Das Buch muß man gleich lesen (HIER zu kaufen!!!), das kann man ungeheuer spannend finden. Es erinnert an die Farmhall-Protokolle, also die Protokolle des Abhördienstes des britischen Geheimdienstes über die Gespräche der deutschen Atomphysiker in britischer Internierung, nachdem sie von Hiroshima und Nagasaki erfuhren. Ehrlichere und unmittelbarere Quellen wird man wohl kaum finden!Historiker verteidigt ZDF-Serie zur Wehrmacht
Neitzel: Wir brauchen mehr Forschung zum Kriegsalltag
Moderation: Dieter Kassel
Der Mainzer Zeithistoriker Sönke Neitzel hat die Kritik an der fünfteiligen ZDF-Dokumentation "Die Wehrmacht - eine Bilanz" zurückgewiesen. Der Vorwurf, die Opfer der Wehrmacht würden zu wenig zur Sprache kommen, treffe nicht zu, sagte Neitzel, der die Filmemacher bei der Serie wissenschaftlich beraten hat.
Dieter Kassel: 17,3 Millionen Menschen waren bei der deutschen Wehrmacht, und sie alle waren unschuldig. So wurde das zumindest nach 1945 in Deutschland gerne dargestellt. Es waren Soldaten, die Befehle ausführten. Die Ausstellung über die Verbrechen der deutschen Wehrmacht hat ab 1995 - da wurde sie zum ersten Mal in Hamburg gezeigt - dieses Bild deutlich verändert, und nicht zuletzt aufgrund dieser Ausstellung wurde die historische Forschung zur deutschen Wehrmacht noch einmal intensiviert, und die neuesten Forschungsergebnisse sind eingeflossen in eine fünfteilige Serie über die Wehrmacht, deren erster Teil heute Abend um 20.15 Uhr im ZDF zu sehen ist. Einer der Forscher, deren Arbeit in diese Serie eingeflossen ist, ist Sönke Neitzel, er ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Mainz. Schönen guten Morgen, Herr Neitzel!
Sönke Neitzel: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Sie haben ursprünglich schon 2005 die Abhörprotokolle des britischen Geheimdienstes ausgewertet und in einem Buch veröffentlicht. Zuerst mal zur Einordnung: Wer ist da wann und wo abgehört worden?
Neitzel: Also, die Briten haben bereits nach Kriegsausbruch 1939 erkannt, dass die kriegsgefangenen Deutschen eine sehr gute Quelle für Informationen sind. Der Mensch hat ein Bedürfnis zu sprechen, und das wussten die Briten auch schon aus dem Ersten Weltkrieg, deswegen haben sie 1939 schon ein Lager eingerichtet, ein Speziallager, das mit Mikrofonen verwanzt war. Und nun waren die ersten Kriegsgefangenen, die die Briten gemacht haben, relativ unspektakuläre Menschen, also Flieger, die abgeschossen worden sind, U-Boot-Fahrer. Man hat dann dieses Lager Trent Park im Norden von London, ein alter Herrensitz, hat das '42 zu einem Speziallager für, ja, heute würden wir sagen "VIP's", umfunktioniert, also für Generäle und Stabsoffiziere, und die haben dann dort - 84 an der Zahl, 84 Generäle und Stabsoffiziere - den Krieg verbracht in einer relativ luxuriösen Umgebung und wurden von den Briten dort abgehört.
Kassel: Was sie offenbar tatsächlich nicht gewusst haben, denn in den Protokollen hat man doch den Eindruck, dass die sich so unterhalten haben, als seien sie völlig unter sich.
Neitzel: Genau. Die Briten sind sehr raffiniert gewesen damit, den Leuten glauben zu machen, dass sie also nicht abgehört werden. Man hat sie bewusst konfrontiert mit dem Versuch, Wissen zu gewinnen, hat sie also in Verhörlager gesteckt, und danach kamen sie nach Trent Park, so dass sie dachten, na ja, der Versuch, Informationen zu gewinnen, der ist schon abgeschlossen, und jetzt sitzen wir hier und warten auf das Ende des Krieges. Die Briten waren also sehr raffiniert damit und waren auch erfolgreich damit.
