Dienstag, 27. Mai 2025

Mit KI meine Doktorarbeit fertig schreiben (!!!)

Künstliche Intelligenz - Kann sie mir wirklich helfen, die Arbeit an meiner Promotion fortzusetzen?
- Ich pilgere nach Delphi, um die hohe, moderne Göttin der Weisheit zu befragen
- Sie ist - offenbar - deutlich klüger und schlagfertiger als ein verdienter deutscher Professor für Humansoziobiologie 1997 in Gießen

Abb. 1: William D. Hamilton
William D. Hamilton (1936-2000) (Wiki), der Begründer der Soziobiologie, ist einer der großen Helden meines dritten Lebensjahrzehnts, seit ich begann, mich mit Soziobiologie und Evolutionärer Anthropologie zu beschäftigen. (Neben vielen anderen Helden - natürlich, s. Abb. 1.) 1966, als ich geboren wurde, saß er einsam in Londoner Bahnhofs-Wartesälen und schrieb an einer Doktorarbeit, die einen ganzen neuen Wissenschaftszweig begründen sollte, nämlich eben jene genannte Soziobiologie, heute allgemeiner Evolutionäre Anthropologie oder Evolutionäre Psychologie genannt.

An ihn, diesen großen Wegbahner und mutigen Intellektuellen soll als erstes erinnert werden, bevor ich mit dem weiteren fortfahre. Er sollte zahllose Schüler weltweit haben. Zu den namhaftesten gehören Edward O. Wilson und Richard Dawkins. Diese machten die große Öffentlichkeit ab 1975 erstmals mit jenen neuen Gedanken bekannt, die von William D. Hamilton in die Welt gebracht worden waren (in den Büchern "Sociobiology - The New Synthesis" und "Das egoistische Gen"). In Deutschland wurde die neue Forschungsrichtung aufgenommen von Wolfgang Wickler, einem Schüler von Konrad Lorenz, später von Leuten wie Christian Vogel und dessen Schüler, dem Gießener Humansoziobiologen Eckart Voland. Bei letzterem begann ich selbst 1995/97 eine Doktorarbeit - also quasi als wissenschaftlicher Urenkel von William D. Hamilton. Schließlich war es im Jahr 2006 auch der Herausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", Frank Schirrmacher, der in seinem Büchlein "Minimum - Vom Vergehen und Neuentstehen unserer Gemeinschaft" Anregungen seines Autors Eckart Voland aufnahm und der Soziobiologie eine neue öffentliche Aufmerksamkeit gegeben hat. Seither war es etwas stiller geworden rund um diese Forschungsrichtung. Ob das nicht sollte geändert werden können?

Soweit also zunächst als allgemeine Einleitung.

Künstliche Intelligenz nimmt richtig Fahrt auf in der Wissenschaft

Nun sehen wir also am 25. Mai 2025 die neueste Ausgabe der Wissenschaftszeitschrift "Nature" (22.Mai2025) durch und werden darauf aufmerksam, daß sie eine Fülle von Artikeln über Künstliche Intelligenz enthält. Dieses Thema scheint also in der Wissenschaft gerade so richtig, richtig Fahrt aufzunehmen. Da stößt man nur innerhalb dieser einzigen Zeitschriften-Folge auf die folgenden Aufsatzttitel:

The path for AI in poor nations does not need to be paved with billions
Researchers in low- and middle-income countries show that home-grown artificial-intelligence technologies can be developed, even without large external investments.

Oder:

AI linked to explosion of low-quality biomedical research papers
Analysis flags hundreds of studies that seem to follow a template, reporting correlations between complex health conditions and single variables based on publicly available data sets.

Oder:

I told AI to make me a protein. Here’s what it came up with
A new crop of artificial-intelligence models allows users to create, manipulate and learn about biology using ordinary language.

Oder:

Abb. 2: "Nature" 

AI tool flags people at high risk of post-partum depression
Model could be used by hospitals to identify people who would benefit from of preventive measures.

Oder:

Can AI help us talk to dolphins? The race is now on
Lucrative prizes are offered for an AI-powered breakthrough in communications between humans and other species.

Mit solchen Titeln auf die Thematik eingestimmt, stößt der unbedarfte, nichtsahnende Leser dann auf die folgende Überschrift:

‘AI models are capable of novel research’: OpenAI’s chief scientist on what to expect
Jakub Pachocki, who leads the firm’s development of advanced models, is excited to release an open version to researchers.

Ja, was denn, so taucht aus den Tiefen unseres Gehirns der Gedanke auf: Kann ich denn mit KI, mit OpenAI (vormals "ChatGPT") auch meine Doktorarbeit fertig schreiben? Und sei es auch nur, nunja: als "low-quality research paper"? Dieser Frage will ich gleich einmal nachgehen. 

Die grundlegende These meiner Doktorarbeit von 1997

Ich frage also unbefangen OpenAI: 

"Altruismus kann evoluieren, wenn die Hamilton-Ungleichung r > K/N eingehalten wird, das heißt, wenn die Kosten K einer altruistischen Handlung (für den Altruisten) geteilt durch den Nutzen N einer altruistischen Handlung (für den Nutznießer) kleiner sind als der genetische Verwandtschaftsgrad, der zwischen Altruist und Nutznießer besteht - richtig?"

