Um so genauer die Archäogenetik die genetischen Herkunftsgruppen von Menschen unterschiedlicher kultureller Zugehörigkeit in einer bestimmten Epoche aufschlüsselt, um so Genaueres erfährt man dann auch über jene - oft recht unterschiedlichen - Herkunftsgruppen, von denen diese abstammen, und auf die die Forschung bislang noch gar nicht ausreichend aufmerksam geworden sein muß.
Abb. 1: Der Widder von Jordansmühl (Wiki), Schlesien, etwa 4.000 v. Ztr., gefunden 1925 - Er ist mit Strichmustern verziert (weitere Abbildungen: hier) |
So auch in der allerneuesten archäogenetischen Studie (1). Sie nimmt die Geschichte der mittel- und spätneolithischen Kulturen, sowie der frühbronzezeitlichen Indogermanen im Raum der Tschechei, bzw. von Böhmen in den Blick: Zu 65 archäogenetisch schon früher untersuchten Skelettresten kommen mit ihr nun weitere 206 neu untersuchte hinzu.
Dieser genauere, tiefenschärfere Blick erlaubt nun Schlußfolgerungen auf
die sehr unterschiedlichen Herkunftsanteile der sehr unterschiedlichen
Völker, die diesen Raum - nacheinander - besiedelt haben. Es treten
dabei Herkunftsgruppen in das Licht der Aufmerksamkeit, die zuvor nur wenig
Beachtung gefunden hatten. Gehen wir die Ergebnisse im einzelnen durch.
1. Die prächtige Jordansmühler Kultur (4.300 bis 3.900 v. Ztr.)
Zunächst gibt es da hochinteressante Einblicke in eine archäologische Kultur, in die Geschichte eines Volkes, das bislang vermutlich noch viel zu wenig Bekanntheit erlangt hatte. Nach dieser Studie hatte die in Böhmen auf die Bandkeramik folgende Stichbandkeramik (4.900 bis 4.500 v. Ztr.) (Wiki) noch so gut wie keinen Anstieg in ihrer westeuropäischen Jäger-Sammler-Herkunft erfahren, die ansonsten so typisch ist für das Mittelneolithikum Mitteleuropas (und ebenso typisch ist schon für das Frühneolithikum Frankreichs). Auch nach dem Untergang der Bandkeramik blieb also im böhmischen Raum zunächst die bisherige genetische Kontinuität gewahrt. Die Stichbandkeramiker waren der Genetik nach - und damit womöglich auch der Sprache nach (?) - "Bandkeramiker".
Aber auf die Stichbandkeramik folgte ab 4.300 v. Ztr. die Jordansmühler Kultur (4.300 bis 3.900 v. Ztr.) (Wiki). Dies ist eine Kultur, die nach einer Ortschaft in Niederschlesien benannt worden ist. Dort hatte der Leiter des archäologischen Museums Breslau, ein Hans Seger (1864-1943) (Wiki), 1906 Grabungen unternommen. Er war es, der dieser Kultur den Namen gab. Wenn wir die Ergebnisse der neuen Studie zur Kenntnis nehmen (1), können wir nun wohl - plausibler Weise - sagen, daß diese Kultur sich aus der heutigen Slowakei (Mähren) heraus nach Böhmen (Prager Umland), Schlesien und Sachsen (Dresdener Umland) ausgebreitet haben wird und dabei die Menschen der Stichbandkeramik mehr oder weniger genetisch "ersetzt" hat.
Dies kann womöglich aus ihrer sehr spezifischen Jäger-Sammler-Herkunftskomponente (1, Figure 3B) abgelesen werden. Denn (erst!) mit ihr wuchs die Herkunftskomponente der
westeuropäischen Jäger-Sammler innerhalb der mittelneolithischen
Kulturen Böhmens von 8 auf knapp 20 Prozent an. Der Anstieg erfolgte klar und eindeutig am Übergang von der Stichbandkeramischen zur Jordansmühler Kultur (1, Figure 3A). Aus genetischer Sicht erfolgte also der Untergang der Bandkeramik in Böhmen nicht um 4.900 v. Ztr. - wie in vielen anderen Teilen Europas - sondern erst um 4.300 v. Ztr.. Das sind immerhin sechshundert Jahre später. Vielleicht wird man künftig sagen können: In Böhmen lebten die letzten Bandkeramiker.
Danach aber - und während des ganzen 4. Jahrtausends - blieb diese westeuropäische Jäger-Sammler-Herkunftskomponente im böhmischen Raum (wie wohl auch sonst in Europa) in etwa in gleicher Größe erhalten, bzw. sie stieg nur noch leicht auf 23 Prozent an. Und das, obwohl es einen vergleichsweise reichen Wechsel von Völkern und Kulturen gab.*)
Wie ging das zu? Zunächst: Das Volk der Jordansmühler Kultur macht durch eindrucksvolle kulturelle Hinterlassenschaften auf sich aufmerksam. Es hat - zumindest zum Teil - Höhensiedlungen bewohnt. Vielleicht als Nachklang des Lebensraumes jener Jäger und Sammler, von denen diese Kultur abstammte. Sie mögen während der Ausbreitung der anatolisch-neolithischen Bauernkultur in die Höhenlagen der Mittelgebirge abgedrängt worden sein.
