatalhöyük (12) and Tepecik-Çiftlik (13) to a similar ~33% at Chalcolithic Çamlıbel Tarlası (14) and ~42% at Bronze Age Kalehöyük and Ovaören (15). In the Mediterranean region (Southwest Anatolia), the same approximate one-third proportion was present at Harmanören Göndürle (16) in the Bronze Age. In the Aegean region (Western Anatolia), we observe a similar ~29% in the Bronze Age.

So war das in den Grundzügen auch schon zuvor bekannt gewesen und hier auf dem Blog auch dargestellt und erörtert worden.*) Wir lesen auch (1, S. 5):

Die nordwestanatolische Herkunft schwankt zwischen 100 % in Barcın, Menteşe und Ilıpınar in der Marmarameer-Region. Mit Hilfe der sehr guten Qualität der Daten aus dieser Region stellen wir 16 % dieser Herkunft in dem vorkeramischen neolithischen Individuum von Mardin in Südost-Anatolien/Nordmesopotamien fest. Umgekehrt schwankte die Kaukasus-/levantinische Herkunft zwischen 50 und 32 % in Nordmesopotamien bis zu 0 % in Nordwestanatolien.
We observed that Northwest Anatolian-related ancestry varied between ~100% (at Barcın, Menteşe, and Ilıpınar in the Marmara region; we use the high-quality data we have from Barcın to define this component of ancestry) to ~16% (the Pre-Pottery Neolithic individual from Mardin in Southeast Anatolia/ North Mesopotamia). Conversely, Caucasus/ Levantine ancestry varied between ~50 and ~32% in North Mesopotamia to ~0% in Northwest Anatolia.

Das vorkeramische Neolithikum in Mardin, am Fundort Boncuklu Tarla (Wiki) scheint kulturell dem am Göbekli Tepe zu ähneln und wird auf 9.300 v. Ztr. datiert (Hurriyet2019). Es gibt dort sechs Fundschichten, die unterste ist das späte Epipaläolithikum, dann folgen PPNA und vier zu unterscheidende Phasen des PPNB (Wiki) (siehe auch 1, Suppl., S. 38f).

Zur Ethnogenese des vorkeramischen Neolithikums vom Göbekli Tepe und vergleichbarer Fundorte hat also bis zu 16 % nordwestanatolische Genetik beigetragen. Umgekehrt hat sich die Ethnogenese des Neolithikums in Nordwest-Anatolien offenbar ohne Genetik von außen vollzogen. Dieser Umstand wäre ja vergleichsweise bemerkenswert, zumal sich der Ackerbau sonst selten weiter ausgebreitet hat ohne Genetik jener Träger, mit denen er zuvor schon aufgetreten war.

Die erwarteten detaillierteren Angaben und Forschungen zu den eigentlichen, exakten Vorgängen und Ethnogenesen, deren Ergebnis all diese Daten nur gewesen sein können, können noch nicht gegeben werden. Im Text wollen sich die Forscher nicht entscheiden, ob diese Daten Ergebnis eher allmählich und unbewußt vorgehender Vermischung über viele Generationen hinweg gewesen sind oder Ergebnis bewußter Expansion bestimmter archäologischer Kulturen und damit verbundener Stämme und Stadtstaaten, Völker und Reiche. Uns scheint letzteres - letztlich - naheliegender zu sein, auch recht deutlich sichtbar zu sein etwa an der archäologisch feststellbaren Ausbreitung der Kultur des PPNB (in womöglich alle Richtungen) und auch sichtbar an der Ausbreitung nachfolgender neolithischer Kulturen. Ob da nicht bei der Interpretation der Daten noch mehr heraus geholt werden könnte bei intensiver Untersuchung, wollen wir an dieser Stelle nicht entscheiden. Angesichts der Fülle von Fragen, mit denen sich die Forscher in dieser Southern Arc-Studie herum geschlagen haben, wird man hier wohl noch auf Folgestudien warten müssen.

Die Natufier - Semiten

Diesen Erörterungen fügen wir jetzt, ein Jahr später noch an: Daß die natufische, bzw. levantinische Herkunftsgruppe der ursprüngliche Träger der semitischen Sprachfamilie gewesen ist, scheint uns der Sache nach doch eigentlich längst geklärt zu sein (?!). Im Jemen leben noch heute (wie oben schon erwähnt) - relativ unvermischt - Nachfahren jener Menschen, die schon zwischen 12.000 und 10.000 v. Ztr. im sogenannten "Natufium" im westlichen Fruchtbaren Halbmond zum Ackerbau übergegangen sind (Studgen2019). Sie sprechen eine arabische und damit semitische Sprache. Es ist mit überhaupt keiner Plausibilität erkennbar oder begründbar, an welcher Stelle innerhalb der Geschichte der letzten 10.000 Jahre die genetischen Vorfahren dieser Menschen eine ganz neue Sprache einer ganz neuen Sprachfamilie sollten angenommen haben. Wann und warum, von wo aus und in Zusammenhang mit welchen großräumigeren archäologischen Daten oder geschichtlichen Ereignissen hätte das geschehen sein sollen? Der Fruchtbare Halbmond befindet sich ja im Zentrum auch noch der vorislamischen Verbreitung der semitischen Sprachfamilie (Abb. 5).

Abb. 5: Verbreitung der semitischen Sprachen vor der islamischen Expansion (Wiki) (Grafik erstellt von "Rafy")

Sprache und Kultur haben sich natürlich insbesondere zusammen mit dem Ackerbau ausgebreitet. Ein ähnlich kulturell und genetisch umwälzender Vorgang wie die Ausbreitung der Indogermanen in Europa ab 3.000 v. Ztr., der das genetische, sprachliche und kulturelle Erscheinungsbild Europas damit in Zusammenhang grundlegend noch ein zweites mal umgewälzt hat, ist ja für den Vorderen Orient in dieser oder ähnlicher Form nirgendwo zu erkennen und zu charakterisieren, auch nicht von Seiten der bisher bekannten Daten der Archäogenetik.

Es spricht also unseres Erachtens deshalb alles dafür und nichts dagegen, daß bei den Völkern der semitischen Sprachfamilie eine kulturelle und genetische Kontinuität seit 12.000 Jahren vorliegt.

Genau dieser Gedanke wird etwa auch ventiliert in vielen Videos auf dem Videokanal "The Hebrew of Israel" (Yt). Der Inhaber scheint zwar einerseits betont bibelgläubig zu sein, könnte aber andererseits auch jemand sein, der wissenschaftlich relevante Daten zu dieser Frage hinlänglich angemessen zu referieren im Stande ist, etwa mit Verweis auf Anthropologen wie Christy G. Turner II (1933-2013) (Wiki) und Archäologen wie Juris Zarins (1945-2023) (Wiki), die diesem Gedanken ebenso schon nachgegangen sind. Er erwähnt dabei auch das zeitlich letzte Stadium der Natufium-Kultur, die Harif-Kultur (Wiki) in der Negev-Wüste um 8.000 v. Ztr, aus der die Munhata-Kultur (um 6.000 v. Ztr.) (Wiki) hervor gegangen ist, und in deren Zusammenhang auch die Jarmuk-Kultur (um 6.000 v. Ztr.) (Wiki) eine Rolle gespielt hat. Er referiert diese Gedanken folgendermaßen (Yt5/2022):

Die Semiten und ihre Natufium-Vorfahren
Nach Christy G. Turner II gibt es aus archäologischer und physisch-anthropologischer Sicht Hinweise auf eine Beziehung zwischen den modernen semitischsprachigen Bevölkerungsgruppen der Levante und der Natufium-Kultur. Juris Zarins hat vorgeschlagen, daß das pastorale Nomadentum als kultureller Lebensstil im Zuge der Klimakrise um 6200 v. Ztr. begann, als Harif-Keramik-herstellende Jäger und Sammler des Sinai sich mit der PPNB-Kultur vereinigten, um die Munhata-Kultur hervorzubringen, einen darauf basierenden nomadischen Lebensstil die Domestikation von Tieren, die Entwicklung zur Jarmuk-Kultur und von dort zu einem zirkumarabischen nomadischen Hirtenkomplex und die Verbreitung protosemitischer Sprachen. Die Natufium-Kultur ist eine spätepipaläolithische archäologische Kultur der Levante, die vor etwa 15.000 bis 11.500 Jahren entstanden ist. Die Kultur war insofern ungewöhnlich, als sie bereits vor der Einführung der Landwirtschaft eine seßhafte oder halbseßhafte Bevölkerung repräsentierte. Die Natufium-Gemeinschaften könnten die Vorfahren der Erbauer der ersten neolithischen Siedlungen der Region sein, die möglicherweise die frühesten der Welt waren. Juris Zarins geht davon aus, daß die Verschmelzung mit tierischen Domestikationselementen der PPNB-Kultur zum zirkumarabischen "Nomadic Pastoral Complex" geführt hat, einer Gruppe von Kulturen, die den nomadischen Pastoralismus erfunden haben und möglicherweise die ursprüngliche Kultur waren, die protosemitische Sprachen in der gesamten Region verbreiteten. Die kanaanitische Kultur entwickelte sich vor Ort aus mehreren Migrationswellen, die mit dem früheren zirkumarabischen nomadischen Pastoralkomplex verschmolzen, die sich wiederum aus einer Verschmelzung ihrer angestammten Natufium- und Harif-Kulturen mit PPNB entwickelte, die während der Klimakrise im Jahr 6200 v. Chr., die zur Neolithischen Revolution/Ersten Agrarrevolution in der Levante führte, die Domestizierung von Tieren praktizierten. Eine im Jahr 2009 durchgeführte Bayesianische Analyse legt nahe, daß alle bekannten semitischen Sprachen ihren Ursprung in der Levante um 3750 v. Ztr. haben, mit einer späteren einzelnen Einführung aus Südarabien am Horn von Afrika um 800 v. Ztr.. Diese statistische Analyse konnte jedoch nicht abschätzen, wann und wo der Vorfahre aller semitischen Sprachen sich von der afroasiatischen Sprachfamilie trennte.
Semites and their Natufian Ancestors
According to Christy G. Turner II, there is an archaeological and physical anthropological reason for a relation between the modern Semitic-speaking populations of the Levant and the Natufian culture. Juris Zarins has proposed that pastoral nomadism began as a cultural lifestyle in the wake of the 6200 BC climatic crisis when Harifian pottery making hunter-gatherers in the Sinai fused with Pre-Pottery Neolithic B agriculturalists to produce the Munhata culture, a nomadic lifestyle based on animal domestication, developing into the Yarmoukian  and thence into a circum-Arabian nomadic pastoral complex, and spreading Proto-Semitic languages. The Natufian culture is a Late Epipaleolithic archaeological culture of the Levant, dating to around 15,000 to 11,500 years ago. The culture was unusual in that it supported a sedentary or semi-sedentary population even before the introduction of agriculture. The Natufian communities may be the ancestors of the builders of the first Neolithic settlements of the region, which may have been the earliest in the world. Fusion with animal domestication elements of the Pre-Pottery Neolithic B (PPNB) culture is hypothesised by Juris Zarins, to have led to the circum-Arabian Nomadic Pastoral Complex, a group of cultures that invented nomadic pastoralism, and may have been the original culture which spread Proto-Semitic languages throughout the region. Canaanite culture developed in situ from multiple waves of migration merging with the earlier Circum-Arabian Nomadic Pastoral Complex, which in turn developed from a fusion of their ancestral Natufian and Harifian cultures with Pre-Pottery Neolithic B (PPNB) farming cultures, practicing animal domestication, during the 6200 BC climatic crisis which led to the Neolithic Revolution/First Agricultural Revolution in the Levant. A Bayesian analysis performed in 2009 suggests an origin for all known Semitic languages in the Levant around 3750 BC, with a later single introduction from South Arabia into the Horn of Africa around 800 BC. This statistical analysis could not, however, estimate when or where the ancestor of all Semitic languages diverged from Afroasiatic.