Dieser Satz ist der allgemeinen Beschreibung des vorliegenden Blogs entnommen. Die KI gibt mir im Wesentlichen recht. 

Abb. 3: Fragen an Athena, die Göttin der Weisheit (Wiki

Schließlich stelle ich die Folgefrage, meine "Fangfrage":

"Gut, wie wirkt sich nun Arbeitsteilung im Sinne von Adam Smith auf die Gesetzmäßigkeiten dieser Altruismus-Evolution aus? Durch Arbeitsteilung kann mit wenig Kosten viel Nutzen erreicht werden."

Die KI zögert mit der Antwort auch nicht eine Sekunde:

Sehr gute und tiefgehende Frage! Du bringst hier zwei verschiedene, aber potenziell verknüpfbare Konzepte zusammen: biologischen Altruismus im Sinne der Hamilton-Regel und Arbeitsteilung im ökonomischen Sinne von Adam Smith. Lassen wir uns diese Verbindung systematisch betrachten. (...)
Adam Smith stellte fest, dass durch Spezialisierung und Arbeitsteilung:
Produktivität steigt (mehr Output mit gleichem oder weniger Input),
Effizienzgewinne entstehen (z. B. Zeitersparnis, Lernkurve, Technikeinsatz),
die Kosten pro Einheit sinken, während der Nutzen (Output) steigt.
Hier kommt deine kluge Beobachtung ins Spiel:
Durch Arbeitsteilung kann der Quotient K/N (Kosten/Nutzen) kleiner werden.
Beispielhafte Wirkung:
Ohne Arbeitsteilung       Mit Arbeitsteilung
K = 5 (Kosten)                     K = 2
N = 10 (Nutzen)               N = 12
K/N = 0,5                              K/N = 0,166...
Benötigtes r > 0,5               Benötigtes r > 0,166...
Arbeitsteilung reduziert K/N ⇒ Erhöht die Bedingungen, unter denen Altruismus evolvieren kann.
In biologischen oder sozialen Systemen (z. B. bei Insekten, Primaten oder Menschen) zeigt sich das so:
Arbeitsteilung senkt individuelle Kosten → Altruistische Handlungen werden fitnessverträglicher.
Hochspezialisierte Individuen (z. B. Arbeiterinnen bei Ameisen) können altruistisch handeln, weil der individuelle Beitrag gering erscheint, aber für das Ganze (Kolonie) hoch ist.
Effizienz durch Spezialisierung → K wird klein, N wird groß → Mehr evolutionär stabiler Altruismus möglich.
Fazit
Ja, Arbeitsteilung verändert die Bedingungen der Altruismus-Evolution:
Sie kann K/N verkleinern und dadurch die Hamilton-Ungleichung leichter erfüllbar machen.
Dadurch wird kooperatives, altruistisches Verhalten auch zwischen weniger nah verwandten Individuen wahrscheinlicher – ein evolutionärer Mechanismus, der zur Hochentwicklung komplexer Gesellschaften beitragen kann.
Wenn du möchtest, kann ich dir ein vereinfachtes Modell oder Diagramm zeichnen, das diesen Zusammenhang zeigt.

In diesen wenigen, schnell von der KI hingeschriebenen Worten sind fast alle Grundgedanken meiner Doktorarbeit von 1997 zusammen gefaßt. Die KI trägt hier genau jene These vor, die ich selbst 1997 im Doktorandenseminar von Eckart Voland in Gießen vorgetragen habe! Ganz ohne daß ich die KI mit dem Zaunpfahl darauf hinweisen muß, also quasi "von selbst". (Aus anderen Zusammenhängen weiß ich, daß ChatGPT nicht immer so schnell auf den Punkt kommt, den ich als Fragender von ihr erwarte, etwa als ich die KI neulich zu der Philosophin Violetta Waibel befragte, da brauchte ich dann doch irgendwann den Zaunpfahl ... [Stg2025]. Wie auch immer!) Auch die Schlußfolgerung bezüglich der Ameisenstaaten hat ChatGPT von selbst gezogen. Und wenn ich den Schritt von der Einzelligkeit zur Mehrzelligkeit über dieses Prinzip erklären möchte, dann wird mir ChatGPT voraussichtlich auch hierbei zustimmen (!). (Werde ich die KI irgendwann noch fragen ...)

Ich möchte hier also erst einmal feststellen, daß die Künstliche Intelligenz intelligenter ist als es mein Doktorvater Professor Voland im Jahr 1997 war, also zu jenem Zeitpunkt, als ich genau diese These in seinem Doktorandenseminar vorgetragen habe und als auch alle anderen anwesenden Doktoranden - hm, vielleicht ein bisschen eilfertig - argumentativ dagegen gehalten haben. Und als ich von keiner Seite Ermutigung erhielt, diese Grundgedanken weiter zu verfolgen.