Die Menschen dieser Kultur schufen sich formschöne Keramik (Wiki). Vor allem aber entstammt ihrer Kultur jene prächtige, stolze, urwüchsige Widder-Figur, die 1925 bei Jordansmühl in Niederschlesien gefunden worden ist, und die seither das Wappen der Stadt schmückt (Abb. 1). (In der Studie wird diese Kultur übrigens polnisch "Jordanów-Kultur" genannt.)
(Nachtrag, 20.4.23: Vergleichbare, "fest in die Erde gewurzelte" Stier-Figuren gibt es auch aus der zeitgleichen Cucuteni-Kultur im Osten der Karpaten. Gegenseitige kulturelle Einflüsse zwischen beiden Kulturen - bzw. parallele, ähnliche Kulturentwicklung aus der Bandkeramik heraus in beiden Kulturen - wird man für naheliegend erachten können.)
Abb. 2: Jordansmühler Kultur, Landkreis Görlitz (aus 5, S. 166) |
Dieses Volk scheint sich also (wie wäre es anders zur erklären?) im nördlichen Karpatenraum gebildet zu haben und sich von dort aus in der Spätphase der östereichisch-ungarischen Lengyel-Kultur (Wiki) - und zeitgleich mit der Michelsberger Kultur - die aus dem Pariser Becken heraus Verbreitung fand - bis nach Niederschlesien ausgebreitet zu haben. So viel also an dieser Stelle zu dieser Kultur, die sich in dem von ihr geschaffenen Widder als so außerordentlich bodenständig, tapfer und wehrhaft präsentiert.
2. Ein Fischer-Volk von der Oberen Theiß - Mit europäisch-einheimischer Genetik
Interessanterweise weist nun die Jordansmühler Kultur in ihrem Jäger-Sammler-Herkunftsanteil einen hohen Anteil (bislang in dieser Region von der Wissenschaft noch gar nicht entdeckter) Jäger-Sammler-Herkunft von der Oberen Theiß auf ("Körös HG") (1, Figure 3B). Diese ist zwar benannt nach der bäuerlichen "Körös-Kultur", aus der ein einzelner Jäger und Sammler bislang gefunden und sequenziert worden ist. Dieser ist aber an der Oberen Theiß, grob zwischen Bükk-Gebirge und Puszta gefunden worden (Stgen2022). An der oberen Theiß scheint es also vor Ankunft der anatolisch-neolithischen Bauern noch eine genetisch eigene europäische Jäger-Sammler-Herkunfts-Gruppe gegeben zu haben. Ihre Genetik war nun (1, Figure 3B) ...
- bei Band- und Stichbandkeramik noch gar nicht vertreten (!),
- in der Jordansmühler Kultur sehr ausgeprägt vertreten,
- in der auf die Jordansmühler Kultur folgenden Trichterbecher-Kultur viel geringer vorhanden,
- in der auf diese folgenden Badener Kultur gar nicht vorhanden,
- in der auf diese folgenden Řivnáč-Kultur wieder viel größer (!!)
- und in der auf diese folgenden Kugelamphoren-Kultur wieder deutlich geringer vorhanden.
Was für eine außerordentlich faszinierende Abfolge von Kulturen. Hier wird mit einem Schlage deutlich, daß alle diese Kulturen sich auch genetisch - mal mehr, mal weniger - voneinander unterschieden, und zwar erkennbar an genau dieser Herkunftskomponente, die einmal in größerem, einmal in geringerem Umfang vorhanden war, und die in einer Kultur gar nicht vorhanden ist.
Bei den hier genannten Jägern und Sammlern von der Oberen Theiß, bzw. aus den Karpaten dürfte es sich also um eine Gruppe einheimischer europäischer Jäger-Sammler handeln, die an der Ethnogenese der Bandkeramik im Wiener Becken gar nicht teilgenommen hatte. Und das, obwohl sie in unmittelbarer Umgebung jener ersten bäuerlichen Starvcevo-Körös-Kultur gelebt hat, aus der heraus die Bandkeramik erst entstanden ist.
In der Auswertung derselben Studie durch den spanischen Archäogenetik-Blogger Carlos Quiles finde ich, daß diese "Körös-Hunter-Gatherer"-Herkunftsgruppe von der Oberen Theiß als osteuropäische Jäger-Sammler identifiziert werden (2) (s. Abb. 3). Wenn diese Angabe richtig ist, würde sich das Bild natürlich insgesamt ein wenig vereinfachen.
Die Genetik dieser (osteuropäischen) Jäger-Sammler von der Oberen Theiß ("Körös") findet also nun in der Jordansmühler Kultur - "noch einmal"? - in Europa - "erneute" (?) - Verbreitung. Und dieser Befund macht damit die Welt (also, zumindest die Wissenschaft) auf diese Herkunftsgruppe aufmerksam.
Die Jäger-Sammler-Einmischung in die Jordansmühler Kultur wird von den Forschern auf 4.600 bis 4.300 v. Ztr. datiert**). Das heißt, die Entstehung des Volkes der Jordansmühler Kultur wird auf einhundert oder zweihundert Jahre früher datiert als es sich dann kulturell manifestierte. Das war zur Zeit der Lengyel-Kultur im österreichisch-ungarischen Raum. Erst zu dieser Zeit wird es zur Vermischung von einheimischen "Körös-Jägern und Sammlern" mit Nachkommen der anatolisch-neolithischen Starcevo-Körös-Kultur gekommen sein. Plausibler Weise wird diese Vermischung im südmährischen-nordungarischen Raum stattgefunden haben, auf jeden Fall in der Nähe zum schon genannten Fluß Körös in der ungarischen Tiefebene.