Gedanken solcher Art werden auch sonst sehr ausführlich auf dem genannten Videokanal erörtert. Deshalb wird es Sinn machen, diesen künftig noch häufiger zu besuchen, um sich Anregungen geben zu lassen. 

Einige Charakterzüge der semitischen Völkergruppe

Für uns ist jedenfalls nicht erkennbar, aus welchen Gründen heraus der Zeitpunkt und der Ort des Ursprungs der Proto-semitischen Sprache ein anderer sein soll als der westliche Fruchtbare Halbmond um 10.000 v. Ztr., als jene, die die Götterfiguren des Göbekli Tepe und (ganz aktuell:) des Kahran Tepe (Wiki) herstellten und andachtsvoll verehrten, darunter jetzt wiederholt gefundene Phallus-haltende Götterfiguren (Wiki), als die Kulturen des vorkeramischen Neolithikums B mit ihren Stadtdespoten ("plasterd skulls") (WikiAntAnt2014) (Abb. 1), sowie den dort nachfolgenden keramischen Kulturen mit ihren einschüchternden Kaffeebohnen-Augen-Figurinen (Abb. 6) und den sehr dominant-herrschaftlich thronenden Göttinnen-Figuren (Wiki) (Wiki) aus Çatalhöyük, die schließlich dann auch in der Halaf-Kultur (Wiki) zu finden sind. Der schon hier auftretende "furchtbare", "Schrecken erregende", einschüchternde, despotische Charakter von Göttern und Herrschern tritt dann an vielen Stellen in der Geschichte dieser Völkergruppe erneut auf. Er scheint uns ein vergleichsweise grundlegender Charakterzug zu sein. 

Abb. 6: Sha'ar Hagolan - Muttergottheit, Lehmfigur (Wiki)

Er verkörpert sich in der Herrschaftsform der "orientalischen Despotie" (Wikiengl) und der dazugehörigen Religiosität. Wir finden ihn im semitischen Babylon ebenso wieder wie im Reich der semitischen Akkader, ebenso - und besonders ausgeprägt - im Reich der semitischen Assyrer und im - zumindest semitisch beeinflußten - Reich von Urartu.

Soweit diese Völkergruppe allerdings noch nicht in Städten lebte - so etwa die Araber auf der arabischen Halbinsel über Jahrtausende hinweg - wurden in dieser Völkergruppe - wie schon im PPNA - Steine als Heiligtümer angebetet (Stgen2019). Auch hier sehen wir - vermutlich - eine sehr weit reichende kulturelle Kontinuität von ihren Vorfahren im Fruchtbaren Halbmond, etwa am Göbekli Tepe und Karahan Tepe an.

Sicherlich ist auch diese Völkergruppe durch bestimmte angeborene, verhaltensgenetische Besonderheiten, Neigungen charakterisiert, die etwa noch heute bei den Arabern festgestellt werden (z.B. GAj2019). Dabei mag das Leben in Städten noch andere Selektions-Regime mit sich gebracht haben als das Leben in Zelten als Nomaden.

Wir wollen es also als sehr wahrscheinlich erachten, daß sich die Geschichte der semitischen Sprach- und Völkerfamilie bis ins Natufium zurück verfolgen läßt (8), als es im westlichen Fruchtbaren Halbmond im Wesentlichen nur die von den Archäogenetikern als  "levantinisch" oder "natufisch" bezeichnete Herkunftsgruppe gab.

Das würde heißen: Den Semiten verdanken wir den Übergang zum Ackerbau und zur seßhaften Lebensweise, ihnen verdanken wir "unser täglich Brot", die Domestizierung der gängigen Getreidesorten und einiger Haustiere (Schafe und Ziegen), die wir bis heute nutzen, zusammen gefaßt als "neolithisches Paket" ("Neolithic package"). (Übrigens stammen auch unsere westeuropäischen Hausmäuse aus dem levantinischen Natufium.) All diese Erkenntnissen würden parallel gesetzt werden können zu der Erkenntnis von G.F.W. Hegel, nach der "Weltgeschichte Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" ist, nach der sich Weltgeschichte von der Herrschaftsform der Despotie über die Herrschaftsform der Aristokratie zur Herrschaftsform der Demokratie weiter entwickelt habe (hier nur als grobes Schema genannt).

Abb. 7: Verbreitung der Halaf-Kultur und der Shulaveri-Kultur ab 6.500 v. Ztr. (aus Skourtanioti et al 2020)

Es mag durchaus plausibel erscheinen, daß mit der Weiterentwicklung in Verbindung stehende Mentalitäten, daß zum  Beispiel das Lebensprinzip "Arbeit" sich in der Weltgeschichte über viele Jahrtausende vor allem im Rahmen despotischer und unterwürfiger Mentalitäten und Verhaltensstrukturen hat durchsetzen können. Noch im Hintergrund des Lebensprinzips "Ora et labora", "Bete und arbeite" des christlichen, europäischen Mittelalters stehen solche religiös despotischen und unterwürfigen Mentalitäten, Denk- und Verhaltensstrukturen einer rigiden Sozialmoral. Dieses Lebensprinzip mag daher seine Kraft beziehen, ganze Kulturen und Zeitepochen bis heute zu bestimmen.

Die mit dem Ackerbau verbundene Sozialdisziplinierung mag in Ostasien noch etwas anderer Art sein als in der indischen Hochkultur und als im Vorderen Orient oder später in den Hochkulturen Mittelamerikas. Überall aber dürften gesellschaftliche Hierarchien auf ihre Weise eine Rolle gespielt haben. Im weiteren Sinne kann zu diesem Themenkreis auch das Thema "bamboo ceiling" heran gezogen werden, das aufzeigt, daß die Führungskultur in China und in Ostasien andere Mentalitäten voraussetzt als in Indien oder Europa (Stgen2020). Eine Tatsache, die sich ja auch im Konfuzianismus widerspiegelt.

Die Halaf-Kultur - Semiten

Mit der Halaf-Kultur kam es ab 6000 v. Ztr. zu vielfältigen Vermischungen mit der iranischen und der anatolischen Völkergruppe. Dabei könnten sich gut und gerne zwischen Levante-Raum und Mittlerem Euphrat vor allem Völker gehalten bzw. neu herausgebildet haben, die weiterhin eine semitische Sprache gesprochen haben. Aber ebenso wären auch Ethnogenesen anderer Völker und Sprachfamilien in diesem Zeitraum denkbar. So wäre etwa zu überlegen, wie die Kulturen der formschönen Hassuna- (Wiki) und Samarra-Keramik (Wiki, engl) einzuordnen wären. Es deutet sich an, daß sie der Vorgeschichte der nichtsemitischen Sumerer zugeordnet werden könnten.

Der Verbreitungsraum der Halaf-Kultur deckt sich jedenfalls überraschend gut mit dem Verbreitungsraum semitisch sprechender Völker in späteren Jahrtausenden (Abb. 7). 

Angesichts der Tatsache, daß im Vorderen Orient städtische Gesellschaften schon 5000 Jahre (!!!) früher existierten als in Europa, kann es nicht verwunderlich erscheinen, daß der Vordere Orient auch mit der Entstehung von Schriftkultur anderen Erdteilen weit vorausgeeilt ist.

Es könnte sinnvoll sein, von weltgeschichtlich frühreifen Völkern und Kulturen zu sprechen. Die despotischen Herrschaftsform und Religiosität mag zu der beschleunigten Reifeentwicklung sehr viel beigetragen haben, bzw. sie ermöglicht haben.

4.500 v. Ztr. - Bis zu 20 % der Menschen sterben eines gewaltsamen Todes 

[Ergänzung 15.10.23] Soeben ist eine neue Studie erschienen, die den Anteil an Skelettfunden mit tödlichen Verletzungen im Mittleren Osten zwischen 12.000 und 400 v. Ztr. untersucht. Dieser Anteil erreicht in der Region des heutigen Iran und der anatolischen Halbinsel zwischen 4.500 und 3.300 v. Ztr. einen Höhepunkt und sinkt in der Zeit danach kontinuierlicher ab (Baten2023):

Zwischen 3.000 und 1.500 v. Ztr. während der Frühen und insbesondere der Mittleren Bronzezeit ist ein erheblicher und kontinuierlicher Rückgang der tödlichen Gewalt festzustellen.
A substantial and continuous decline in lethal aggressions was experienced between 3,000 and 1,500, during the EBA and especially MBA.

Für die Zeit davor zwischen 4.500 und 3.300 v. Ztr. sehen wir im Iran und in der Türkei einen sehr hohen Anteil von Menschen, die gewaltsam zu Tode gekommen sind, nämlich zwischen 20 und 25 %. In der Levante sind es 10 Prozent (Abb. 7a). Für Mesopotamien liegen für diesen Zeitraum noch keine Daten vor. Vielleicht war hier die Siedlungsdichte in diesem Zeitraum noch deutlich geringer?

Abb. 7a: Anteil tödlicher Verletzungen nach Untersuchungsregion und Epoche: Iran (n = 353); Levante (n = 520, Westliches Syrien, Libanon, Israel und Jordanien); Mesopotamien (n = 326, Irak and Östliches Syrien); Turkei (n = 2,340) (aus Baten2023)

In der Frühen Bronzezeit ab 3.300 v. Ztr. liegt dann der Anteil gewaltsamer Tode für alle untersuchten Regionen unter 10 %. Am niedrigsten aber liegt er in dieser Zeit in Mesopotamien. Es ist dies eine Zeit des Friedens und des Wohlstandes. In der sumerischen Kultur wird auch die Friedfertigkeit und der wohlwollende Gerechtigkeitssinn der sumerischen Fürsten betont hervor gehoben. [Ende Erg.]