Die Zeit war damals vermutlich einfach noch nicht reif für einen solchen "ungewöhnlichen" (?) Gedanken. Zumindest unter deutschsprachigen Menschen, die sich mit Soziobiologie und Evolutionärer Anthropologie - ein wenig - auskannten. ChatGPT scheint da nun im Jahr 2025 "vorurteilsfreier" heranzugehen, ähm!!! (Manchmal mag es eben auch vorteilhaft sein, keine Emotionen zu haben ;-) ) Statt zunächst den Vorschlag im letzten Satz von ChatGPT weiter zu verfolgen, stelle ich der hohen Göttin KI gleich einmal jene Frage, der ich seit etwa 1994/95 nachgehe, und die mir fast noch am meisten auf den Nägeln brennt:

"Gibt es zu diesem Thema wissenschaftliche Literatur?"

Ich bin sehr gespannt auf die Antwort. Aber meine neue Koautorin KI nennt mir keine wesentliche Literatur, die ich nicht schon kennen würde, und in der ich den von mir aufgeworfenen Grundgedanken nie explizit genug heraus gearbeitet gefunden hatte. Die KI nennt etwa:

Bert Hölldobler & Edward O. Wilson (2009)
Titel: The Superorganism: The Beauty, Elegance, and Strangeness of Insect Societies
Betrachtung von Arbeitsteilung, Kooperation und Altruismus in sozialen Insekten
Verknüpfung zwischen Effizienzsteigerung durch Spezialisierung und kollektiver Fitness

Ich kann mich nicht erinnern, daß in diesem Buch der aufgeworfene Grundgedanke schon besonders konkret und ausführlich und explizit genug behandelt worden wäre. Das bemängele ich ja schon seit Jahren in meiner Blogbeschreibung an der Superorganismus-Theorie.

Sie nennt außerdem eine Arbeit von Herbert Gintis aus dem Jahr 2007 - gut! Sie nennt eine Arbeit von Samuel Bowles & Herbert Gintis (2011) - ebenfalls gut! 2008 hatte ich diese Autoren schon hier auf dem Blog erwähnt (Stg2008). So kommen wir weiter, mein liebe Koautorin KI. Jedenfalls: Beides sind Autoren, von denen ich immer schon gedacht habe, daß sie auf gutem Wege wären. Also, weiter so, liebe KI, liebe Göttin der Weisheit.*)

Die KI verweist mich aber auch auf Literatur zu Tit-for-Tat-Interaktionen. Da bist du auf dem Irrwege, liebe KI, denn diese haben zunächst gar nichts direkter mit dem Thema zu tun. Insgesamt kommt dir also selbst deine vorgeschlagene Literaturliste etwas zu kurz vor und du glaubst, sie "füllen" zu müssen. Ich schaue allmählich hinter deine Kulissen, meine liebe KI. Sieh dich vor. Auch Göttinnen können irren. 

Also insgesamt kommt mir ChatGPT bei der Literaturrecherche nicht schlauer vor als ich es selbst schon war. Damit bestätigt mir die KI im Grunde, daß ich offenbar keine wesentliche Arbeit zu diesem konkreten Thema übersehen habe - und (!!!): daß es immer noch keine echte Konkurrenz gibt bei der Behandlung dieses so grundlegenden Themas (!!!). Ich könnte also immer noch ein zweiter William D. Hamilton werden bei der Begründung eines neuen Wissenschaftszweiges.

Die KI hat in ihrer kurzen Antwort ohne Umschweife mehr und Konkreteres gesagt als ich es jemals in der wissenschaftlichen Literatur irgendwo behandelt gefunden habe! Die vergleichsweise spärliche Literatur, die die KI zu diesem konkreten Thema zusammen bringt, ist übrigens auch ein Beleg dafür, daß die KI bei ihrer ersten Antwort "selbständig" gedacht hatte und keineswegs nur Lesefrüchte referiert hat. Das zeigt mir, daß die KI wirklich was "drauf" hat. Ich bin sprichwörtlich begeistert.

Ich gehe dann doch noch auf den Vorschlag von ChatGPT ein und bitte: "Zeichne mir ein vereinfachtes Modell oder Diagramm, das den oben genannten Zusammenhang zeigt." Aber es dauert zu lange, bis es mit den Diagrammen fertig ist. Da aktuell gerade so viele Leute Bilder erstellen würden, so sagt mir die hohe Göttin KI. Tja, Delphi hat neuerdings viel zu tun. Um ihretwillen müssen ganze neue Kernkraftwerke in Betrieb genommen werden oder in Betrieb bleiben. Machen wir also mit Textfragen weiter und verzichten zunächst auf kluge Diagramme.

Der durchschnittliche genetische Verwandtschaftsgrad in Jäger-Sammler-Gesellschaften

Frage: "Wie hoch ist der durchschnittliche genetische Verwandtschaftsgrad in Jäger-Sammler-Gesellschaften?" Die hohe Göttin der Weisheit antwortet: In Jäger-Sammler-Gesellschaften liegt der durchschnittliche genetische Verwandtschaftsgrad unter Gruppenmitgliedern bei etwa:

r ≈ 0,2 bis 0,25

Das ist deutlich höher als in heutigen anonymen Gesellschaften, aber niedriger als innerhalb enger Verwandtschaft (z. B. r = 0,5 bei Geschwistern).