Wer wohl diese Körös-Jäger-Sammler waren, die dort östlich der Theiß gelebt hatten, sich so getrennt gehalten hatten von den umlebenden Bauernvölkern, und die nun Anteil nahmen an der Ausgestaltung der Jordansmühler Kultur? Auf diese Frage werden wir wohl noch einmal in anderem Zusammenhang zurück kommen müssen. Denn an dieser Stelle müssen wir uns mit den weiteren Neuerkenntnissen beschäftigen, mit denen wir von Seiten der hier ausgewerteten Studie (1) geradezu "geflutet" werden.
3. Die Trichterbecher-Kultur (4.100 v. Ztr.)
Ab 4.100 v. Ztr. tritt die Trichterbecher-Kultur in Böhmen auf. Ihre ältesten Funde stammen unter anderem aus Ostholstein und datieren 4.300 v. Ztr. (Fundort Wangels). Und nun ist ein weiterer Umstand hoch interessant. Die Jäger-Sammler-Einmischung in die Trichterbecher-Kultur wird von den Forschern der Studie auf eine Zeit datiert, in der es die Trichterbecher-Kultur noch gar nicht gab. Die Trichterbecher-Kultur entstand wie gesagt um 4.300 v. Ztr. grob irgendwo in der Norddeutschen Tiefebene. Die Einmischung wird aber datiert auf grob 4.900 bis 4.800 v. Ztr.**). Damit wäre aufgezeigt, daß das Volk der Trichterbecher-Kultur genetisch schon deutlich früher entstand als es kulturell - zuerst im westlichen Ostseeraum - in Erscheinung trat. Daraus kann geschlußfolgert werden, daß die Menschen der Trichterbecher-Kultur aus Menschen einer bäuerlichen Vorgänger-Kultur hervor gegangen sein müssen. Viele Archäologen vermuten ja, daß die Trichterbecher-Kultur aus Populationen der (aus Frankreich kommenden) Michelsberger Kultur heraus entstanden sein könnten, da es in der materiellen Kultur manche Ähnlichkeiten gibt.
Da wird man jetzt - wie hinsichtlich der Herkunft der Jordansmühler Kultur - genauer hinschauen können, wann und wo genau diese spezifische Genetik sich heraus gebildet hat. Die Forscher sind sich jedenfalls sicher, daß die Genetik der Trichterbecher-Leute in Böhmen selbst nicht einheimisch war, sondern von außen dort hinein gekommen ist ab 4.100 v. Ztr..
4. Waren kulturelle Randbereiche im Mittelneolithikum die Entstehungsorte neuer Völker?
Von der darauf folgenden Řivnáč-Kultur (2.900 bis 2.700 v. Ztr.) (Wiki) Böhmens könnte man nun denken, daß es sich bei ihr genetisch einfach um eine späte Nachfolge-Kultur der Jordansmühler Kultur gehandelt hat. Die Forscher sagen aber, daß ihr Jäger-Sammler-Anteil sich bei ihnen ebenso spät eingemischt hat wie bei der Kugelamphoren-Kultur, nämlich erst ab 3.000 v. Ztr.. Das hinwiederum würde bedeuten, daß die Körös-Fischer sich bis zu diesem Zeitpunkt in genetischer Kontinuität unvermischt erhalten hätten und sich erneut ab 3.000 v. Ztr. mit Bauern anatolisch-neolithischer Herkunft vermischt hätten. Ähnliches wäre für die Kugelamphoren-Kultur anzunehmen, wobei hier auch noch mehr westeuropäische Jäger-Sammler-Herkunft hinzu gekommen ist.
Entstanden denn, so fragt man sich an dieser Stelle, neue Kulturen im Mittelneolithikum Europas quasi immer aus jeweils erneuter Vermischung von Bauern anatolisch-neolithischer Herkunft mit Fischer-, Jäger-Sammler-Populationen einheimischer Herkunft? Sind die Begegnungs- und Vermischungsregionen die Geburtsstätten neuer Völker zu dieser Zeit in Europa? Fast scheint sich allmählich diesbezüglich eine Regelmäßigkeit herauszuschälen und aufzudrängen.
Womöglich kann das Siedeln der Řivnáč-Kultur in Höhensiedlungen wiederum darauf zurück geführt werden, daß auch die einheimischen Körös-Jäger-Sammler-Völker, von denen diese Kultur abstammt, sich vor allem in Höhenlagen der Mittelgebirge in Rückzugsräumen hatte halten können. Diese Kultur präsentiert sich ebenfalls mit ausgeklügelter - womöglich ein wenig exzentrisch anmutender - Keramik (Wiki). Über sie ist zu erfahren (Wiki) (laut Google Übersetzer):
Sie trat hauptsächlich in Mittelböhmen, aber auch in Nordwestböhmen und vereinzelt auch in Ostböhmen auf. In West- und Südböhmen gab es eine mit Řivnáč zeitgenössische Cham-Kultur. (...) Sie wurde erstmals 1925 von Jan Axamit entdeckt, fand aber erst in den 1940er Jahren größere Anerkennung. Wir verfügen über einen relativ großen Bestand an archäologischem Material aus der Řivnáč-Kultur. Das ist vor allem auf die gute Erforschung der Höhensiedlungen dieser Kultur zurückzuführen. Die Keramik folgte mehr oder weniger der vorherigen Badischen Kultur. Wir finden Tontrommeln und verschiedene anthropomorphe Gefäße mit wahrscheinlich rituellem Charakter. Anthropomorphe Götzen, von denen einige Hörner haben, dienen dem gleichen Zweck wie einige Gefäße.Am Ende des Bestehens der Řivnáč-Kultur begannen in den Siedlungen, die aus den nördlichen Regionen nach Böhmen kamen, repräsentative Keramikstücke aus der Kultur der Kugelamphoren zu erscheinen, die vom Kontakt zwischen den beiden Kulturen zeugen.Sowohl Höhen- als auch Flachlandsiedlungen sind bekannt. Die vorherrschenden Siedlungen sind jedoch Höhensiedlungen, von denen wir heute etwa 50-60 kennen (die Existenz von Flachlandsiedlungen war lange nicht bekannt).