Augenidole und Streitesel (Kungar) - 3.500 v. Ztr.

Eine Gottheit, die dich sieht, sie war auch den Menschen um 3.500 v. Ztr. im Tell Brak / Nagar in Nordsyrien wichtig, wo zeitgleich der Kungar, der Streitesel gezüchtet wurde (s. Stgen2022). Auch bei diesen archäologischen Kulturen ist es naheliegend, sie der semitischen Sprachfamilie zuzuordnen.

Abb. 8: Für die Kultur in Nagar (Tell Brak) (Wiki) um 3.500 v. Ztr. sind diese Figürchen kennzeichnend, sogenannte "Augenidole" aus Alabaster - Nach ihnen ist auch der "Augentempel" (Wiki) auf der Akropolis von Nagar benannt

[Erg.:] Um 2.000 v. Ztr. geht dann die Hochkultur der Sumer unter. Ihr Geist wirkt immerhin noch zweittausend Jahre lang weiter. Nämlich über die sumerische Gelehrtensprache (so wie in Europa im Mittelalter das Latein). Aber nun sind es vornehmlich semitisch bestimmte Völker - wie die Babylonier, die Akkader und die Assyrer - die die Geschichte des Zweitstromlandes bestimmen. Im Norden desselben machen sich außerdem die indogermanischen Hethiter bemerkbar. 

In der Späten Bronzezeit zwischen 1.550 und 1.200 v. Ztr. sehen wir dann auch für Mesopotamien, ebenso für die Levante und den Iran einen Anstieg tödlicher Verletzungen an den Skeletten auf 10 Prozent, der in der Eisenzeit dann noch etwas höher steigt (s. Abb. 7a). 

Abb. 9: Ein "Ugallu"-Dämon (Löwenköpfiger Mensch mit Adlerfüßen) - Aus dem Südwestpalast von Ninive, 700-692 v. Ztr., heute im British Museum, London (Wiki) - Fotograf: "Osama Shukir Muhammed Amin FRCP(Glasg)"

Aber auch in der Eisenzeit, also zur Hochblüte der Assyrer erreicht er nicht mehr die Höhe, die er in der Kupferzeit hatte als sich die ersten Stadtstaaten im Nördlichen Mesopotamien formierten, und wo die Archäologen ja auch tatsächlich die Kriegsführung sehr genau dokumentieren können (s. Stgen2008). 

Womöglich ist die Vorherrschaft der Hethiter in der Türkei in der Späten Bronzezeit noch mit einem höheren Anteil gewaltsamer Tode verbunden, allerdings konnten für diese Region und für diese Zeit nur 9 Funde ausgewertet werden. (Womöglich fallen diese ja dann auch schon in die Zeit des Untergangs des hethitischen Großreiches.) [Erg. Ende]

Das moralische Gefüge der Gesellschaften der Akkader, Assyrer und der von den Assyrern stark beeinflußten Babylonier ist dem heutigen Moralgefühl insgesamt sowohl fremd wie zugleich - durch das Alte Testament - vertraut. Dieses Moralgefühl ist aber dem modernen Menschen vergleichsweise fremder als das beispielsweise der Sumerer oder auch der frühen Ägypter.

1700 v. Ztr. - Die Assyrer - Semiten

Frühere Forschergenerationen (Hommel und E. Meyer) waren die Meinung, daß die Assyrer keinerlei Poesie kennen würden, daß viel Nüchternheit, Pragmatismus vorgeherrscht habe, und daß der Zerstörungs- und Vernichtungswille gegenüber anderen Völkern und Reichen im Vordergrund gestanden habe (Hommel, S. 262-264). Mit all dem wollen wir uns künftig hier auf dem Blog noch genauer beschäftigen, weil uns erst heute bewußt wird, wie tief die alttestamentarische Religiosität in der Geschichte der semitischen Völkergruppe verwurzelt ist.

Schon sehr früh tritt nämlich überraschenderweise in ihrer Religiosität auch jenes Sündenbewußtsein in den Vordergrund, das bis heute in der jüdischen und in der christlichen Religion eine so große Rolle spielt (Hommel): Der Einzelmensch wirft sich - im Bewußtsein seiner Sünde, seiner Fehlerhaftigkeit, seiner Unwürdigkeit, Befleckung und Schmach - vor dem Antlitz der erhabenen Gottheit nieder und schreit um Erbarmen und Erhörung. Er kann zur Gottheit nur von ganz unten aus, von seiner eigenen Nichtswürdigkeit aus aufblicken. 

Die Gottheit belohnt oder bestraft ihn, was jeweils in gleißenden Bildern immer wieder erneut wortreich dargestellt wird, schon bei den Assyrern. Noch die Jesuiten-Exerzitien des Ignatius von Loyola stehen in dieser religionspsychologischen Tradition des weiten Spannungsfeldes, der großen Entfernung zwischen Mensch und Gott. 

Abb. 10: Ein Paar von Ugallu (Großer Löwe Great), ein Schutzgeist gegen das Böse. Tür d in Raum S im Nordpalast von Ninive, 645-635 v. Ztr., heute British Museum, London (Wiki) (Fotograf: "Osama Shukir Muhammed Amin FRCP(Glasg)" )

Der Altorientalist Fritz Hommel gibt in seiner "Geschichte Babyloniens und Assyriens" aus dem Jahr 1885 viele Textzeugnisse für dieses Sündenbewußtsein. So diese an die Himmelsgöttin gerichtet Worte (zit. n. Hommel, S. 264):

Erhabene Herrin, deren Gebot durchdringt, 
das Gebet will ich Sprechen: „Was mir gut ist, tue sie mir, 
meine Herrin, mir, der von den Tagen der Jugend an ich schon ans Joch der Sünde/Frevel
geschirrt bin!
Speise habe ich nicht gegessen, Weinen war meine Labung,
[Wasser habe ich nicht getrunken,] Tränen war mein Getränk,
[Mein Herz war nicht mehr fröhlich,]) mein Gemüth nicht mehr heiter (wörtl. hell),
schmerzlich wehklage ich. 
[Viel sind meine Sünden‚) mein Gemüt ist bedrängt. 
O meine Herrin, lehre mich erkennen mein Tun, Vergebung (wörtl. Beruhigung, Heilung) gewähre mir, meine Sünde decke zu, richte empor mein Antlitz!

Oder diese (zit. n. Hommel, S. 264):

Habe ich entfremdet Vater und Sohn, Bruder und Bruder oder Freund und Freund?
Hab’ ich nicht befreit den gefangenen, gelöst den gebundenen und den im Kerker
eingeschlossenen?
Hab’ ich mich widersetzt meinem Gott oder verachtet meine Göttin?
Hab’ ich an mich genommen fremdes Gebiet oder mit schlechter Absicht betreten das Haus meines Nachbarn? 
Hab’ ich mich genähert dem Weib meines Nächsten? 
Hab’ ich vergossen eines Menschen Blut oder irgend einen seiner Kleider beraubt?

Das ist ein völlig anderer Geist, als er uns im Gilgamesch-Epos der Sumerer, in der Gedankenwelt der alten Ägypter oder der Indogermanen entgegen zu treten scheint. Es ist ein den modernen Menschen auf den ersten Blick zutiefst abstoßender Geist. Der moderne Mensch möchte sich nicht mehr so despotisch knechten lassen und vor einer Gottheit und vor Priestern, die diese Gottheit repräsentieren, in den Sand werfen und die eigene Nichtswürdigkeit bekennen.

Allerdings ist in diesem Geist ein religionspsychologischer Wahrheitskern enthalten, der zumal auch modernen Menschen viel sagen könnte. Denn: Wenn es tatsächlich eine nichtpersonale Gottheit gibt,  die das ganze Universum durchdringt - stehen wir ihr denn - bei ernster Selbstprüfung - wirklich würdig gegenüber? Oder hätten wir nicht auch allen Grund, ihr gegenüber unsere Nichtswürdigkeit und Zerknirschung zu bekennen? Werden wir denn ganz von selbst zu jenen Menschen, die der Lebensmöglichkeit hier auf dem Planeten würdig sind? Oder müssen wir uns nicht vielmehr erst zu solchen Menschen umschaffen? Und setzt ein solches Umschaffen nicht voraus, erst einmal die eigene Entfernung zur Gottheit anzuerkennen?

Offensichtlich ist diese Anerkenntnis ja die tiefere Wurzel gewesen dafür, daß Menschen überhaupt seßhafte, arbeitsteilige Gesellschaften bilden konnten. Ob diese Anerkenntnis nicht auch heute noch von Wert sein könnte? 

Man bedenke jedenfalls: Schon um 1700 vor der Zeitrechnung, also zur Zeit des ersten Auftretens der Hethiter in Anatolien, haben sich die semitischen Babylonier Geschichte als Strafgericht Gottes für die Sünden der Menschen gedeutet, so etwa in der babylonischen Legende vom Kriegsgott Girra (Hommel, S. 419):

Die Erdbewohner haben den Himmelsgott, Anu, beleidigt, in Folge dessen dieser den Kriegsgott beauftragte, das Volk zu strafen; er zieht mit dem Feuergott Ischum und sieben anderen Göttern über das Land, "das Volk der Schwarzhauptigen zu vernichten".

Hommel spricht auch von der "semitischen Umbildung der sumerischen Religion" in Babylon. Als Folge wird die Entfernung zwischen Mensch und Gott viel stärker betont als zuvor, die Erhabenheit dort und die Unangemessenheit hier (beim betenden Menschen) betont (Hommel, S. 378):

Wer ist im Himmel erhaben? Du allein bist erhaben.
Wer ist auf Erden erhaben? Du allein bist erhaben.
Du, dein Gebot wird im Himmel verkündet und die sieben Geister des Urwassers werfen nieder das Antlitz.
Du, dein Gebot wird auf Erden (verkündet) und die Geister der Wassertiefe küssen den Boden. 
(...)
Du, dein Gebot, wer kann es erlernen, wer sich mit ihm messen?
(...)
Auf Ur ... blicke gnädig.

Mit all diesen Zusammenhängen wollen wir uns künftig noch ausführlicher beschäftigen. Zu bedenken ist zugleich, daß dieses Prinzip der Anerkenntnis der eigenen Nichtswürdigkeit vor Gott natürlich von herrschsüchtigen Priestern und Despoten und despotischen Eliten allzu leicht ausgenutzt werden kann, um Ziele zu verfolgen, die eher dazu angetan sind, Kulturen und Zivilisationen zu zerstören.