Kassel: Worüber haben sich diese 84 deutschen oberen Wehrmachtsangehörigen unterhalten in diesen Jahren?
Neitzel: Ja, es sind vier Punkte im Wesentlichen. Sie haben gesprochen über den Bereich Politik und Strategie: Wie geht der Krieg weiter, geht der Krieg verloren, kann man den Krieg noch gewinnen? Sie haben gesprochen über den Bereich Verbrechen, ganz wichtig. Sie haben dann gesprochen ab Juli '44 über das Attentat auf Hitler, das ist relativ gut belegt, und sie haben gesprochen über die Möglichkeit, mit den Briten zu kollaborieren: Sollen wir irgendwie in der Gefangenschaft einen Beitrag leisten, dass der Krieg schneller verloren geht?
Kassel: Was für eine Meinung herrschte bei diesen Männern über die Frage, inwieweit die Wehrmacht tatsächlich ein Teil des nationalsozialistischen Vernichtungs- und Mordapparates war und inwiefern sie - wie immer wieder gern behauptet wurde - doch selbstständig und ehrenhaft war?
Neitzel: Also, es ist im Prinzip allen klar, dass natürlich die Wehrmacht sozusagen ein Teil dieses Vernichtungskrieges war. Das wird letztlich überhaupt gar nicht bezweifelt. Es ist nur die Schlussfolgerung daraus eine unterschiedliche. Die einen sagen: Na ja, das musste eben sein, wir müssen den Krieg gewinnen, es ist ein Krieg gegen Juden, gegen die Bolschewisten und so weiter, wir müssen dem Führer bis zum Schluss die Stange halten, und die anderen, eine andere Gruppe, sagt: Nein, Deutschland darf den Krieg nicht gewinnen, wir haben uns auf ewig den Namen Hunnen vergeben, wir sind schuld an diesen ungeheuerlichen Verbrechen, wir müssen daraus die Konsequenz ziehen und müssen uns von diesem Regime abwenden.
Kassel: Wie genau wussten denn diese Männer Bescheid über die Verbrechen des NS-Regimes, also sowohl über die Verbrechen der Wehrmacht als auch über die Verbrechen von Gestapo und SS?
Neitzel: Auch da müssen wir wieder unterscheiden. Es gab Leute, die hervorragend informiert waren, also etwa 10 Prozent, müssen wir sagen, wusste auch von Auschwitz und den Vernichtungslagern, den Gaskammern. Die anderen wussten das nicht, aber fast alle wussten von den Massenverbrechen an der Ostfront, oft nur gerüchteweise, aber sie konnten das einordnen. Und wieder haben wir zwei Gruppen. Die einen versuchen, das eher wegzudrängen: Na ja, wo gehobelt wird fallen Späne, es war schon nicht so schlimm und wenn da ein paar Russen umkommen, na und. Und die anderen sagen: Nein, also, das ist ungeheuerlich und wir müssen die Konsequenz daraus ziehen, wie hat es so weit kommen können!
Kassel: Es ist ja schwer, schwarz-weiß zu malen in diesem Zusammenhang, auch - das muss man sagen - die Serie über die Wehrmacht tut das nicht, weder, wenn sie die Ereignisse in Trent Park nachstellt, noch an anderen Stellen. Inwieweit waren denn die Soldaten, die dort abgehört wurden, überzeugte Antisemiten und inwieweit bedeutete das für sie ein Einverständnis mit den Verbrechen oder auch nicht?