Was für ein faszinierendes Geschehen.
5. Parallel-Gesellschaften in Böhmen 2.900 v. Ztr.
Die Forscher vermuten, daß Böhmen zur Zeit der Ankunft der Schnurkeramiker zeitgleich besiedelt wurde einerseits von Gruppen der Kugelamphoren-Kultur und anderseits von Menschen der Řivnáč-Kultur (1). Beide Gruppen unterschieden sich nicht nur kulturell, sondern auch genetisch voneinander. Als Ausnahme fand sich ein sequenziertes Individuum bestattet im Kontext von Řivnáč-Kultur, trug aber in sich die Genetik der Kugelamphoren-Kultur.
Möchte man eigentlich von noch stärkeren Belegen für die grundlegende These dieses Blogs hören, daß Völker die Geschichte machen, daß die Humanevolution - zumindest in den letzten zehntausend Jahren - in Völkern stattgefunden hat?
Beide Völker wiesen ansonsten, obwohl sie zur gleichen Zeit lebten wie die ersten Schnurkeramiker - oder sogar noch weiter fortbestanden nach Ankunft der Schnurkeramiker - keinerlei genetische Überschneidung untereinander oder mit den Schnurkeramikern auf. Hier wird noch einmal in deutlich, daß es im 3. Jahrtausend in Europa viele Jahrhunderte lang koexistierende Parallel-Gesellschaften gegeben hat. In der Schweiz, im Weichselraum, im Ostseeraum - das Bild ähnelt sich in all diesen Regionen.
6. Stammen die Schnurkeramiker von der Ostgrenze Polens (2.900 v. Ztr.)?
Um 2.900 v. Ztr. waren die Schnurkeramiker in Böhmen dann weit verbreitet. In dieser Studie wird aufgrund statistischer Ähnlichkeitsvergleiche vermutet, daß die Schnurkeramiker - im Unterschied zu den Menschen der Jamnaja-Kultur in der Ukraine - zu 5 bis 15 Prozent mittelneolithisch-lettische, neolithisch-ukrainische und/oder Grübchenkammkeramische Genetik von der Ostsee in sich trugen. Die Grübchenkammkeramische Kultur war die letzte archäologisch feststellbare Kultur der Völkergruppe der westeuropäischen Jäger und Sammler im Ostseeraum. In den beiden anderen genannten Herkunftsgruppen dürfte sich in unterschiedlichen Anteilen anatolisch-neolithische Genetik mit der Genetik osteuropäischer Jäger und Sammler verbunden haben. Diese womöglich sehr vielfältige Herkunft scheint überwiegend über Frauen in das Volk der Schnurkeramiker gelangt zu sein (1). Und womöglich ist das irgendwo am Ostrand des heutigen Polen geschehen, dort, wo die genannten Herkunftsgruppen aufeinander trafen.
7. Unterschiedliche Kinderzahlen - Aufgrund stabiler sozialer Ungleichheiten?
Hören wir weiter (1):
Sowohl die Schnurkeramiker wie die Glockenbecher-Leute durchliefen Veränderungen, die mit einschlossen zwischen 2600 und 2400 v. Ztr. einschneidende Rückgänge und vollständigen Austausch in der Vielfalt ihrer Y-Chromosomen.Both Corded Ware and Bell Beaker groups underwent dynamic changes, involving sharp reductions and complete replacements of Y-chromosomal diversity at ~2600 and ~2400 BCE.
Dies kann bezüglich der Schnurkeramiker erklärt werden, so die Studie (1), mit der Annahme, daß die Männer der "überdauernden" Y-chromosomalen Linien über 500 Jahre hinweg 15 % mehr männliche Nachkommen pro Generation hatten als die Männer der "nicht überdauernden". Das ist ja eigentlich gar nicht so ein hoher Anteil. Bemerkenswert dürfte eher sein, daß das ja über 500 Jahre hinweg so konstant geblieben sein muß, daß wir es also hier vor allem mit großer Kontinuität zu tun haben.