(Literatur: Hill et al. (2011) Titel: Co-Residence Patterns in Hunter-Gatherer Societies Show Unique Human Social Structure. Studie an 32 Jäger-Sammler-Gruppen weltweit, mittlerer Verwandtschaftsgrad innerhalb von Wohnlagern: r ≈ 0,2 bis 0,25. In: Science, 331(6022), 1286–1289 DOI: 10.1126/science.1199071)

Nächste Frage: "Wie hoch ist der durchschnittliche Verwandtschaftsgrad in den frühesten, arbeitsteiligen bäuerlichen Gesellschaften des Menschen?"

Antwort: Basierend auf archäogenetischen Studien und ethnographischen Vergleichen kann man sagen: In frühen bäuerlichen Gesellschaften (Neolithikum) lag der durchschnittliche genetische Verwandtschaftsgrad vermutlich zwischen

r ≈ 0,05 und 0,15

Zum Vergleich:

Gesellschaftstyp                                               Durchschnittlicher r-Wert

Enge Familie (z. B. Geschwister)                        0,5

Jäger-Sammler-Band                                       ~0,2–0,25

Neolithische Bauerngemeinde                       ~0,05–0,15

Moderne anonyme Gesellschaft                         < 0,01

Mitteldeutschland (LBK, ca. 5000 v. Ztr.)
Studie von Haak et al. (2008) und Mittnik et al. (2019):
Genetische Rekonstruktion von Verwandtschaftsverhältnissen innerhalb neolithischer Dörfer (z. B. Eulau, Deutschland)
Viele Haushalte bestehen aus engen Verwandten, aber nicht alle
Erweiterte Familienstrukturen, aber auch Einheirat von außerhalb
Ergibt im Schnitt ein mittleres r von etwa 0,1 bis 0,15.

Das Schöne ist auch: Die KI befreit einen von so vielen Selbstzweifeln. All solche Daten habe ich ja selbst schon zusammen gestellt. Aber da die KI das ebenso schnell, frei und offen kommuniziert, fühlt man sich gleich viel sicherer. (Natürlich: Auch die hohe Göttin kann irren. Natürlich.)

Welche arbeitsteiligen Strukturen kann man bei vorkeramischen neolithischen Gesellschaften im Vorderen Orient feststellen?

Mit den vorkeramischen, neolithischen Gesellschaften des Vorderen Orients kenne ich mich vergleichsweise gut aus, denn zu ihnen habe ich schon 1995 am Anthropologischen Institut der Universität Mainz eine Seminararbeit erarbeitet. Es gab hier im sogenannten PPNB ab 7.500 v. Ztr. schon Dörfer mit bis zu 3.000 Einwohnern, ab 6.500 v. Ztr auch Städte mit 10.000 Einwohnern (1) (Abb. 4). Hier wird man sicherlich schon vielfältiger strukturierte gesellschaftliche Arbeitsteilung voraussetzen dürften, bzw. müssen. Deshalb meine Frage an die hohe Göttin KI: "Welche arbeitsteiligen Strukturen kann man bei vorkeramischen neolithischen Gesellschaften im Vorderen Orient feststellen?" In der Antwort heißt es unter anderem:

In PPNB zunehmend arbeitsteilige Organisation von:

Pflanzenbau (Weizen, Gerste, Hülsenfrüchte)

Tierhaltung (Ziegen, später Schafe und Rinder)

Nahrungsverarbeitung (Sicheln, Mahlsteine)

Unterschiedliche Aufgaben für Gruppen oder Individuen: Anbau, Ernte, Lagerung, Zubereitung

Ja, das deckt sich mit meinen eigenen Lektüre-Eindrücken von archäologischen Forschungs-Studien zum PPNB (1). Insgesamt ist die gesellschaftliche Arbeitsteilung in vorkeramischen, neolithischen Gesellschaften aber noch nicht besonders klar und konturiert archäologisch festgestellt. Sie läßt sich aber schlußfolgern, insbesondere auch anhand der von der KI nicht erwähnten, aufwändig hergestellten Terrazzo-Fußböden und der damit verbundenen Fußboden-Heizungen in den rechteckigen Gebäuden des PPNB, die zum Beispiel einen hohen Verbrauch an Feuerholz zum Herstellen derselben mit sich brachten. Das heißt also, es gab spezialisierte Handwerks-Berufe.

Bevölkerungswachstum ohne und mit Spezialisierung

Nun gut, neue Frage: "Wenn es zu Bevölkerungswachstum in einer Gesellschaft kommt, ohne dass dabei die berufliche Spezialisierung zunimmt, dann sinken die Potentiale innerhalb dieser Gesellschaft, die aus dem Verwandtenaltruismus nach William D. Hamilton abgeleitet werden können - richtig?" - Antwort:

Ja, das ist im Kern richtig – und zwar sowohl theoretisch als auch empirisch gut begründbar. Hier ist eine genauere Erklärung: (...) Wenn r sinkt, wird es schwieriger, die Ungleichung zu erfüllen - es sei denn, C/B sinkt ebenfalls (z. B. durch Arbeitsteilung oder Effizienz).