Neitzel: Also, ich glaube, der Antisemitismus ist in der damaligen Zeit sehr, sehr weit verbreitet gewesen, und die meisten werden auf jeden Fall eine antisemitische Grundstimmung gehabt haben, genauso wie sie eine antikommunistische Grundstimmung gehabt haben - wobei das Antikommunistische stärker war als das Antisemitische. Es gibt im Prinzip nur einen im Lager, der was Positives über die Russen und über die Kommunisten sagt. Man muss immer fragen: Was heißt Antisemitismus? Wir denken dann natürlich aus unserer heutigen Perspektive gleich an Auschwitz. Das haben sicherlich nur die wenigsten wirklich befürwortet. Aber eine antisemitische Grundstimmung, zu sagen, na ja, also, die Juden, die müssten doch irgendwie aus Deutschland vertrieben werden und so, die ist da, die lässt sich bei sehr vielen nachweisen. Und einige, die eigentlich auch Hitler-Gegner sind, sagen dann doch eben im Gespräch zum Kameraden: Na ja, das mit den Juden war schon ganz richtig, man hätte es nur leise machen müssen.
(...)
Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur gerade mit dem Historiker Sönke Neitzel über die Abhörprotokolle des britischen Geheimdienstes, die er ausgewertet hat und über die neue ZDF-Serie zur Wehrmacht, die ja heute Abend beginnt. Und in dieser Serie, Professor Neitzel, fällt auch wieder eine Zahl, da wird gesagt, 5 Prozent der Wehrmachtsangehörigen waren an den Verbrechen der Wehrmacht beteiligt. Da muss man noch genauer sagen, es geht um die Ostfront, da waren etwa zehn Millionen, 5 Prozent, ungefähr eine halbe Million. Was ist das für eine Zahl, wie kann man das so genau definieren?
Neitzel: Na ja, es ist immer so die Frage, wenn wir als Historiker darüber reden, über Verbrechen und so weiter, dann kommt man irgendwann an den Punkt, wo man immer wieder gefragt wird, ja, wie viele waren es denn? Der Historiker versucht natürlich, hier mit einem entschiedenen "Vielleicht" zu antworten, mit ungefähren Dingen, es waren viele oder wenige, aber irgendwann geht dann das Gedrängel los und man sagt, wie viele waren es denn? Und der Kollege Müller, Professor Rolf-Dieter Müller aus Potsdam, der hat im "Spiegel" mal vor einigen Jahren im Zusammenhang mit der Wehrmachtsausstellung eben diese Zahl genannt, diese 5 Prozent, und ich werde mich nun hüten, eine genaue Zahl zu nennen, weil natürlich eine genaue Zahl nie wirklich exakt aus den Quellen nachweisbar ist. Es geht eigentlich bei diesen 5 Prozent, bei diesen 500.000, eher darum, zu fragen: In welcher Dimension waren Wehrmachtangehörige selber Täter, im Sinne von Personen, die jetzt andere Zivilisten, Juden, umgebracht haben? Die Dimension ist dann, glaube ich, richtig, dass man sagt, es sind vergleichsweise wenige gewesen, relativ gesehen, in absoluten Zahlen natürlich immer noch sehr viele.
Kassel: Was sagt das aber über den Rest? Wenn wir jetzt mal, um weiter darüber reden zu können, bei diesen 5 Prozent bleiben, dann haben wir 95 Prozent, die nicht unmittelbar an Verbrechen beteiligt gewesen sind. Noch mal: Es geht um die Ostfront, wir reden von insgesamt zehn Millionen, da bleiben viele übrig. Da bleiben gut sieben Millionen übrig, die waren an anderen Fronten - Mangel an Gelegenheit vielleicht für bestimmte Taten. Dann gab es diese 9,5 Millionen, die nicht an Verbrechen beteiligt waren. Sind die im Rückkehrschluss alle unschuldig?