Womöglich spiegeln sich in diesen Befunden, so möchten wir meinen, starke Wohlstands-Unterschiede wieder innerhalb des Volkes der Schnurkeramiker. Die also demzufolge auch über viele Jahrhunderte konstant geblieben sein könnten. Denn wer mehr Besitz hat, dem fällt es in der Regel leichter, mehr Kinder aufzuziehen, dem fällt es womöglich leichter, neben der Hauptfrau noch mit Nebenfrauen Kinder zu haben. Die reichsten Bauern haben sowieso in traditionellen Agrar-Gesellschaften - noch in der Frühen Neuzeit - die meisten Kinder. Das ist in vielen Studien zur Historischen Demographie der Frühen Neuzeit aufgezeigt worden, auch in den Krumhörn-Studien von Eckart Voland. Womöglich reichen schon die dort festgestellten Unterschiede in den Nachkommenzahlen, um den genannten Befund zu erklären. Vielleicht hat man allerdings in der Schnurkeramik-Zeit noch mehr wert gelegt auf Vererbung des Besitzes in der männlichen Linie als das in späteren Zeiten der Fall gewesen ist.
Dasselbe Phänomen ist 2015 auch schon für europäische neolithische Populationen beschrieben worden - wie es in der Studie heißt. Und das könnte ja dann ebenfalls ein Hinweis auf soziale Ungleichheit in den komplexen neolithischen Gesellschaften Europas sein.
8. Kriege der indogermanischer Stämme untereinander?
Ergänzung 20.10.21: Vielleicht ist die Erklärung aber auch einfacher. Wir lesen in Fritz Gschnitzers lesenswerter "Griechische Sozialgeschichte" (1981, neu aufgelegt 2013), die sich in Lehrbuchsammlungen deutscher Universitäten (zum Beispiel in Bamberg) findet (4, S. 46):
Da sich aber weder in homerischer Zeit noch später in der griechischen Geschichte die Sklaven selbst in genügender Zahl fortpflanzten (wir kommen darauf gleich zurück), konnte die Sklaverei als Institution nur bestehen bleiben, wenn immer wieder freie Menschen in großer Zahl in den Sklavenstand überführt wurden. (...) Der wichtigste Ursprung der Sklaverei liegt schon in homerischer Zeit, wie in allen späteren Abschnitten der griechischen Geschichte, in der Kriegsgefangenschaft. Die Sklaven sind zum Großteil ehemals Freie, die im Krieg - in der Schlacht, bei der Eroberung einer Stadt oder auch bei der Plünderung eines Landes - in Feindeshand gefallen sind. (...) Wenn es zur Eroberung ganzer Städte kommt, dann fallen alle zugleich und mit ihnen ihre ganze Habe in die Hände der Sieger. (...) Die Männer werden jetzt meist erschlagen, Frauen und Kinder nimmt man, wie das Vieh und die bewegliche Habe, als Beute mit nach Hause mit. (Die Männer konnte man nicht so leicht auf die Dauer festhalten, auch müßte man ihre Rache fürchten.)
Wenn also in einer solchen Weise schon Schnurkeramiker- und Glockenbecher-Stämme untereinander Krieg geführt haben sollten, wäre der Rückgang der Vielfalt bei ihren eigenen Y-Chromosomen noch leichter zu erklären. Es müßte dann nicht eine kontinuierliche soziale Ungleichheit über viele Jahrhunderte hinweg angenommen werden (die - nebenbei - zusätzlich auch eine Rolle gespielt haben kann).
Gschnitzer führt noch aus, daß nicht in allen Fällen auch die Männer der unterworfenen Stämme erschlagen wurden, sondern daß es auch Fälle gab, in denen die gesamte Einwohnerschaft verklavt wurde (4, S. 49):
Anders als die vorhin beschriebenen Beute- und Kaufsklaven behielten sie ihre Familien und damit auch die Möglichkeit, sich in normalem Umfang fortzupflanzen (...), etwa in Sparta (Heloten), Kreta (Perioiken) und Thessalien (Penesten). (...) Ähnlich ist man dann später in einzelnen überseeischen Kolonien verfahren.
(Ergänzungs-Ende)
Die ersten schnurkeramischen Frauen, die keine schnurkeramische Genetik aufwiesen, stammten vermutlich aus der Kugelamphoren-Kultur, so die Forscher. Sie beziehen sich dabei auf die untersuchten Genome von vier Frauen. Da diese Frauen einen höheren Jäger-Sammler-Herkunftsanteil aufwiesen als Kugelamphoren-Leute in Böhmen, ist es wahrscheinlicher, daß sie aus anderen Bereichen der Kugelamphoren-Kultur stammten als aus Böhmen, etwa aus dem heutigen Polen.
An Skeletten, die in Vliněves bei Melnik an der Elbe, 40 Kilometer nördlich von Prag gefunden wurden, wird aufgezeigt, daß die frühesten, bislang gefundenen Schnurkeramiker in Böhmen an diesem Ort eine viel höhere genetische Vielfalt aufgewiesen haben als alle nachfolgenden Populationen in Europa und auch als die heutigen Europäer (1). An diesem Ort gab es einerseits Menschen, die genetisch fast nur anatolisch-neolithische Herkunft in sich trugen und Menschen, die fast nur davon abweichende Genetik hatten (also west-, bzw. osteuropäische Jäger-Sammler- und/oder Steppen-Genetik) (1) (Fig. 5).
9. Kamen die Glockenbecher-Leute Böhmens vom Rhein (2.500 v. Ztr.)?
Die Glockenbecher-Leute treten ab 2.500 v. Ztr. in Böhmen auf. An ihren Y-Chromosomen stellen die Forscher fest, daß sie und jene Y-Chromosomen der (späteren) Glockenbecherleute in England von gemeinsamen Vorfahren abstammen können. Sie meinen, diese könnten - zum Beispiel - in der Nähe des Rheins gelebt haben, von wo aus sie sich nach Osten und Norden ausgebreitet haben könnten (1).