Die orientalische Despotie der Assyrer 

Man könnte auch der These nachgehen, daß sich vorderorientalische, despotische Geisteshaltungen im Angesicht eines vergleichsweise größeren Wohlwollens, einer vorherrschenden Großzügigkeit und Menschenliebe, die man etwa ab 3.300 v. Ztr. bei der Kultur der Sumerer findet, und wie sie dann auch das Auftreten des indogermanischen Geistes im Vorderen Orient mit sich gebracht haben mag - mit Völkern wie den Hethitern und den Mitanni - eine Art Kontrastwertung hervor gerufen haben mag, durch die sich despotische Geisteshaltungen noch einmal verschärft haben mögen.

Es wurden also womöglich - im Angesicht der sumerischen und indogermanischen Geisteshaltung und der durch sie gelebten "gruppenevolutionären Strategien" - entgegengesetzte "gruppenevolutionäre Strategien" entwickelt, die in der Lage waren, mit den gruppenevolutionären Strategien der Sumerer und Indogermanen "mitzuhalten", bzw. diese sogar zu überwinden.

So kann womöglich sowohl die Entstehung der Welteroberungs-, Vernichtungs- und Ausrottungswünsche, sowie der tyrannischen, despotischen Flüche und der Deportationspolitik der assyrischen Könige erklärt werden sowie auch die daraus abgeleitete Geisteshaltung des Alten Testamentes, dessen Geisteshaltung hinwiederum ohne Frage durch die Ausbreitung des indogermanischen Hellenismus seine letzte einschneidende Verschärfung und Bekräftigung erhalten hat.

Im Angesicht des Hellenismus scheint sich das Priestergeschlecht der Makkabäer, bzw. der Hasmonäer in Judäa - mit Rückhalt in konservativen Bevölkerungsteilen in Judäa - auf die alten despotischen, verfluchenden und verdammenden Geisteshaltungen der Assyrer besonnen zu haben, die in Teilen noch lebendig gelebt worden sein müssen, und sie scheinen diese in noch einmal verschärfter Weise mit neuem Leben erfüllt zu haben. Auf diese Weise entstand die mosaische Unterscheidung zwischen Wahr und Falsch (in der Deutung von Jan Assmann).

Wobei man während des 4. und 3. Jahrhhunderts v. Ztr. eine lange mythische Tradition und "Geschichte" der eigenen jüdischen Vorfahren bis hinauf zu Moses, zu Abraham und zu Adam und Eva einfach nur "erfand" und aus verschiedenen kulturellen Überlieferungen des Vorderen Orients "kompilierte", um mit den Ursprungssagen, Göttersagen und Königslisten Ägyptens, der Assyrer, der Babylonier und der Perser "mithalten" zu können und ihnen etwas wenigstens annähernd Gleichwertiges an die Seite stellen zu können.

Damit waren die Verfasser des Alten Testamentes so erfolgreich, daß wir noch am Beginn des 21. Jahrhunderts erstaunt sind zu erfahren, daß jene Religion, die angeblich schon Moses gelehrt haben sollte, und die die älteste Religion der Menschheit sei, tatsächlich erst von Juden gelebt und praktiziert worden ist ab der Zeit der Hasmonäer-Herrschaft, also ab der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Ztr.. Daß sie also in dieser Form eine der jüngsten Religionen der Menschheit darstellt. Der Rest der Überlieferung des Alten Testaments ist - schlichtweg - erfunden, Propaganda, hat nur außerordentlich wenig im eigentlichen Sinne "historischen" Wert zumindest für die Zeit, die zu beschreiben in den Fünf Büchern Moses unterstellt wird.

Abb. 11: Semitisch-Phönizischer König, 9. Jhdt. v. Ztr. - Fayence-Kopf, gefunden in Tel Abel Beth Maacah an der Nordgrenze des heutigen Israel (OxJArch2024)

Aber zurück zu den Assyrern. Daß die Assyrer keine Sympathieträger der Weltgeschichte waren und sind, wird in vielen Artikeln über sie erwähnt (U. Graser in G/Geschichte, bzw. Focus2016):

"Schreckensherrschaft der Assyrer - Sie schlachteten Menschen wie Schafe und schnitten ihre Köpfe ab" 

Oder (M. Schulz in Spiegel2016):

"Choresographie des Grauens - Warum war der assyrische Staat so brutal?"

Oder (T. Spreckelsen in FAZ2019):

"Gottes Geißel - Eine Kultur, die hohe Kunstfertigkeit mit großer Grausamkeit vereinte"

Wenn heute Katholiken über das Verhältnis zwischen Assyrern und Alten Testament sprechen, hört sich das so an (T. M. Steiner auf: Katholisch2018):

Gott ist barmherzig, aber - das betont das Buch Nahum - das bedeutet auch, daß Gott um seiner Gerechtigkeit willen Vergeltung übt und sein Zorn entbrennt, um seine Feinde zu bestrafen. Dies verdeutlichen bereits die ersten Worte des Buches: "Ein eifernder Gott, der Vergeltung übt, ist der HERR. Vergeltung übt der HERR und ist voll Zorn. Der HERR übt Rache an seinen Gegnern und hält fest am Zorn gegen seine Feinde." (Nahum 1,2). Assyrien werde vom Schwert gefressen werden. Die damalige Hauptstadt Ninive, die in der Nähe des heutige Mossul im Norden Iraks lag, wird als Prostituierte beschrieben, die öffentlich entblößt werden wird. Dem übermächtigen Feind werden unheilbare Wunden zugefügt werden. Die Gewaltsprache des Buches Nahum ist eine Reaktion auf die Grausamkeit der Assyrer und antwortet in der Sprache der assyrischen Propaganda auf die Übermacht des Großreiches. (...) Die Vergeltung findet ihren radikalsten Ausdruck im Bild der öffentlichen, durch Gott vollzogenen Entehrung der weiblich personifizierten, als Hure titulierten Stadt Ninive (Nahum 3,4-7). (...) Diese Worte stellen für die israelitischen und heutigen Leser und Leserinnen klar, daß alle Feinde Gottes, egal welchem Volk sie angehören, sich vor seiner Vergeltung fürchten müssen.

Man weiß also nicht: Handelt es sich um eine historische Betrachtung oder gelten diese Worte auch noch heute für die "Gläubigen" ... Und weiter (T. M. Steiner auf: Katholisch2018):

Dem Staatsgott Aššur war der assyrische König als oberster Heerführer unterstellt. Bei der Thronbesteigung mußte sich der Monarch ihm gegenüber verpflichten, das Reichsgebiet zu vergrößern. Jährlich mußte im sogenannten Gottesbrief dem Staatsgott Aššur ein ausführlicher Bericht über die königlichen Kriege und Eroberungen vorgelegt werden. Die unterworfenen Völker wurden mit den Mitteln brutalster Abschreckung unterdrückt. Als Rechtfertigung der Unterdrückung erklärte die assyrische Propaganda, daß die Götter der Fremdvölker Aššur angerufen hätten, damit er ihre Völker bestrafe.

Es scheint fast, als ob die Menschen in Judäa das genauso gesehen haben, daß sie die Siege der Assyrer über sich selbst als "gerechte Strafe" für ihre eigenen "Sünden" angesehen haben. Wer aber erst einmal einen solchen Blick in die Völkerwelt hat, kann den Spieß auch umkehren und der Meinung sein, der eigene Gott hätte einem befohlen, alle Menschen und Völker zu bestrafen, die nicht an ihn glauben. Und fertig ist das Grundmuster des Denkens, Fühlens und Handelns, das sich im Alten Testament wiederspiegelt. An anderer Stelle lesen wir (T. Kissel in Spektr.d.Wiss.2014):

Als Meister der Grausamkeit gelten die Assyrer. Wortreich rühmten sich ihre Könige des gräßlichen Umgangs mit den Feinden: "Einige ließ ich pfählen und ausweiden, andere schinden und überzog mit ihren Häuten die Stadtmauern", frohlockte Assurnasipal (883-859 v. Chr.), der diese bestialischen Gräueltaten auch gleich - für jeden sichtbar - in lebensgroßen Reliefs an den Außenwänden seines Palasts dokumentieren ließ. Nicht minder zimperlich gingen die persischen Großkönige mit ihren Feinden um: Verrätern ließen sie geschmolzenes Metall in Ohren und Mund gießen, schnitten ihnen Ohren und Nasen ab oder stachen ihnen die Augen aus. Besonders bestialisch war die Hinrichtungsart des "In-den-Trog-Setzens" ...

... Wir ersparen uns und den Lesern hier den Rest. Über die Geschichte Babylons hören wir (Wiki):

Die Eroberung Babylons durch die Hethiter unter König Muršili I. (1620-1595 v. Chr.) ist nur schlecht belegt, das genaue Datum ist unbekannt. (...) Nach dem Fall Babylons setzen schriftliche Dokumente ganz aus, die nächsten stammen aus der Zeit der Kassitenherrschaft und sind vermutlich etwa 100 Jahre später anzusetzen. In der Folge, vielleicht nach einer Episode unter Gulkišar, einem König der Meerlanddynastie, übernahmen die Kassiten für 400 Jahre die Herrschaft über die Stadt. Als im 14. Jahrhundert v. Chr. König Kurigalzu I. (1390-1370 v. Chr.) die Residenzstadt Dur-Kurigalzu gründete, blieb Babylon geistig-religiöses Zentrum. Um 1225 v. Chr. wurde Babylon durch den assyrischen König Tukulti-Ninurta I. (regierte ca. 1233-1197 v. Chr.) erobert, der die Statue des Stadtgottes Marduk wiederum verschleppte, diesmal nach Assyrien.

Auch die nördlicher beheimateten Assyrer müssen ja dann in dieser Zeit von den Hethitern erobert worden sein. Und wir hören über sie auch Ähnliches (Wiki):

In Nordmesopotamien folgte ein Zeitalter (~1700-1500 v. Chr.), aus dem nur wenige Inschriften bekannt sind. Die Levante war zwischen Hethitern, Mittani und Ägyptern umkämpft. In der Endphase der altassyrischen Zeit wurde Assur von Mittani erobert, das Stadttor von Assur wurde um 1450 von Sauštatar nach Hanilgabat verschleppt (Šuppililiuma-Šattiwaza-Vertrag). Assyrien wurde von 1450 bis 1380 v. Chr. ein Vasallenstaat Mittanis. In dieser Zeit war Assyrien wieder auf die Stadt Aššur und ihre unmittelbare Umgebung beschränkt.

Die Mittani waren ein zumindest leicht indogermanisch beeinflußtes Volk. Bei ihnen finden sich (Wiki) ...

... einzelne indoarische Wörter. Zu Letzteren gehören Personennamen, hippologische Termini, Zahlen sowie Namen von Göttern, die zum Teil auch aus dem vedischen und persischen Pantheon bekannt sind. 