Neitzel: Na ja, die Frage ist ja, was ist ein Verbrechen, und was heißt Schuld und Unschuld? Wenn wir sagen, es waren eben nur 5 Prozent direkt an Mordtaten beteiligt, dann haben wir eben einen großen Radius, eine große Gruppe von Menschen, die indirekt daran beteiligt waren. Also, denken Sie daran, dass bei dem Massaker, bei der Ermordung von 33.000 Juden in Babyn Jar in der Nähe von Kiew eben die Wehrmacht-Propagandaabteilung die Aushänge gedruckt hat, dass die Wehrmacht logistische Unterstützung geliefert hat, dass ein Pionierbataillon die Ränder der Schlucht gesprengt hat, um das Massaker zu vertuschen. Diese Leute tauchen in den 5 Prozent natürlich nicht auf, aber sie wussten das a), und b) haben sie die Sachen natürlich auch erst möglich gemacht. Das ist natürlich eine viel größere Gruppe, die man aber nie wird beziffern können, weil das natürlich Graubereiche sind. Ein Soldat, der eine Absperrfunktion wahrnimmt, ermöglicht eben ein Massaker einer SS-Einsatzgruppe, auch wenn er selber nicht schießt.
Kassel: Es gibt eine kleine Kritik an der neuen ZDF-Serie, diese fünfteilige Dokumentation über die Wehrmacht ist überwiegend bei Historikern wie bei Journalisten gut angekommen, aber einige haben doch darauf hingewiesen, dass die Opfer ein wenig zu kurz kommen, die Opfer der Wehrmacht. Nun sind das neue Forschungsergebnisse, man sieht sehr viele sehr junge Historiker auch in dieser Serie. Ist das vielleicht - nachdem ein paar Sachen jetzt erforscht sind - die nächste Aufgabe, sich auch als Historiker ein bisschen stärker den Opfern der Wehrmacht zu widmen?
Neitzel: Also, ich würde jetzt mal ganz ketzerisch sagen, wir müssten eher versuchen, uns mit dem Alltag des Krieges zu beschäftigen. Ich glaube schon, dass wir eine sehr breite Opferforschung haben. Wenn wir mal sehen, was die Holocaustforschung geleistet hat, da haben wir sehr detaillierte Studien, die jetzt sozusagen nicht alle natürlich in diese Serie eingeflossen sind, weil es ja kein Film etwa über den Holocaust, sondern ein Film über die Wehrmacht ist, aber die Opferfrage ist eigentlich in der Forschung relativ gut aufgearbeitet worden. Das Desiderat würde ich eher darin sehen, zu sagen: Wie sah eigentlich der Alltag der Soldaten aus? Wir neigen natürlich - Historiker wie Journalisten - dazu, uns sehr stark auf die Verbrechen, auf Täter und Opfer, zu konzentrieren, aber das ist natürlich nur - so schlimm das war und so wichtig das natürlich für uns ist - ein Segment dieses Krieges, und wir müssen versuchen, auch die anderen Realitäten des Krieges darzustellen.
Kassel: Vielen Dank! Der Historiker Sönke Neitzel war das, über abgehörte deutsche Wehrmachtsoffiziere und über eine neue Serie im ZDF. Die Serie heißt "Die Wehrmacht - eine Bilanz", beginnt heute Abend um 20.15 Uhr, die weiteren Folgen laufen dann an den nächsten Dienstagen immer um die gleiche Zeit, und das Buch von Sönke Neitzel, "Abgehört", ist gerade im Liszt-Verlag als Taschenbuchausgabe neu erschienen.
Mittwoch, 14. November 2007
Spannende neue Quellen zum Zweiten Weltkrieg
Der Professor für Neuere Geschichte Sönke Neitzel (Jg. 1968), Mainz, hat etwa zur gleichen Zeit (ohne vorher seinen Magister zu machen!) seine Dissertation bei Professor Winifried Baumgart in Mainz erarbeitet (zu dem eher abwegigen Thema der deutschen Luftkriegführung über dem Atlantik), in der ich bei Professor Baumgart meine Magisterarbeit über die Kriegszielpolitik der Westalliierten vorgelegt habe. Er war ein "Senkrecht-Starter", allerdings mit Themen, die ich selbst meist gar nicht so spannend fand. Aber jetzt freue ich mich über seine Tätigkeit doch sehr. Er ist wissenschaftlicher Berater beim ZDF und hat gerade wichtige neue Quellen zum Zweiten Weltkrieg herausgebracht, sein Buch "Abgehört" (Deutschlandradio). Das folgende Interview kann man sich auch auf der angegebenen Seite anhören:
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