10. Die Aunjetizter Kultur bringt neue Genetik - Aus dem Ostseeraum (2.200 v. Ztr.)?
Für die frühe Aunjetitzer Kultur (2.300 bis 1.600 v. Ztr.) (Wiki) vermuten die Forscher den zusätzlichen genetischen Beitrag von Glockenbecher-Populationen aus der späten Glockenbecher-Zeit (2.400 bis 2.200 v. Ztr.), die noch nicht sequenziert worden sind, um eine auftretende Verschiebung des genetischen Spektrums Richtung osteuropäischer und westsibirischer Jäger-Sammler-Genetik zu erklären (1).
Eine solche genetische Umwälzung zeigt sich an dem Wechsel der Y-chromosomalen Linien noch deutlicher: 80 % der Y-chromosomalen Linien in der frühen Aunjetitzer Kultur sind neu, gehören aber zum Y-chromosomalen Glockenbecher-Spektrum.
All das würde nahelegen, daß es mit Aufkommen der Aunjetitzer Kultur noch einmal einen erneuten genetischen Umbruch in Böhmen gegeben hat, daß also eine Glockenbecher-Untergruppe unter dem Dach der Aunjetizer Kultur andere Glockenbecher-Untergruppen kriegerisch und/oder demographisch "verdrängt" hat. Der genetische Umbruch könnte 50 % der Genetik insgesamt betroffen haben, so die Forscher (1). Die Forscher sehen Hinweise darauf, daß die Indogermanen der Aunjetitzer Kultur aus dem Ostseeraum stammen (1). Wenn man sich Verbreitungskarten dieser Kultur ansieht (Wiki), könnte sie diesbezüglich am ehesten aus Pommern stammen.
Nach Zuwanderung der Aunjetitzer Kultur habe sich die Y-chromosomale Vielfalt hinwiederum nicht mehr verringert. War die soziale Ungleichheit in der Aunjetitzer Kultur geringer als zuvor? Das hinwiederum hatte die Lechtal-Studie zur Bronzezeit nicht nahegelegt. Hier werden noch mancherlei nicht abschließend zu klärende Fragen deutlich.
11. Genetischer Ursprung von Schnurkeramikern und Glockenbecher-Leuten ungeklärt
Die Forscher schreiben in der Zusammenfassung, daß es zwischen Schnurkeramik- und Glockenbecher-Kultur einerseits und der ukrainischen Jamanja-Kultur andererseits zwar viel genetische Ähnlichkeit gibt, allerdings keinerlei männliche genetische Kontinuität zwischen allen drei Gruppen (1):
... Es sind keine Gemeinsamkeiten in den Y-chromosomalen Linien gefunden worden zwischen den vornehmlich R1a-tragenden Schnurkeramik- und den vornehmlich R1b-Z2103-tragenden Jamnaja-Männern. .... Die Glockenbecherleute tragen vornehmlich R1b-P312, eine Y-chromosomale Linie, die bislang weder bei den Schnurkeramik-Männern noch bei den Jamanja-Männern gefunden wurde. .... (So der Befund) trotz des (schon lange in der Wissenschaft) vorgeschlagenen patrilokalen/patriarchalischen sozialen Verwandtschaftssystems dieser drei Gesellschaften.Although it has been proposed that CW formed from a male-biased westward migration of genetically Yamnaya-like people (23, 41–44), no overlap in Y-chromosomal lineages (with the exception of a few nondiagnostic I2) has been found between the predominantly R1a-carrying CW and mainly R1b-Z2103–carrying Yamnaya males. Steppe ancestry is also present in BB individuals (5); however, they predominantly carry R1b-P312, a Y-lineage not yet found among CW or Yamnaya males. Therefore, despite their sharing of steppe ancestry (3, 4) and substantial chronological overlap (45), it is currently not possible to directly link Yamnaya, CW, and BB groups as paternal genealogical sources for one another, particularly noteworthy in light of steppe ancestry’s suggested male-driven spread (23, 41–43) and the proposed patrilocal/patriarchal social kinship systems of these three societies (46–48).
Die Schlußfolgerung kann nur lauten, daß die Schnurkeramik- und Glockenbecher-Leute von (womöglich kleinen) indogermanischen Gruppen abstammen, die bislang noch nicht hatten sequenziert werden können.
Zusammenfassende und abschließende Bemerkungen der Forscher
Die Forscher schreiben außerdem zu zusammenfassenden Aspekten ihrer Studie (1):
Frühere Studien sind größtenteils interpretiert worden dahingehend, daß sie große Migrationen am Beginn und am Ende des Neolithikums aufzeigen würden (Zeiten, in denen hereinkommende Gruppen genetisch sehr unterschiedlich waren); unsere Ergebnisse zeigen jedoch weitere umfangreiche genetische Umbrüche auf. ... Wir zeigen, daß die Ausbreitung der Trichterbecher- und der Kugelamphoren-Kultur ebenso wie die Ursprünge der Aunjetitzer Kultur umfangreiche genetische Umbrüche in kurzen Zeitabschnitten mit sich brachten, die wahrscheinlich durch Ausbreitungsbewegungen erklärt werden können.Previous studies have largely been interpreted as revealing major migrations at the beginning and end of the Neolithic (i.e., periods where the incoming groups were genetically very distinct); however, our results reveal additional large genetic turnovers. By sampling consecutive and partially contemporaneous cultural groups, we show that the spread of Funnelbeaker and GAC (69, 70), as well as the origin of Únětice, involved large genetic shifts over short time periods, likely explained by migrations.