Dazu gehören zum Beispiel auch Namen für die Fellfarben von Pferden, sowie ein Ausdruck für Streitwagenkämpfer. Wir hören weiter (Wiki):

Mittanis Könige trugen ausschließlich nichthurritische Thronnamen, von denen einige als indoarisch identifiziert worden sind. Da im Šattiwazza-Vertrag indoarische Gottheiten erwähnt werden (wenn auch nicht an führender Stelle) und der Hurriter Kikkuli in einem hethitischen Text indoarische Termini für das Pferdetraining verwendete, ist vermutet worden, daß sich Indoarier irgendwann an die Spitze hurritischer Fürstentümer oder Stammesverbände gesetzt hatten. Einer anderen Ansicht zufolge waren (spätere) hurritische Eliten zu einem unbekannten Zeitpunkt von indoarischem Kulturgut beeinflußt worden, wofür auch sprechen könnte, daß mindestens ein Mittani-König (Šattiwazza) vor seiner Thronbesteigung einen hurritischen Namen trug.

Nofretete, die Gattin des ägyptischen Königs Echnaton (1351-1321 v. Ztr.) war - möglicherweise - eine mittanische Prinzessin (Stgen2021). Wir hatten schon letztes Jahr aus archäogenetischer Sicht auch über die Mitanni geschrieben (Stgen2022):

Hurri, Mitanni, Hethiter, Lyder, Lyker und andere antike, vom Kaukasus nach Anatolien zugewanderte Völker zeigen, daß man auch ohne Steppen-Genetik, sowie mit - wie ohne - indogermanische Sprache eine irgendwie spürbare kriegerische, "indogermanische" Mentalität leben konnte.

Diese Mentalität jedenfalls nahm ab etwa 1700 v. Ztr. auch Einfluß auf die Gestaltung der Geschichte der Assyrer und Urartäer. Soweit in einem ersten Zugriff Einblicke in die uralte  Geschichte der semitischen Sprachfamilie. 

Abb. 12: Stele ("Kudurru") des Königs Melishipak I. (1186-1172 v. Ztr.) - Die Szene zeigt thronend die Gottheit Nanaja, vor die König Meli-Šipak seine Tochter führt - - - Sonne, Mond und Stern sind die Symbole der Gottheiten Šamaš, Sin und Ištar. Kassitenzeit, im 12. Jahrhundert v. Ztr. als Kriegsbeute nach Susa gebracht (Wiki)

Sumer und Babylon spielen auch in der Geschichte der Astronomie eine große Rolle (Wiki) (ausführlicher behandelt auf dem englischen Wikipedia). 

Die Astronomie der Chaldäer

Die von den Sumerern angestoßene Beschäftigung mit der Astronomie wurde dann erstaunlicherweise noch Jahrtausende später von den Assyrern und Chaldäern fortgeführt (Wiki):

Im 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. entwickelten babylonische Astronomen in der Astronomie einen neuen empirischen Ansatz. Sie begannen, sich mit ihrem Weltbild und ihrer Philosophie zu beschäftigen und dieselben aufzuzeichnen, die sich mit einer idealen Natur des Universums befaßten, und sie begannen, eine interne Logik in ihre Voraussage zum System der Planeten zu bringen. Dies war ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der Astronomie und auch zur Wissenschaftstheorie. Dieser neuartige Ansatz wird von einigen heutigen Wissenschaftlern  als eine erste wissenschaftliche Revolution bezeichnet.
During the 8th and 7th centuries BC, Babylonian astronomers developed a new empirical approach to astronomy. They began studying and recording their belief system and philosophies dealing with an ideal nature of the universe and began employing an internal logic within their predictive planetary systems. This was an important contribution to astronomy and the philosophy of science, and some modern scholars have thus referred to this novel approach as the first scientific revolution.

Das geschah also zur Zeit der Vorherrschaft der blutrünstigen Assyrer. Im Windschatten ihrer Eroberungspolitik waren also durchaus auch noch wertvollste kulturelle Entwicklungen möglich. Dieser Umstand dürfte in wesentlicher Weise zu berücksichtigen sein hinsichtlich des Gesamtbildes der Geschichte der semitischen Völkergruppe. Womöglich sind solche Aspekte auch viel wesentlicher als all die Vernichtungskriege der Assyrer.

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*) Hier noch einige Stimmen aus der Wissenschaftsberichterstattung zu diesem Thema (UniWien, 25.2.22; ebenso: Arch., 2.9.22):

Des Weiteren weisen die Ergebnisse auf mindestens zwei Wanderungsbewegungen vom Kernland des Fruchtbaren Halbmondes zu den frühen bäuerlichen Gesellschaften Anatoliens hin.

Und (Harvard, 25.8.22):

Analysen zu den Zeiten vor und nach der Erfindung der Keramik ergaben mindestens zwei Ausbreitungsbewegungen heraus aus dem Fruchtbaren Halbmond, in dem der Ackerbau zuerst aufgetreten ist, nach Anatolien hinein als dort der Ackerbau ebenfalls begann.
Analyses before and after the invention of pottery reveal at least two waves of migration from the Fertile Crescent, where agriculture first arose, into Anatolia as farming began there as well.

Oder noch genauer (Haaretz, 25.8.22):

"Die Vermischung aus Mesopotamien ist vorhanden in allen vorkeramischen neolithischen Anatoliern, die wir untersucht haben, sie ist aber nicht vorhanden in epipaläolithischen Individuen von Pinarbasi in Anatolien aus der Zeit um 15.500 vor heute (welches der einzige Jäger-Sammler-Anhaltspunkt aus Anatolien bislang ist)," stellt Reich klar.
“The Mesopotamian admixture is present in all Pre-Pottery Neolithic Anatolians we sampled, but not in an Epipaleolithic individual from Pinarbasi in Anatolia from about 15,500 years ago (which is the one hunter-gatherer datapoint from Anatolia),” Reich clarifies.

Und es heißt (Haaretz, 25.8.22):

Wo die levantinische Herkunftsgruppe ursprünglich her stammt, ist nicht klar; vielleicht aus der südlichen Levante - sagen wir Jordanien oder Israel oder vielleicht aus Syrien - von wo es noch keinerlei archäogenetische Daten gibt, aber wo es eine reiche keramikzeitliche neolithische Kultur gegeben hat.
Where the Levant component originated is not clear; the southern Levant – say, Jordan or Israel, or perhaps Syria – from where there is no data, but where there had been a rich Pottery-period Neolithic culture.

/ Erster Entwurf: 20.9.2022 /

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  1. Lazaridis I, Alpaslan-Roodenberg S,  (...) Pinhasi R, Reich D (2022) The genetic history of the Southern Arc: A bridge between West Asia and Europe. Science 377, 25.8.2022 (pdf) (Anhänge)
  2. Lazaridis I, Alpaslan-Roodenberg S, (...) Pinhasi R, Reich D (2022) Ancient DNA from Mesopotamia suggests distinct Pre-Pottery and Pottery Neolithic migrations into Anatolia. Science 377, 982-7, 25.8.2022 (pdf) (Anhänge)
  3. Lazaridis I, Alpaslan-Roodenberg S, (...) Pinhasi R, Reich D (2022) A genetic probe into the ancient and medieval history of Southern Europe and West Asia. Science 377, 940-51, 25.8.2022 (pdf) (Anhänge
  4. The Southern Arc and its lively genetic History, Pressemitteilung Universität Wien, 25.8.2022, https://lifesciences.univie.ac.at/news-events/newsordner/einzelansicht/news/the-southern-arc-and-its-lively-genetic-history/
  5. Schuster, Ruth: Genetic Study Detects Unexpected Origin of World’s First Farmers, 25.8.2022 (Haaretz, 25.8.2022)
  6. The Genomic History of the Middle East. Mohamed A. Almarri, Marc Haber, Reem A. Lootah, Pille Hallast, Saeed Al Turki, Hilary C. Martin, Yali Xue, Chris Tyler-Smith. Als Preprint: bioRxiv, 18.10.2020, https://www.biorxiv.org/content/10.1101/2020.10.18.342816v1; endgültige Fassung online 4.8.2021 in: Cell, Volume 184, Issue 18, 2 September 2021, Pages 4612-4625.e14, https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0092867421008394
  7. Eirini Skourtanioti, ... Wolfgang Haack, Johannes Krause: Genomic history of neolithic to bronze age Anatolia, Northern Levant, and Southern Caucasus. Cell 181(5), Mai 2020, 1158-1175. https://doi.org/10.1016/j.cell.2020.04.044.
  8. Bading, Ingo: Populationsstrukturen und Transitions-Vorgänge im Levanteraum vom Epi-Paläolithikum bis zum PPNB. Seminararbeit für den Anthropologischen Kurs II (Populationsstrukturen) von PD Dr. Winfried Henke, Universität Mainz, SS 1995 (Acad)
  9. Helfritz, Hans: Geheimnis um Schóbua. Unter südarabischen Beduinen ins Land der Sabäer. Deutsche Verl. Ges., Berlin  1935 (70 S.) (UniHalle)
  10. Hommel, Fritz: Geschichte Babyloniens und Assyriens. G. Grote'sche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1885 (Archiv)
  11. Garbini, Giovanni: Alte Kulturen des Vorderen Orients. Architektur, Wandmalerei,Plastik, Keramik, Metallarbeiten, Siegel. Bertelsmann, Gütersloh 1968 [engl OA: 1966, Reihe "Landmarks of the World's Art"]
  12. Adrian Heinrich ( Acad )
  13. Adrian Heinrich u.a., englische Übersetzung, https://www.ebl.lmu.de/corpus/L/1/2

Dienstag, 12. September 2023

"Auf feuchter Wiese der Charente"

"Das Nächste Beste" - Der Zug der Stare als geschichtsphilosophisches Gleichnis

In dem häuslichen Bücherschrank findet sich - eher zufällig - das Hölderlin-Jahrbuch des Jahres 1998/99. Darin blätternd fällt einem ein Aufsatz ins Auge mit dem Titel (1): 

"Wie ein Hund - Zum „mythischen Vortrag“ in Hölderlins Entwurf ‘Das Nächste Beste’".

Die ersten drei Worte spielen auf die Zeile eines jener Gedichtentwürfe Hölderlins an, die einen immer schon in besonderem Maße angesprochen haben, nämlich des Gedichtentwurfes "Vom Abgrund nämlich". Es handelt sich um die Zeilen:

               Bald aber wird, wie ein Hund, umgehn
In der Hitze meine Stimme auf den Gassen der Gärten
In denen wohnen Menschen
In Frankreich.
Erst unlängst war uns der Gedanke gekommen, daß gerade auch dieser Gedichtentwurf inhaltlich zu der geschichtsphilosophischen Thematik "Griechenland - Hesperien" paßt, die hier auf dem Blog inzwischen mehrfach erörtert worden ist.