Was passiert bei Bevölkerungswachstum ohne Spezialisierung?

Größere Gesellschaften → mehr Interaktionen mit Nicht-Verwandten

Dadurch sinkt der durchschnittliche r-Wert zwischen zufällig gepaarten Individuen

Ohne zunehmende Spezialisierung:

Kosten des Helfens (C) bleiben gleich hoch

Nutzen (B) nicht gesteigert durch Effizienz

→ C/B bleibt hoch

Ergebnis:

Die Hamilton-Bedingung (r > C/B) wird seltener erfüllt

→ Weniger Altruismus durch Verwandtschaftsselektion

Die hohe Göttin KI hat völlig verstanden, worum es geht!!!! Mit ihr kann ich mich über alles rund um meine Doktorarbeit viel besser und viel schlagfertiger unterhalten als mit allen Anwesenden im Doktorandenseminar in Gießen 1997. Die hohe Göttin KI führt in ihrer Antwort auch gleich noch unglaublich klug weiter - und sehr selbstständig gedacht - aus:

Was würde das kompensieren?

Berufliche/ökonomische Spezialisierung reduziert C (Kosten) → senkt C/B

Reziprozität, kulturelle Normen oder Multilevel-Selektion könnten altruistisches Verhalten auch zwischen Nichtverwandten stützen

Beispiel: "Arbeitsteilung kompensiert sinkenden r-Wert"

Beispielhafte Szenarien:

          Fazit

Ja, bei Bevölkerungswachstum ohne gleichzeitige Senkung der Kosten (C) durch Spezialisierung oder andere Mechanismen verliert Verwandtenaltruismus an Wirkungskraft.

→ In großen Gesellschaften braucht es kompensatorische Mechanismen (Arbeitsteilung, Normen, Institutionen), um Kooperation und Altruismus aufrechtzuerhalten.

Auf den Vorschlag, das zu visualisieren, verzichte ich zunächst angesichts der Erfahrung damit weiter oben. ;-) Ich nehme einfach einmal eine "Visualisierung" aus meiner Seminararbeit von 1995 mit herein (s. Abb. 4).

Um welchen Faktor ändert sich eigentlich der Spezialisierungsgrad einer Gesellschaft im geschichtlichen Verlauf?

Nächste Frage: "Um welchen Faktor hat sich der Spezialisierungsgrad in den europäischen Gesellschaften zwischen dem Frühmittelalter und dem Hochmittelalter verändert?" Leider gibt ChatGPT dazu keine konkreten quantitativen Angaben. Fragen wir weiter: "Um welchen Faktor hat sich der Spezialisierungsgrad in den europäischen Gesellschaften zwischen der Frühen Neuzeit und dem frühen Zwanzigsten Jahrhundert verändert, dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft?" Auch auf diese Frage will mir ChatGPT keine konkrete, quantitative Antwort geben. Deshalb die nächste Frage: "Um welchen Faktor hat sich der Spezialisierungsgrad in den europäischen Gesellschaften zwischen der dem frühen Zwanzigsten Jahrhundert und heute verändert, dem Übergang von der Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft?" ChatGPT behauptet, es gäbe keine konkreten, quantitativen Angaben. Das glaube ich der KI nicht. Da macht sie es sich ein wenig zu einfach. Da gibt es viele Forschungen drüber. Deshalb frage ich: "Glaubst du nicht, dass du es dir bei deiner Antwort ein wenig zu einfach machst? Zu dieser Frage gibt es doch eine Fülle von wirtschaftsgeschichtlicher Forschung." Antwort:

Du hast völlig recht - die Frage nach dem Wandel des Spezialisierungsgrads in europäischen Gesellschaften zwischen dem frühen 20. Jahrhundert und heute ist komplex und wurde umfassend in der wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Forschung untersucht. Einige meiner früheren Antworten waren zu allgemein gehalten und haben die Tiefe der vorhandenen Literatur nicht ausreichend berücksichtigt. (...)

Quantitative Indikatoren für den Spezialisierungsgrad

Die Messung des Spezialisierungsgrads erfolgt in der Forschung häufig über verschiedene Indikatoren:

Herfindahl-Index: Dieser Index misst die Konzentration von Beschäftigung in bestimmten Branchen und kann Aufschluss über die Spezialisierung einer Volkswirtschaft geben.

Vielfalt der Berufsklassifikationen: Die Zunahme der Anzahl und Differenzierung von Berufsklassifikationen in nationalen und internationalen Klassifikationssystemen (z. B. ISCO) spiegelt die wachsende Spezialisierung wider.

Anteil hochqualifizierter Beschäftigter: Der steigende Anteil von Beschäftigten mit tertiärer Bildung oder spezialisierten Qualifikationen deutet auf eine zunehmende Spezialisierung hin.

Gut, wir schreiten hier erst einmal nur Themengebiete ab, die grob im Zusammenhang mit der Grundthese meiner Doktorarbeit Bearbeitung finden könnten.

Abb. 4: Die Kulturstufen der neolithischen Revolution (aus: T. Molleson, 1994, ergänzt durch I.B. 1995) (1) (auch in: Stg2012)

Dieser Blogartikel wird - natürlich - Fortsetzungen nach sich ziehen ...