In diesem Zitat sind mehrere in der Studie festgestellte genetische Umbrüche auch noch unberücksichtigt gelassen! Etwa der Umbruch von der Stichbandkeramik zur Jordansmühler Kultur, der Umbruch zur Badener Kultur (den wir hier auch noch nicht behandelt haben), sowie der Umbruch zur Řivnáč-Kultur. Das sei noch festgehalten. Es ist hier ein so unglaublich vielfältiges Geschehen festgestellt, wie es bislang wohl nur die wenigsten Forscher gewagt hätten anzunehmen. Praktisch jede archäologische Kultur vor der Bronzezeit geht auch mit jeweils neuer einzigartiger Genetik einher. Jede. Die Forscher schreiben außerdem (1):
... Die Schnurkeramiker waren genetisch außergewöhnlich vielfältig, einige ähnelten (genetisch) der Kugelamphorenkultur und der Jamnaja-Kultur, einige wenige fallen außerhalb der bislang erforschten zentraleuropäischen neolithischen genetischen Vielfalt. ... Dies ist das Ergebnis einer Ansammlung von Menschen mit unterschiedlichem kulturellen und sprachlichen Hintergrund in einer archäologisch ähnlichen aber polyethnischen oder pluralen Gesellschaft. ... Das Ausmaß an genetischer Unterschiedlichkeit zwischen frühen Schnurkeramik-Individuen mit hoher Steppen-Herkunft und ohne eine solche legt lange biologische Isolation und damit unterschiedliche Herkunftsgeschichten nahe. Die Anwesenheit von Kugelamphoren- und Jamnaja-ähnlichen genetischen Profilen bei den frühen Schnurkeramikern legt die Integration von Menschen nahe, die aus unterschiedlichen Gesellschaften kamen .... Es ist wahrscheinlich, daß Kugelamphoren-Kultur und Schnurkeramik/Jamnaja-Individuen unterschiedliche Sprachen gesprochen haben ....We show that early CW were genetically exceptionally diverse, some resembling GAC and Yamnaya, with a few also falling outside of previously sampled central European Neolithic genetic diversity. Such a notably diverse signal is likely the result of the agglomeration of people from diverse cultural and linguistic backgrounds into an archaeologically similar but polyethnic or plural society. Important factors in ethnic identity include ancestry, history, ideology, and language (71, 72). The level of genetic differentiation (i.e., time since common ancestor) between early CW individuals with high and no steppe ancestry implies long biological isolation and hence different histories. The finding of GAC-like and Yamnaya-like genetic profiles in early CW suggests integration of people who came from ideologically diverse societies (i.e., neither GAC nor Yamnaya practiced strong gender differentiation in mortuary practices, unlike CW). It is likely that GAC and CW/Yamnaya individuals spoke different languages (3, 4, 43), meaning that early CW society in Bohemia encompassed people who had demonstrably different histories, likely originating from ideologically diverse cultures, who spoke different mother tongues.
Tatsächlich ist noch ganz ungeklärt, wo hier in Böhmen zu einem solchen Zeitpunkt noch Menschen fast rein anatolisch-neolithischer Herkunft herkommen. Sie können nicht von den Bandkeramikern abstammen, denn diese hatten ja schon 8 % einheimische westeuropäische Jäger-Sammler-Genetik. Stammen sie von Menschen der Starcevo-Körös-Kultur ab, die sich bis zu diesem späten Zeitpunkt noch nicht mit einheimischen Jäger-Sammlern vermischt haben? Fragen über Fragen. Zum von uns schon oben genannten Fundort Vliněves heißt es im Zusammenhang damit (1):
Wir können archäologisch (also kulturell) keine Unterschiede erkennen zwischen Schnurkeramik-Gräbern mit Individuen, die Steppen-Herkunft in sich tragen und solchen, die keine solche Herkunft in sich tragen, und zwar an zwei Fundorten (Vliněves and Stadice).We observe no archaeological differences between CW graves of individuals with and without steppe ancestry from two sites (Vliněves and Stadice).
Soweit die wichtigsten Ergebnisse, die wir in einem ersten gründlicheren Zugriff dieser Studie zu entnehmen in der Lage sind.
So wurden wir Europäer, was wir heute sind
Wenn wir im Titel von der "farbenprächtigen Völkergeschichte Böhmens" sprechen, wollen wir damit keinesfalls infrage stellen, daß diesselbe auch mit viel Gewalt, Not, Mord, Totschlag, Versklavung ganzer Völkerschaften, sowie gerne auch mit Menschenopfern einher gegangen sein kann. (Eindrucksvolle Hinweise auf solche Möglichkeiten finden sich ja schon in dem Buch von Harald Meller über das Mittelneolithikum von Sachsen-Anhalt [3].)
Völkergeschichte hat wohl zwangsläufig viel zu häufig beide Seiten aufzuweisen: die friedvolle Seite prächtiger Kultur und die abgründige Seite, wo der Mensch dem Menschen als "Wolf" gegenüber steht. Wir müssen keine dieser beiden Seiten kleinreden, wenn wir in einem ersten Zugriff die Aufeinanderfolge so vieler, tatsächlich "farbenprächtiger", jeweils eigenartiger, charakteristischer, unterschiedlicher Kulturen mit ihren jeweiligen ganz eigenen Herkunftsgeschichten als ein außerordentlich faszinierendes Geschehen wahrnehmen.