Abb. 1: Ein Schwarm Stare auf der Nordseeinsel Juist, September 2010 (Wiki) (Fotograf "4028mdk09") 

In seiner Gesamtheit lautet der Gedichtentwurf folgendermaßen:

Vom Abgrund nämlich haben
Wir angefangen und gegangen
Dem Leuen gleich, in Zweifel und Ärgernis,
Denn sinnlicher sind Menschen
In dem Brand
Der Wüste
Lichttrunken und der Tiergeist ruhet
Mit ihnen. Bald aber wird, wie ein Hund, umgehn
In der Hitze meine Stimme auf den Gassen der Gärten
In denen wohnen Menschen
In Frankreich.
Der Schöpfer.
Frankfurt aber, nach der Gestalt, die
Abdruck ist der Natur zu reden
Des Menschen nämlich, ist der Nabel
Dieser Erde, diese Zeit auch
Ist Zeit, und deutschen Schmelzes.
Ein wilder Hügel aber stehet über dem Abhang
Meiner Gärten. Kirschenbäume. Scharfer Odem aber wehet
Um die Löcher des Felses. Allda bin ich
Alles miteinander. Wunderbar
Aber über Quellen beuget schlank
Ein Nußbaum und ... sich. Beere, wie Korall
Hängen an dem Strauche über Röhren von Holz,
Aus denen
Ursprünglich aus Korn, nun aber zu gestehen, befestigter Gesang von Blumen als
Neue Bildung aus der Stadt, wo
Bis zu Schmerzen aber der Nase steigt
Zitronengeruch auf und das Öl, aus der Provence, und es haben diese
Dankbarkeit mir die Gasgognischen Lande
Gegeben. Gezähmet aber, noch zu sehen, und genährt hat mich
Die Rappierlust und des Festtags gebraten Fleisch
Der Tisch und braune Trauben, braune
... und mich leset o
Ihr Blüten von Deutschland, o mein Herz wird
Untrügbarer Kristall an dem
Das Licht sich prüfet wenn ... Deutschland

Wenn solche Worte fallen, möchte man selbst ganz verstummen. Hier hat sich jemand bis an die Grenze des Sagbaren gewagt, womöglich noch darüber hinaus. 

Dieser Gedichtentwurf ist voller Bezüge, und zwar unterschiedlichster Art. Natur und Geschichte sind auf verschiedenerlei Beziehungsebenen miteinander in Verbindung gebracht. 

Auf die Erwähnung von Frankreich folgt gleich in der übernächsten Zeile die Erwähnung von Frankfurt und zum Schluß von Deutschland. Das Wechselspiel zwischen Frankreich und Deutschland, zwischen Süd und Nord innerhalb Europas, zwischen Gascogne und Hessen, der Gedanke von diesem Wechselspiel bildet allzu deutlich einen Hintergrund zu diesem Gedichtentwurf.

Eine der wichtigsten Zeile zur inhaltlichen Deutung desselben scheint uns dann aber - unter den Vorzeichen der Griechenland-Hesperien-Erörterungen - die Zeile:

"Denn sinnlicher sind Menschen / In dem Brand / der Wüste". 

Damit scheint uns doch - einmal erneut - der "südliche Mensch" angesprochen zu sein. Er lebt - nicht zuletzt - auch in Bordeaux, in der Gascogne. Er lebt nahe an Afrika und seiner Wüste. Aber der "Tiergeist", der zugleich das Feuer vom Himmel ist ("lichttrunken"), der schläft mit ihm, mit dem Menschen des Südens. So wie Cerebus schläft, der Hund, der den Eingang der Unterwelt bewacht, so daß die Toten sich ungehindert unter die Lebenden mischen können und umgekehrt (1). Die Nacht herrscht, die Dunkelheit.

Der Tiergeist ist eingeschlafen in jenem Abgrund, der sich mit dem Untergang der antiken Mittelmeerkultur und mit dem Heraufkommen des Abendlandes aufgetan hat. Die Welt der Wirklichkeit ist zu Träumen der Nacht geworden.

Und nun haben "wir" - die Menschen des Abendlandes - aus dem Abgrund, der sich in dieser Dunkelheit, in dieser Nacht aufgetan hat, "angefangen" und "sind gegangen / dem Leuen gleich". 

So dieses geschichtsphilosophische Bild, bzw. eine erste Ausdeutung dieser Zeilen des Gedichtentwurfes.

Der Leu, der Löwe steht hier, soweit uns das derzeit - vom Rhythmus des Gedichtes und seines Gedankenganges her - verständlich ist, für den hesperischen Menschen, den nüchternen Menschen. Er geht nüchtern und ernüchtert - in Zweifeln und in Ärgernis - seinen Gang. Es ist der mittelalterliche Mensch und jener Mensch, der mit Restbeständen von "Mittelalter" noch zu Zeiten von Hölderlin ringt.

Von diesem nüchternen, ernüchterten Menschen erwartet Hölderlin - aktuell, für die Zeit seines Lebens und seines Dichtens - keine gar zu umwälzenden Dinge. Hölderlin aber harrt einem umwälzenden gesellschaftlichen Geschehen entgegen, einer Umwälzung aller Dinge. Er verkündet es in seinen Dichtungen,. Er möchte den Weg bahnen für diese Umwälzung. Er möchte die Menschen vorbereiten - auf diese Umwälzung.

Abb. 2: Die Verbreitung des Gemeinen Stars (Wiki) - Dunkle Farben einheimisch, helle Farben eingeführt; grün Heimat, gelb Sommergast, blau Wintergast

Zu seiner eigenen Zeit erwartet Hölderlin von den sinnlichen Menschen des Südens - trotz ihres Schlafes - noch eher etwas. Sie haben ja auch zu seiner Zeit - in Revolution und Gegenrevolution - heftig für umwälzende Dinge gekämpft in der Weltgeschichte.

Hölderlin glaubt offenbar auch, den Menschen des Südens selbst erneut und leichter entflammen zu können - durch seine Dichtung, durch seine Gedanken. Und womöglich hat er auch damit recht behalten: Der Marxismus, der - über Hegel - in letzter Instanz auf ihn, auf Hölderlin, zurück geht, sollte recht bald umgehen "in der Hitze" in den Städten, in denen wohnen Menschen, in Frankreich. Noch auf länger hin sollten sich viele weltgeschichtlichen Umwälzungen in Frankreich früher und wenigstens zum Teil auch heftiger vollziehen als in Deutschland. Man könnte in diesem Zusammenhang an die Pariser Commune des Jahres 1871 denken.

Zu dem Zeitpunkt als wir in unseren Vorüberlegungen an diesem Punkt angelangt waren, stießen wir auf den Eingangssatz des eingangs genannten Aufsatzes. Er lautet (1):

Hölderlins poetischer Spätstil nach der Rückkehr aus Frankreich, der Inhalt des "Homburger Folioheftes", wirft nicht nur in editorischer Hinsicht gewaltige Probleme auf, unklar ist auch, wie der bis heute schockierende Tonfall dieser Verse angemessen zu beschreiben wäre.

Die hier gewählte Charakterisierung "schockierender Tonfall" erscheint uns selbst schon eine angemessene Beschreibung zu sein. Deshalb, immerhin, eine Hölderlin womöglich sehr gerecht werdende Fragestellung: Wie kann das Aufwühlende dieser Verse, wie kann die ihnen zugrunde liegende tiefere Wahrheit gedeutet, umschrieben werden, verständlich gemacht werden? 

Auf die Thematik des Homburger Folienheftes insgesamt waren wir erstmals 2019 gestoßen (DVHS2019). Seither ist uns klar, daß wir uns mit diesem Thema nach und nach noch ausführlicher beschäftigen müssen.

Die Abfolge der Gedichte in diesem Folioheft, steht, so fanden wir 2019 schon sehr interessant, womöglich in einem sinnvollen Zusammenhang miteinander. Vielleicht wollte Hölderlin nämlich - so war zu erfahren - sie in genau dieser Reihenfolge auch veröffentlichen (Wiki). 

Im Dezember 1801 war Hölderlin nach Bordeaux aufgebrochen, Ende Mai 1802 war er von dort nach Nürtingen zurück gekehrt. Von 1804 bis zum 11. September 1806 lebte er dann auf Einladung seines Freundes Isaac von Sinclair in Bad Homburg. Isaac von Sinclair bestritt auch die Kosten seiner Anstellung an der dortigen Bibliothek aus seinem eigenen Einkommen. Am Ende dieser Zeit stand die Anklage wegen Hochverrat, die Anklage, von Sinclair, Hölderlin und andere hätten Pläne verfolgt, den Herzog von Württemberg zu ermorden ...

"Bald aber wird, wie ein Hund, umgehn / In der Hitze meine Stimme auf den Gassen der Gärten / In denen wohnen Menschen / In Frankreich."

Wenn noch heute der Tonfall solcher Verse als "schockierend" wahrgenommen werden kann, dann wird man sich womöglich auch nicht wundern, wenn Strafverfolungsbehörden damaliger Zeit unruhig wurden, wenn sie einen Dichter im stillen Kämmerlein solche und andere Worte dichten sahen und ihn befreundet sahen mit einem politisch, revolutionär umtriebigen Minister eines kleines deutschen Duodez-Fürstentums. Da mag es niemanden mehr wundern, daß Hölderlin in jenen Tagen begann, den Verrückten zu spielen und hinaus in die Gassen von Bad Homburg rief: "Ich will kein Jakobiner sein. Ich bin ein getreuer Untertan meines lieben Herzogs." 

Schlafende Hunde waren nämlich schnell geweckt. Mitunter sogar im schläfrigen Deutschland ...

Etwa am Anfang des dritten Drittels dieser Gedichte und Gedichtentwürfe des Homburger Folienheftes, die fast allesamt berühmt sind, finden sich die Entwürfe "Das Nächste Beste" und "Vom Abgrund nämlich". Mit diesen beiden Gedichtentwürfen vor allem ist der genannte Aufsatz befaßt. Er sieht sie in einem gedanklichen Zusammenhang miteinander stehen (1).

Abb. 3: "Auf feuchter Wiese der Charante" - Hier die Charente bei Rochefort, schon fünfzehn Kilometer vor ihrer Mündung in den Atlantischen Ozean (Wiki) (Fotograf: Jean-Pierre Bazard, 2014)

Immer erneut ist es ein poetisches Bild, wenn sich die Stare im Herbst sammeln. Wenn sie schließlich in den Süden, ans Mittelmeer ziehen. In großen Schwärmen fliegen sie zum Himmel auf. Und der Schwarm bricht immer wieder nach einer neuen Richtung aus, so daß ganz ungewöhnliche Formationen entstehen. Ein umtriebiges, schnelles Völkchen, diese Stare. 

