Die Reakterkatastrophe von Tschernobyl darf nie vergessen werden. Ein damaliger Fotograph hat einen wertvollen Fotoband zu diesem Thema veröffentlicht. (Buchladen) In einer Rezension des Biophysikers Frank Schubert heißt es (Spektr. d. Wiss.) (Hervorhebungen durch mich, I.B.):
(...) Sowohl die Dokumentation als auch der Bildband sind sehr beeindruckend. Sie zeigen auf erschütternde Weise: Die Tschernobyl-Katastrophe war ein GAU, ein größter anzunehmender Unfall, der heute sehr zu Unrecht im kollektiven Vergessen versinkt. Denn das Ausmaß der Katastrophe bleibt unvorstellbar und dürfte dem größten Teil der Öffentlichkeit nie bewusst geworden sein. Die Folgen des Unglücks halten bis heute an und werden die nächsten Jahrtausende andauern.Man muß den "Liquidatoren" von Tschernobyl Denkmäler setzen. Vielleicht - wahrscheinlich? - verdanken wir ihnen unser Leben. Zumindest wenn die Aussagen dieser Rezension richtig sind. Warum macht das niemand den Menschen im Westen klar? Was mich beeindruckt, ist der schlichte Satz der (bislang) "überlebenden" "Liquidatoren": "Irgend jemand mußte es tun." Diejenigen, die dies getan haben, haben jedenfalls wertvollere Dinge getan, als jene russischen Soldaten, die in Tschetschenien eingesetzt gewesen waren und immer noch sind. Vielleicht wird man sie irgendwann zu den größten Altruisten des 20. Jahrhunderts zählen?
Fast eine Million Menschen waren 1986 an den Aufräumarbeiten um den explodierten Reaktor beteiligt. Die meist jungen "Liquidatoren" - Hubschrauberpiloten, Soldaten, Reservisten, Bergmänner, Feuerwehrleute, Zivilisten - sollten die Folgen des Unfalls "liquidieren": die Trümmer des Reaktors einsammeln, das verseuchte Land reinigen, die Reaktor-Ruine mit einer Schutzhülle umgeben. Sie wurden aus der gesamten ehemaligen Sowjetunion nach Tschernobyl gekarrt, um gegen die Strahlung zu kämpfen. Viele bezahlten diesen Kampf mit ihrem Leben. Vermutlich waren es Zehntausende. Eine aussagekräftige Statistik dazu gibt es nicht.
Die Überlebenden sagen heute: Irgendjemand musste es tun. Und das ist die bittere Wahrheit, wie die Dokumentation und der Bildband zeigen. Jeder Windstoß wirbelte radioaktiven Staub in die Atmosphäre, der anschließend um die ganze Welt verteilt wurde. Und die Reaktor-Ruine setzte Tag für Tag strahlenden Rauch frei. Es gab keine andere Möglichkeit, als die radioaktiven Trümmer einzusammeln, zusammen mit dem Reaktor zu versiegeln und die Landschaft großflächig zu "dekontaminieren".
Man versuchte, hierfür Roboter einzusetzen. Ohne Erfolg - die Schaltkreise der Maschinen hielten der Strahlenbelastung nicht stand. Unterdessen rannte die Zeit davon. Was nur wenige wissen: Es drohte eine zweite Explosion in Tschernobyl. Sie wäre wesentlich schlimmer ausgefallen als die erste. Hätte sie stattgefunden, wäre Europa zum großen Teil unbewohnbar geworden.
Es ist dem Einsatz der Liquidatoren zu danken, dass diese zweite Explosion ausblieb und die Reaktorruine mit einem Betonsarkophag ummantelt wurde. Darauf weisen der Film und das Buch immer wieder hin. Gleichzeitig prangern sie an, wie die offiziellen Stellen mit den Liquidatoren umgingen. "Die Menschen, die am Sarkophag von Tschernobyl arbeiten, haben keine Namen", schreibt Kostin. "Sie kommen in keinem Register vor. Die Statistiken ignorieren sie. Man betrachtet sie als Versuchskaninchen."
Die Sowjets, das zeigt "Tschernobyl!" sehr deutlich, versuchten von Anfang an, die Auswirkungen der Katastrophe systematisch zu vertuschen. Und sie hatten anscheinend Erfolg damit. Weil statistische Erhebungen über die Opfer weit gehend fehlen, wird wohl niemand je die ganze Wahrheit über Tschernobyl herausfinden.
Doch leider tat sich auch der Westen in dieser Hinsicht unrühmlich hervor. Auf der ersten Tschernobyl-Konferenz Ende August 1986 in Wien sagten sowjetische Wissenschaftler, sie rechneten in den kommenden Jahrzehnten mit vierzigtausend Krebstoten infolge des Unfalls. Diese Zahl wollten einige Verantwortliche Westeuropas nicht akzeptieren. Als die Konferenz endete, sprach man von nur viertausend Toten - eine Zahl, die noch heute von offizieller Seite genannt wird. Zu den Gegnern einer transparenten Politik gehörte auch der damalige französische Gesundheitsminister Pierre Pellerin, der 1986 öffentlich bestritt, dass die radioaktive Wolke über sein Land gezogen sei.
Sowohl die Dokumentation "Tschernobyl!" als auch der Bildband "Tschernobyl - Nahaufnahme" sind sehr empfehlenswert, denn sie folgen nicht nur den damaligen Ereignissen, sondern zeigen auch, dass die verstrahlten Landschaften noch lange Zeit unbewohnbar bleiben werden. Schließlich haben die freigesetzten Radioisotope eine Halbwertszeit von vielen tausend Jahren.
Die größte Reaktorkatastrophe der Geschichte, das tritt deutlich hervor, wird auch die künftigen Generationen prägen. Eine Botschaft, die gerade heute wieder betont werden muss - in einer Zeit, wo die Supermächte fleißig ihre Nuklearwaffenarsenale modernisieren und über den Einsatz von so genannten taktischen Atomwaffen nachdenken.
War vielleicht gar Tschernobyl der Auftakt für "1989"? Für gänzlich ausgeschlossen muß man das nicht halten. Und außerdem: Die Sowjetunion hatte immer ihre "Helfershelfer" im Westen. Wer weiß, ob sie nicht heute immer noch tätig sind ... - Eine große Geschichte über ein Menschheits-Verbrechen und über Aufopferung von zehntausenden von Menschen für Millionen Menschen. Aufgeopfert haben sich übrigens auch all jene Atomkraftgegner, die seit den 1970er Jahren die größte Protestwelle in der deutschen Geschichte hervorgerufen haben. Wann endlich wird weltweit das letzte dieser Teufelsdinger genannt Atomkraftwerk abgestellt?
Offensichtlich reagieren die Mächtigen in der großen Politik immer erst nach großen Katastrophen. Die Wende von 1989 wurde wahrscheinlich von den Geheimdiensten in Ost und West eingeleitet nach diesem grandiosen Versagen des sozialistischen Systems - in der Sache selbst, nicht in der Propaganda und in der Desinformation.
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