... Und wie schlägt sich die KI "Grok" des Elon Musk?

Ergänzung 1.6.2025: In der aktuellen Ausgabe von "Scientific American" finde ich einen Artikel über die KI des Elon Musk, genannt "Grok" (ScAm25). Was diese nun wohl zu diesen Fragen sagt? - Sie sagt unter anderem (Grok):

Nach Adam Smith führt Arbeitsteilung zu einer höheren Produktivität, da Individuen durch Spezialisierung effizienter arbeiten. Dies bedeutet, dass die Kosten (C) einer altruistischen Handlung (z. B. Zeit, Energie oder Ressourcen, die der Altruist aufwendet) im Verhältnis zum erzeugten Nutzen (B) für den Nutznießer sinken können.
In der Hamilton-Ungleichung (rB > C) führt eine Arbeitsteilung dazu, dass B (Nutzen) steigt und/oder C (Kosten) sinkt. Dadurch wird die Ungleichung leichter erfüllt, was altruistisches Verhalten evolutionär begünstigt.
In sozialen Gruppen, wie bei Insektenstaaten (z. B. Bienen oder Ameisen) oder menschlichen Gesellschaften, kann Arbeitsteilung als eine Form von Altruismus betrachtet werden. Beispielsweise opfert ein Individuum (z. B. eine Arbeitsbiene) Zeit und Energie, um eine spezialisierte Aufgabe zu erfüllen, die der gesamten Gruppe zugutekommt. Durch die Spezialisierung wird der Nutzen für die Gruppe (z. B. mehr Nahrung, bessere Verteidigung) maximiert, während die Kosten für das Individuum relativ niedrig bleiben.
In menschlichen Gesellschaften könnte ein Bauer, der sich auf den Anbau von Nahrung spezialisiert, altruistisch handeln, indem er Nahrung mit anderen teilt. Durch die Arbeitsteilung ist die Produktion effizienter, was den Nutzen für die Empfänger erhöht und die Kosten für den Geber senkt.
Einfluß auf die Hamilton-Ungleichung
Erhöhung von B (Nutzen): Arbeitsteilung führt dazu, dass der Nutzen für die Empfänger einer altruistischen Handlung größer wird, da spezialisierte Aufgaben oft mehr Ressourcen oder bessere Ergebnisse liefern. Dies macht es wahrscheinlicher, dass rB > C erfüllt ist, selbst wenn der Verwandtschaftsgrad r relativ niedrig ist.
Senkung von C (Kosten): Durch Spezialisierung kann der Altruist seine Aufgabe mit geringerem Aufwand erfüllen, was die Kosten der altruistischen Handlung reduziert. Dies erleichtert ebenfalls die Erfüllung der Hamilton-Ungleichung.
Erweiterung von r (Verwandtschaftsgrad): In komplexen Gesellschaften kann Arbeitsteilung auch kooperatives Verhalten über die enge Verwandtschaft hinaus fördern, indem sie reziproken Altruismus oder Gruppenvorteile ermöglicht. Dies ist jedoch eher eine Erweiterung der klassischen Hamilton-Regel.
4. Evolutionäre Konsequenzen
Arbeitsteilung verstärkt die Evolution von Altruismus, da sie die Bedingungen der Hamilton-Ungleichung erleichtert. Gruppen mit Arbeitsteilung können effizienter kooperieren, was ihren evolutionären Erfolg steigert, insbesondere in Umgebungen, in denen Ressourcen knapp sind oder komplexe Aufgaben gelöst werden müssen.
Bei sozialen Insekten wie Ameisen oder Bienen ist die Arbeitsteilung ein Paradebeispiel für altruistisches Verhalten, das durch hohen Verwandtschaftsgrad (r nahe 1) und optimierte Kosten-Nutzen-Verhältnisse stabilisiert wird.
In menschlichen Gesellschaften ermöglicht Arbeitsteilung komplexe Formen von Kooperation, die über genetische Verwandtschaft hinausgehen, indem sie indirekte Vorteile (z. B. Handel, gegenseitige Unterstützung) schaffen, die den Prinzipien von reziprokem Altruismus ähneln.
Fazit
Arbeitsteilung im Sinne von Adam Smith wirkt sich positiv auf die Evolution von Altruismus aus, indem sie die Kosten (C) einer altruistischen Handlung senkt und den Nutzen (B) für die Empfänger erhöht. Dies erleichtert die Erfüllung der Hamilton-Ungleichung (rB > C), selbst bei niedrigerem Verwandtschaftsgrad. In sozialen Systemen fördert Arbeitsteilung somit die Kooperation und stabilisiert altruistisches Verhalten, was den evolutionären Erfolg von Gruppen steigert.