Ebenso poetisch dürfte das Bild sein, wenn sich die Stare im März und April in vielen Teilen des Mittelmeerraumes und des südlichen Frankreich sammeln, um wieder zurück in den Norden ziehen. 

Die Stare als Mittler zwischen Süden und Norden

In diesem Bild vom Zug der Stare hat Hölderlin einen tiefen philosophischen, geschichtsphilosophischen Gedanken gefaßt, er hat diesem Gedanken durch dieses Bild eine ganz besondere Färbung, Tönung und Stimmung gegeben. Die Natur und die Geschichte verschmelzen in diesem Bild in eines. 

Das Sammeln der Stare und der Zug der Stare - im Herbst nach Süden und im Frühjahr nach Norden - ist ihm ein Bild für den engen Zusammenhang, für das enge Zusammenspiel, für die "Verwandtschaft", die "Dialektik" zwischen der Geisteswelt und dem kulturellen und revolutionären Wollen des "südlichen Menschen" in Südeuropa und der Geisteswelt und dem kulturellen und revolutionären Wollen des nördlichen Menschen in Mittel- und Nordeuropa. Es ist ihm ein Bild für: 

"Das Nächste Beste". 

Denn es handelt sich um zwei Geisteswelten, die geographisch nah beieinander liegen und jede der Geisteswelten bildet - womöglich - für die jeweils andere "Das Nächste Beste". Die Dialektik zwischen beiden Großräumen hat die Geistesgeschichte Europas in den letzten eineinhalb Jahrtausenden jedenfalls wieder und wieder bestimmt. 

Das "germanische" Element, in dem der Protestantismus seine stärksten Wurzeln hat, und das "romanische" Element, in dem der Katholizismus viel länger überleben konnte. Damit sollen nur zwei der wesentlichsten Geistestendenzen des letzten Halbjahrtausends heraus gegriffen sein.

Das Nächste ist das Beste, das ist der Grundgedanke. Die romanische Welt ist das Beste, was der germanischen Welt geschehen konnte, die germanische Welt ist das Beste, was der romanischen Welt geschehen konnte. Obwohl der protestantische Mensch des Nordens letztlich im Protest gegen den Süden zu diesem protestantischen Menschen wurde, in der Abgrenzung zum Süden, spürt Hölderlin doch zugleich auch die Nähe zwischen beiden Welten. Er spürt, daß das Nächste für den jeweils anderen zugleich das Beste sein könnte. Obwohl der protestantische, deutsche Mensch den revolutionären Gedanken Frankreichs von 1789 eher ins Geistige verschoben wissen wollte (im Sinne der damaligen umwälzenden deutschen Philosophie), war doch das revolutionäre Geschehen in Frankreich für das damalige Deutschland "Das Nächste Beste".

Doch kehren wir zunächst noch einmal zum Gemeinen Star zurück. Auf Wikipedia lesen wir über ihn die trockenen Angaben (Wiki):

Der Großteil der Stare Europas überwintert im Mittelmeerraum und in Nordwestafrika sowie im atlantischen Westeuropa. (...) Anfang September beginnt der eigentliche Wegzug, er erreicht seinen Höhepunkt Mitte Oktober und ist Ende November weitgehend abgeschlossen. Der Heimzug beginnt im Februar und ist in Mitteleuropa meist Ende März, im Norden Europas erst Anfang Mai beendet.

97,5 % aller Stare in der Schweiz und in Süddeutschland, sowie 92 % aller Stare östlich der Elbe und östlich des Böhmerwaldes wandern in den Süden. Nur je 2,5 % bis 8 % der Stare bleiben während des Winters in den jeweils genannten Gegenden vor Ort. 

Abb. 4: Eine Bauernfähre über die Charente bei Roffit, Südwestfrankreich, gemalt von L-E May, 1866, Museum der Schönen Künste Angoulême (Wiki)

Welch ein schönes Bild, dieses Wandern des menschlichen Geistes hinüber und herüber über die Jahrhunderte hinweg als Staren-Zug zu beschreiben und zu charakterisieren. Dieser Staren-Zug rückt weit entfernte Gegenden nah zueinander, beläßt ihnen dabei jedoch zugleich ihre jeweilige Eigenart und ihren Abstand zueinander. 

Der Weg von Bordeaux nach Paris

Im Mai 1802 war Hölderlin mit dem "schönsten Zeugnis" von seinem dortigen deutschen Brotgeber, in dessen Haus er nur wenige Monate als Hauslehrer gelebt hatte, geschieden. Bordeaux gehört zum Departement Gironde. Und 1802 waren die Erinnerungen noch frisch daran, daß aus den Gegenden des Departments Gironde vor allem die Girondisten (Wiki) stammten, jene einflußreiche Gruppierung von Abgeordneten des revolutionären Frankreich, die aus dem südlichen und westlichen Frankreich stammten, und die zwischen 1791 und 1793 - also erst zehn Jahre zuvor - die Revolution in Frankreich voran getrieben hatten. Auf dem englischen Wikipedia ist über sie zu lesen (Wiki):

Sie setzten sich für das Ende der Monarchie ein, widersetzten sich dann aber der rasanten Dynamik der Revolution. Das führte zu einem Konflikt mit den radikaleren Montagnards. Sie dominierten die Bewegung bis zu ihrem Sturz im Aufstand vom 31. Mai bis 2. Juni 1793. Dieser führte zur Vorherrschaft der Montagnards und zur Säuberung und schließlich zur Massenhinrichtung der Girondisten. Dieses Ereignis steht am Beginn der Schreckensherrschaft.

Man kann vielleicht - in einem sicherlich sehr unzulänglichen Vergleich - sagen, daß die Girondisten so etwas wie die gemäßigten "Mehrheitssozialdemokraten" der russischen Revolution von 1917 und der deutschen Revolution von 1918 waren. Auch die Sozialdemokraten befürworteten die Abdankung des Zaren von Rußland und der Kaiser von Deutschland und Österreich. Aber auch die Sozialdemokraten wurden schließlich in Rußland von den "Kommunisten" "überrannt" und ersetzt, bzw. standen in Deutschland in Gefahr, von den Kommunisten ersetzt zu werden. (Vor letzterem bewahrte sie nur das Bündnis mit einer stärkeren demokratischen Mitte und mit den politisch rechtsstehenden Freikorps. Das Überrennen der Sozialdemokraten gelang östlich der Elbe erst nach einem verheerenden Zweiten Weltkrieg.)

In Deutschland hat ein großer Teil der fortschrittlicher denkenden Kreise nach 1789 sicherlich mit den Girondisten sympathisiert. Hölderlin kam in Bordeaux also - von diesem Blickwinkel her gesehen - in eine "Heimat seines Geistes", nämlich in die Heimat des Geistes der Revolution von 1789 bis 1791. 

Von Bordeaux nach Paris sind es 550 Kilometer. Über 75 Kilometer hinweg wird dieser Weg von dem romantischen kleinen Flüßchen Charente (Wiki) begleitet, grob gesagt zwischen Angoulême und Civray (s. Abb. 5). Die Charente fließt durch viele anmutige kleinere und größere Ortschaften. An ihrem Ufer reihen sich entlang: romantische Mühlen, Schlösser und stille Parks (WikiCom).

Der direkte Fußweg nach Paris überquert diesen Fluß (nach Google Maps) erstmals bei Châteauneuf-sur-Charente, einige Kilometer flußabwärts von Angoulême. Er führt dann flußaufwärts an der Charente entlang. Sie schlängelt immer wieder wechselnd einmal rechts, einmal links des Weges parallel und muß deshalb mehrere male überquert werden. So bei Montignac-Charente, bei Mansle, bei Verteuil-sur-Charente und zum letzten mal bei Civray. Dort schließlich läßt der Wanderer den Fluß hinter sich. Der Wanderer hat das Ziel "Paris" vor Augen. Auf diesem Weg sind - sicherlich - auch viele "Girondisten" zuvor schon gen Paris gewandert oder gefahren.

Abb. 5: Die Charente (Wiki)

Über mehr als 300 Kilometer hinweg fließt die Charente - insgesamt gesehen - von Osten nach Westen durch Frankreich und mündet unterhalb von Rochefort in den Atlantischen Ozean. Etwa 130 Kilometer weiter im Norden der Charente findet sich einer ihrer Parallelflüsse, nämlich die Vendée (Wiki). Und mit ihr fällt erneut ein geschichtsträchtiger Name. Dieses Flüßchen hat jenem Departement Vendée seinen Namen gegeben, in dem es nach Beginn der oben erwähnten Schreckensherrschaft 1793 bis 1796 die schwersten gegenrevolutionären Aufstände innerhalb Frankreichs gegeben hat, in denen die Menschen am Heftigsten im Für und Wider des "patriotischen Zweifels" lebten (so der Ausdruck von Hölderlin dazu).

Diese mußten somit bei den fortschrittlicher denkenden Menschen in Frankreich und Deutschland ebenfalls viel Anteilnahme finden. Man kann sagen, daß der Weg von Bordeaux nach Paris zwischen Châteauneuf-sur-Charente und Poitiers "in der Nähe" des Aufstandsgebietes der Vendée viele Gedanken in Hölderlin aufwühlen konnte. So jedenfalls hat es Hölderlin selbst ja dargestellt.

Ein halbes Jahr nach seiner Rückkehr, im November 1802, hat Hölderlin ja von Nürtingen aus an seinen Freund Böhlendorf jenen Brief geschrieben, den wir schon einmal zitiert hatten (s. Stgen2023), der aber - wie uns jetzt klar wird - viel mehr noch von den Eindrücken seiner Rückreise geprägt gewesen sein wird als von den Eindrücken seiner Hinreise (auf die wir diese Ausführungen vor allem bezogen hatten). Mögen also diese Worte aus dem Blickwinkel der Erfahrungen der Rückreise noch einmal gelesen werden:

"Ich habe Dir lange nicht geschrieben, bin indes in Frankreich gewesen und habe die traurige einsame Erde gesehn, die Hirten des südlichen Frankreichs und einzelne Schönheiten, Männer und Frauen, die in der Angst des patriotischen Zweifels und des Hungers erwachsen sind.
Das gewaltige Element, das Feuer des Himmels, und die Stille der Menschen, ihr Leben in der Natur und ihre Eingeschränktheit und Zufriedenheit, hat mich beständig ergriffen, und wie man Helden nachspricht, kann ich wohl sagen, daß mich Apollo geschlagen.
In den Gegenden, die an die Vendée grenzen, hat mich das Wilde, Kriegerische interessiert, das rein Männliche, dem das Lebenslicht unmittelbar wird in den Augen und Gliedern und das im Todesgefühle sich wie in einer Virtuosität fühlt und seinen Durst, zu wissen, erfüllt.
Das Athletische des südlichen Menschen, in den Ruinen des antiken Geistes, machte mich mit dem eigentlichen Wesen der Griechen bekannter. ..."