Wir erinnern uns jederzeit daran, daß "Sein" nicht zwangsläufig "Sollen" bedeutet. Damit ist gesagt: Nur weil wir sehen, daß Völkergeschichte - zeitweise - mit viel genetischem Umbruch einhergegangen ist, muß das nicht heißen, daß sie "notwendigerweise" und "immer" mit genetischem Umbruch einhergehen "muß" oder gar "sollte". Jedes der hier genannten Völker wird sich mehr oder weniger standhaft, tapfer und wehrhaft dagegen aufgelehnt haben, genetisch und kulturell "ersetzt" zu werden - so oder so. Der Jordansmühler Widder mag als ein eindrucksvolles Symbol und Merkzeichen, als ein Ausdruck eines solchen kraftvollen Willens, einer solchen Lebendigkeit gelten.
Insgesamt: So wurden wir Europäer, was wir heute sind: Durch ein farbenprächtiges Kommen und Gehen von Menschengruppen (Völkern) oft recht unterschiedlicher, zumeist jedoch sehr charakteristischer kultureller und genetischer Herkunft hindurch.
Und um nun doch eine behutsame Annäherung vom Sein zum Sollen hinüber zu wagen: Sollte es womöglich doch richtig sein, auf dieses Geschehen mit den Augen von Johann Gottfried Herder zu blicken, der - aus Ostpreußen stammend und zeitweise in Riga lehrend - in Begeisterung für die Sagenwelt, das Volksliedgut und die vielfältigen Kulturen und Sprachen der baltischen und slawischen Völker sein berühmtes Wort prägte: "Völker sind Gedanken Gottes"? Ein Gedanke Gottes sollte dann als unantastbar gelten, Völkermord wäre zu ächten.
So wie heute der Rechts- und Verfassungstheorie nach die Bewertungen ja auch tatsächlich getroffen werden.
Schnurkeramiker und Glockenbecher verschmolzen miteinander
Ergänzung 2.4.24: In einer neuen Studie faßt grob die selbe Forschungsgruppe die Ergebnisse ihrer Studie von 2021 in den Worten zusammen (6):
Archäogenetische Studien der letzten Jahre zeigten, daß Schnurkeramik- und Glockenbecher-assoziierte Individuen einander nicht ersetzten, sondern sich langsam vermischten/verschmolzen, was zum genetischen Profil der frühbronzezeitlichen Aunjetzizer Kultur in Mitteleuropa führte.Recent archaeogenetic studies showed that CW and BB-associated individuals did not replace each other, but slowly admixed/amalgamated, resulting in the genetic profile of the EBA Únětice in Central Europe.
So klar hatten wir das in der Studie von 2021 gar nicht heraus gelesen! Aber das Ergebnis paßt zu einer anderen aktuellen Studie. Im Bericht über diese (Stgen2024) hatten wir dieses Ergebnis schon voraus geahnt.
Außerdem wird in einer neuen skandinavischen Studie Ähnliches herausgearbeitet wie das, was schon für Böhmen, die britischen Inseln und Spanien herausgearbeitet worden ist, nämlich daß im Neolithikum ganze Völker landesweit ausgerottet worden sind (Phys2024):
Die ersten Bauern Skandinaviens haben die Jäger-Sammler-Bevölkerung abgeschlachtet, wie eine DNA-Analyse zeigt.Scandinavia's first farmers slaughtered the hunter-gatherer population, DNA analysis suggests
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- Dynamic changes in genomic and social structures in third millennium BCE central Europe By Luka Papac, Michal Ernée, (...) Volker Heyd, Johannes Krause, Ron Pinhasi, David Reich, Stephan Schiffels, Wolfgang Haak Science Advances, 25 Aug 2021, eabi6941, https://advances.sciencemag.org/content/7/35/eabi6941
- Quiles, Carlos: R1b-rich earliest Corded Ware, a Yamnaya-related vector of Indo-European languages, 27.8.2021, https://indo-european.eu/2021/08/r1b-rich-earliest-corded-ware-a-yamnaya-related-vector-of-indo-european-languages/
- Bading, Ingo: Königreiche im Elb-Saale-Gebiet - Seit dem Mittelneolithikum und in der Bronzezeit Herrschaftszentren der Reiche des Mittelneolithikums und der Bronzezeit, 13. September 2020, https://studgendeutsch.blogspot.com/2020/07/das-fruhbronzezeitliche-konigreich-im.html
- Gschnitzer, Fritz: Griechische Sozialgeschichte. Von der mykenischen bis zum Ausgang der klassischen Zeit. 2. Aufl. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013 (EA: 1981)
- Günter Wetzel: Frühe Keramik in Brandenburg und den Lausitzen - zwischen Bandkeramik und Trichterbecherkultur. In: Wolfram Schier, Jörg Orschiedt, Harald Stäuble, Carmen Liebermann (Hrsg.): Mesolithikum oder Neolithikum? Auf den Spuren später Wildbeuter. Tagungsbeiträge von 2014, 2021 (pdf)
- Penske, S., Küßner, M., Rohrlach, A.B. et al. Kinship practices at the early bronze age site of Leubingen in Central Germany. Sci Rep 14, 3871 (2024), 16.2.2024 (Nature), https://doi.org/10.1038/s41598-024-54462-6