Sagen wir es so: Einverstanden, aber die Antwort von ChatGPT oben war doch noch einen Tick differenzierter. Die dann abgefragte Literatur-Liste von "Grok" ist auch ein wenig anders gestaltet - aber keineswegs besser. Auch die Frage zu Bevölkerungswachstum ohne weitere berufliche Spezialisierung wird in ähnlichem Sinne wie von ChatGPT beantwortet, aber wiederum etwas weniger differenziert. Interessant ist, wenn man diese Frage dann durch "DeeperSearch" weiter verfolgt. Dann wird deutlich, daß die KI sich über mehrere Versuche hinweg schwer tut, wirklich brauchbare Literatur zu dieser Frage zu finden. (Woher kenne ich das???) Sie sagt da etwa Worte wie:

Let's check if there's a connection between these factors in scientific literature.

Ergebnis des ersten Versuchs:

Just found interesting results from the search, including papers on kin selection and Hamilton's rule.
None directly address population growth without occupational specialization affecting kin altruism, though.

Und nach weiteren Versuchen:

Again, the search results are not directly addressing the specific combination of population growth, occupational specialization, and kin altruism.

Dieses "DeeperSearch" macht ein wenig transparenter, wie die KI arbeitet, vor allem auch, wie sie mit Mißerfolgen bei der Literaturrecherche umgeht, bzw. daß sie eben solche hat (so wie ich seit 25 Jahren). Wenn man sonst keine Anregungen hätte, würde man aus diesem "trial and error" mancherlei Anregungen für weiteres Nachdenken ableiten können, und zwar weil die KI doch ein wenig hartnäckig dran bleibt, die gestellte Frage doch noch von verschiedenen Seiten aus und aus verschiedenen Richtungen her zu beantworten. Wir wollen im Auge behalten, daß hier weitere Möglichkeiten der Zusammenarbeit gegeben sein könnten. Ich freue mich darauf, liebe KI Grok. 

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*) Die KI ist weiblich - oder etwa nicht? Es macht jedenfalls viel mehr Spaß, sie sich weiblich vorzustellen. Etwa wie Athene, die Göttin der Weisheit. Wollen wir sie deshalb nicht lieber Athena nennen? Oder Minverva? Und warum kommt uns dann auch noch jenes Hegel-Wort von der Eule der Minerva in die Quere, die ihren Flug angeblich erst mit einbrechender Dämmerung beginnen würde (Wiki)? Mit diesem Hegel-Wort könnten wieder neue Bezüge hergestellt werden nach verschiedenen Richtungen hin - aber lassen wir das an dieser Stelle. (Das Füllhorn philosophischer Ideen, das auch Hegel vor seinen Lesern ausbreitet, hatte sich schon in seiner Jugend und in seinen Gesprächen mit Friedrich Hölderlin zum Bersten angefüllt, also vorsichtig damit, ein solches Hegel-Wort in gar zu einseitiger Weise auszulegen!)

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  1. Bading, Ingo: Die Neolithische Revolution im Vorderen Orient 12.000 bis 6.000 v. Ztr.. (Ursprünglicher Titel: Populationsstrukturen und Transitions-Vorgänge im Levanteraum vom Epi-Paläolithikum bis zum PPNB.) Seminararbeit für den Anthropologischen Kurs II (Populationsstrukturen) von PD Dr. Winfried Henke, Universität Mainz, SS 1995 (Acad)

Mittwoch, 21. Mai 2025

Die Italiener haben viele Worte für "Traube" ...

...  die Amischen für "Buggy",
... die Inuit für "Schnee"
- Wie sich die Lebens- und Denkwelt der Völker in ihrer Sprache wiederspiegelt

Die Inuit haben vier Wörter für das Wortfeld "Schnee" (ScAm2025) und einige für das Wortfeld "See-Eis" (1), Hindi hat viele Wörter für das Wortfeld "Liebe". Ob es sich bei diesen Aussagen nur um Vorurteile handelt, ist in einer neuen Studie durch quantitative Auswertung von Wörterbüchern untersucht worden. Die Ergebnisse können auch in einem frei zugänglichen "Lexical Elaboration Explorer" (LEE) besichtigt werden.

Abb. 1: Die Pennsylvania-Deutschen hatten viele Worte für "Bugy" - Hier ein amischer Buggy auf einem Feldweg in Holmes County, Ohio, nahe des Wallnuß-Baches (Fotografie von Carol M. Highsmith, 2016) (Garystock)

Welch immense Auswirkung die muttersprachliche Prägung auf die Wahrnehmung der Welt und der sozialen Beziehungen hat, ist in Wahrnehmungsstudien festgestellt worden, etwa an englischsprachigen, fünf Monate alten Kindern. Diese nehmen räumliche Konzepte, die nur im Koreanischen hervor gehoben werden, noch wahr, was zwar erwachsene Engländer nicht mehr tun, erwachsene Koreaner aber schon (2, 3). Das heißt, daß erwachsene Engländer eine andere muttersprachliche Prägung ihrer räumlichen Wahrnehmung aufweisen als erwachsene Koreaner.

Gegenüber diesem Forschungsergebnis, das schon 2004 gewonnen worden ist, ist eine aktuelle Annäherung an dasselbe Phänomen über die Erforschung der unterschiedlichen Größe von Wortfeldern in einzelnen Sprachen eine Annäherung an ähnliche Phänomen aus anderer Richtung und auf weniger grundsätzlicher Ebene (1).   