So die Kernsätze dieser Ausführungen.

Es kommt einem beim Lesen der Gedanke, daß Hölderlin seinen Freund Isaac von Sinclair, durch den er 1806 in die Hochverrats-Anklage hinein geraten sollte, mit solchen, soeben beschrieben südlichen Menschen, Männern identifiziert haben könnte, da ihn doch auch an ihm - sozusagen - "das Wilde, Kriegerische, rein Männliche" interessiert haben wird, ungefähr all das, was er in seinem Roman "Hyperion" dem Freund des Hyperion, dem Alabanda, zugeschrieben hat. 

Diesem kriegerischen, revolutionären und gegenrevolutionären Menschen traute Hölderlin für seine Gegenwart und Zukunft noch mancherlei zu. Ihn dachte er mit, wenn er die Worte formulierte 

"und sind gegangen / dem Leuen gleich / in Zweifel und in Ärgernis".

Am 10. Mai 1802 hatte sich Hölderlin also in Bordeaux den Paß nach Paris ausstellen lassen.

"Auf feuchter Wiese der Charente"

Er war dann jenen Staren nachgezogen, die schon im März und April dem "Nordost" entgegen gezogen waren, der gemeinsamen Heimat entgegen. In seiner Dichtung "Das Nächste Beste" spricht Hölderlin von den Staren, die im März und April gen Norden ziehen:

... Sie spüren nämlich die Heimat,
Wenn
Auf feuchter Wiese der Charente ....

Und ihnen machet wacker
Scharfwehend die Augen der Nordost, fliegen sie auf,



           der Katten Land
Und des Württembergers
Kornebene,

Nur Bruchteile dieses Gedichtes sind fertig gestellt worden, bzw. sind erhalten. Vieles bleibt offen, vieles ungesagt. Doch jeder spürt, daß auch schon in diesen Bruchteilen so viel enthalten ist und noch so viel mehr "zwischen" den Zeilen steht.

"Der Katten Land" - das ist das Land rund um Frankfurt am Main und rund um Homburg vor der Höhe. Dort wird diese Dichtung selbst entstanden sein. Frankfurt am Main nennt Hölderlin in dem eingangs angeführten Gedichtentwurf den "Nabel der Welt". Er ist nicht nur der Ort seiner Liebe zu Diotima, er ist auch der Ort seiner philosophischen Gespräche mit Sinclair und Hegel. Und sowohl Sinclair wie Hegel ebenso wie Hölderlin - wie später Heinrich Heine oder Karl Marx - waren sich bewußt, daß die Philosophie, die man hier untereinander erörterte, revolutionäres Potential enthielt, daß sie Gedanken enthielt, die zur Tat aufforderten, zur Tat entflammten. Dieses revolutionäre Potential sollte sich dann ja auch entfalten, als der philosophische Kreis um den Nachfolger Hegels, rund um Eduard Gans - unter anderem Heinrich Heine, unter anderem Karl Marx - ab 1831 begann, die Philosophie Hegels positivistisch und materialistisch umzudeuten ...

Damit konnte sie dann noch mehr "wie ein Hund umgeh'n" ....

Schlüsselstellung in der Philosophiegeschichte um 1795

Welches revolutionäre Potential in dem damaligen Philosophieren enthalten war, das ist erst durch den deutschen Philosophen Dieter Henrich voll entfaltet und heraus gearbeitet worden. Dazu lesen wir (2, S. 5f):

Forschungen der vergangenen Jahre, besonders die von Dieter Henrich eingeleiteten Studien zur Rolle Hölderlins im Idealismus (...) zeigen, (...) daß er geradezu eine Schlüsselstellung in der Philosophiegeschichte um 1795 einnimmt. 

Es mag Sinn machen, auch noch einen Blick zu werfen in die höchst aufschlußreiche Dissertation der Autorin jenes Aufsatzes, der Auslöser für diesen Blogartikel geworden ist (2). Im ersten Kapitel derselben behandelt sie den interessanten Gedanken, daß das philosophische Nachdenken Hölderlins schließlich - wie dasjenige Schillers - zu dem Ergebnis kam, daß ihre Zeit noch nicht reif war für einen abschließenden großen philosophischen Wurf. Dieser sei erst von künftigen Zeitaltern zu erwarten. 

Und daß die gültigsten Aussagen in ihrer Zeit nicht - wie von Schelling und Hegel versucht - in ein philosophisches System gebracht werden konnten, das dem Gesamtgeschehen in diesem Universum gerecht würde, sondern nur in poetische Form gekleidet werden könnten, und zwar in eine neue Form des Mythos. Das arbeitet die Autorin aufwühlend heraus. 

Das zweite Kapitel behandelt dann die sogenannte "intellektuale Anschauung", einen zentralen Begriff in dem Philosophieren Hölderlins, aber auch in dem Philosophieren Schellings. Dabei handelt es sich um jenes Gotterleben, das der zweiten Seite der Wirklichkeit - über das Erleben des Wahren, Guten und Schönen - zugewandt ist - nach der Deutung der Philosophie des 20. Jahrhunderts (M. Ludendorff).

René Descartes - Verkörperung von "Das Nächste Beste"

[Ergänzung 21.2.24] Es muß in den hier erörterten Zusammenhängen ohne Frage darauf Bezug genommen werden, daß Hölderlins Weg zwischen Poitiers und Paris auch zumindest in die Nähe der Kleinstadt La Haye-en-Touraine kam, der Geburtsstadt des großen René Descartes (1596-1650) (Wiki) (heute deshalb "Descartes" benannt), also nach dem Denken Hölderlins in die Nähe des Geburtsortes des modernen, neuzeitlichen Denkens überhaupt (Wiki):

In seinen Geschichtsvorlesungen lobt Georg Wilhelm Friedrich Hegel Descartes ausdrücklich für seine philosophische Innovationskraft: Bei Descartes fange das neuzeitliche Denken überhaupt erst an, seine Wirkung könne nicht breit genug dargestellt werden. (...) In Descartes’ archimedischem Denkpunkt des „cogito ergo sum“ sieht Hegel einen Beleg dafür, daß Denken und Sein eine „unzertrennliche Einheit“ bilden (vgl. Parmenides), weil an diesem Punkt Verschiedenheit und Identität zusammenfallen. Hegel übernimmt dieses „Anfangen im reinen Denken“ für seine idealistische Systematik.

Hegel hat die Unterscheidung zwischen Sein und Ur-Teilung nie so scharf unternommen wie sein Freund Hölderlin. Aber auch für Hölderlin ist dieses "cogito, ergo sum", die er eben als die "Ur-Teilung" benennt (in seinem Text "Urteil und Sein"), ohne Frage der Beginn des neuzeitlichen Denkens, das über Umwege (also dialektisch) zur Wahrheit führe, der Beginn des von ihm benannten Ganges "dem Leuen gleich in Zweifel und Ärgernis" (siehe oben). Wir lesen (4):

Auch in seinen philosophischen Schriften und in dem Briefroman „Hyperion oder der Eremit in Griechenland“ bezog sich Hölderlin auf diese „allumfassende Gottheit“. (...) Diese Einheit sei in der Neuzeit verlorengegangen; der Verantwortliche für den Sündenfall ist für Hölderlin René Descartes, der eine Teilung der Welt in Subjekt und Objekt, in eine res cogitans und in eine res extensa vornahm. Dadurch wurde die ursprüngliche Einheit zwischen Mensch und Natur zerstört. Die Reflexion vertrieb den Menschen aus dem paradiesischen „Urzustand“ und setzte ihn dem Dressurakt der Rationalisierung aus, der für die Unterdrückung der Triebe, der Emotionen, der Phantasie und der Träume verantwortlich ist (...): „Ach! wär ich nie in eure Schulen gegangen. Ich bin bei euch so recht vernünftig geworden, habe gründlich mich unterscheiden gelernt von dem, was mich umgibt, bin nun vereinzelt in der schönen Welt, bin so ausgeworfen aus dem Garten der Natur, wo ich wuchs und blühte, und vertrockne an der Mittagssonne." (Zitat Hyperion)

Dieser Umstand war ohne Frage mitgedacht, als Hölderlin die Stare - als Verkündiger des Weltgeistes - von den feuchten Wiese der Charente her Richtung Deutschland fliegen ließ, ...

Und Eck um Ecke
Das Liebere gewahrend,
Denn immer halten die sich genau an das Nächste,
Sehn sie die heiligen Wälder und die Flamme, blütenduftend, ...

Weil es, unter anderem René Descartes war, der - in der Touraine geboren - in Paris, in den Niederlanden, in Prag, in Ulm, in England und in Kopenhagen lernte und lehrte. René Descartes ist womöglich gar die deutlichste Verkörperung von "Das Nächste Beste".


/ Im Entwurf: 17.7.2023 /

___________

Anmerkung: Wir beziehen uns in diesem Blogartikel auf Ausführungen von Annette Hornbacher. Diese hat Philosophie, Ethnologie und Literaturwissenschaft in Tübingen studiert. 1993 hat sie promoviert über "Friedrich Hölderlins poetisch-mythische Kritik der Aufklärungsphilosophie". Dieses Buch enthält ebenfalls viele wertvolle philosophische Gedanken. Hornbacher hat danach eine sehr wechselhafte akademische Laufbahn angetreten, sich bewegend zwischen Philosophie, Völkerkunde und Dramaturgie. 2003 wurde sie auf eine Professur für Völkerkunde in Heidelberg berufen. Heute forscht sie über tantrisches Gedankengut und Praktiken im südostasiatischen Raum (!). 2019 hielt sie in diesem Zusammenhang - im Rahmen des "Studium generale" in Heidelberg - den Vortrag "Immaterielles Kulturerbe und seine Problematik" (Yt). Ob sie auf ihrem akademischen Lebensweg das Philosophieren und Dichten Hölderlins wirklich so weit hinter sich gelassen hat wie es dem Äußeren nach scheint? 

___________

  1. Hornbacher, Annette: Wie ein Hund. Zum „mythischen Vortrag“ in Hölderlins Entwurf ‘Das Nächste Beste’. 222-246. In: Hölderlin Jahrbuch 1998-1999.
  2. Hornbacher, Annette: Die Blume des Mundes. Zu Hölderlins poetisch-poetologischem Sprachdenken. Königshausen, Würzburg 1995 [Diss. Uni. Tübingen 1993] (GB)
  3. Hornbacher, Annette: ‘Eines zu seyn mit allem, was lebt...’ Hölderlins intellectuale Anschauung. 24-47. In: Hölderlin: Philosophie und Dichtung (Hrsg.: Valérie Lawitschka). Tübingen
  4. Halmer, Nikolaus: „Eines zu sein mit Allem, was lebt“ (ORF2020)

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