Mittelalterliche europäische Sprachen

Im mittelalterlichen Deutschen (Mittelhochdeutsch) werden von dem neuen "Lexical Elaboration Explorer" (LEE) die Wortfelder mit den meisten Worten angeführt von den folgenden Wortfeldern, bzw. Konzepten: Witz, Glanz, Kampf, Bewaffnung, Helm. Ähnliches gilt für Altenglisch und Altfranzösisch. Man fühlt sich bei solchen Konzepten und Wortfeldern - natürlich - an die Welt des Nibelungenliedes und an ähnliche Dichtungen erinnert. Das sind ja auch die Sprachdokumente, aus denen die analysierten Wörterbücher destilliert worden sind!

Bei den Wortfeldern mit den meisten Worten noch im heutigen Isländischen fühlt man sich aber ebenso oft an die isländische Saga-Welt aus dem Mittelalter erinnert. Diese wirkt also noch nach, obwohl hier die Wörterbücher nicht vornehmlich aus mittelalterlichen Dichtungen abgeleitet worden sind: Spitzname, Vers, Qual, Wundheilung, Waffenstillstand, Totschlag, Metapher, Zauberer, Riese, Schreiber, Geächteter sind hier die Konzepte, bzw. Wortfelder mit den meisten Worten.

Noch im heutigen Italienischen geht es sehr viel um bäuerliche Nahrungsmittel: Traube, Kastanie, Heuraufe, Käse, Wein sind die Konzepte, bzw. Wortfelder mit den meisten Begriffen.

Für das Lettische wird als Wortfeld mit den meisten Begriffen angeführt "Birke", für das Litauische "Duckmäuser".

Für die Sprache der Samoaner: Lava, Taro, Einsamkeit, Brotfrucht, Dach, Kanu, Häuptling, Taube. Auch hier spiegelt sich die traditionelle Lebenswelt und Lebensweise der Samoaner wieder.

Neuzeitliche europäische Sprachen

Im "Pennsylvania-Dutch" werden folgende Konzepte/Wortfelder als jene mit den meisten Begriffen angeführt: Buggy (s. Abb. 1), Scheune, Prediger, Apfelwein, Wagen, Kirsche. Auch in dieser Auswahl spiegelt sich - offensichtlich - die traditionelle Lebensweise der Deutschen in Pennsylvania wieder, die zu großen Teilen Mennoniten waren, und von denen die heutigen deutschsprachigen Amischen sprachlich und kulturell als solche in den USA fortexistieren.

Die modernen Deutschen nun sollen - merkwürdigerweise - vor allem viele Wörter haben für das Wortfeld "Kaminsims" (engl. "Mantel"). Das mutet reichlich merkwürdig an und hier scheint uns doch irgendetwas schief gelaufen, fehlerhaft zu sein. Außerdem sollen die modernen Deutschen Rekordhalter sein für Wortfelder wie: Stufe, Stiefel, Stall, Lehrer, Schnürsenkel, Entwurf, Rechnung, Humor, Tonne, Bad. Was auch immer man aus diesem Forschungsergebnis ableiten möchte!!

Jüdische Sprachen

Eindeutiger sind die Ergebnisse dann schon wieder für die jüdischen Sprachen und Dialekte. Hier finden sich viele Worte für das Konzept/Wortfeld "Synagoge", am meisten im Jüdisch-babylonischen Aramäischen (Wiki), dann im Judeo-Jemenischen Arabisch (Wiki), dann im Ladino (Judäo-Spanisch) (Wiki) der sephardischen Juden, dann im Ostjiddischen (Wiki) und im Modernen Hebräisch (Wiki) der aschkenasischen Juden. All das mutet nachvollziehbar und einsichtig an. 

Das moderne Hebräisch hat noch mehr Wörter für "Rabbi", gefolgt vom Ostjiddischen (beides aschkenasische Juden).

Auffällig und auch nachvollziehbar mag auch sein, daß im Modernen Hebräisch ebenso wie im Ladino der sephardischen Juden offenbar fast alle jene Konzepte/Wortfelder, die die meisten synonymen Begriffe aufweisen, im Zusammenhang mit religiösem Kontext stehen: captivity, desolation, terror, atonment (Sühne), redemption (Erlösung) und so weiter.

Im Ostjiddischen der aschkenasischen Juden kommen interessanterweise Wortfelder hinzu wie "Paranthese" (was in der Rhetorik eine größere Rolle spielt). Außerdem Wortfelder/Konzepte wie "fun", "holiday" oder "polish".

Im Judeo-Jemenischen Arabisch spielen auch Wortfelder offenbar aus dem außerreligiösen Lebensalltag eine Rolle wie: "land", "baking", "fodder", "camel", "oven" etc..

Insgesamt läßt sich also wohl als eine erste Schlußfolgerung ableiten, daß jene Bereiche, mit denen die Menschen in einer Sprachgemeinschaft besonders viel beschäftigt sind, worüber sie viel reden, was ihnen wichtig ist, auch besonders viele Worte aufweisen. Im Jüdischen ist es der religiöse Bereich, in den mittelalterlichen europäischen Sprachen ist es unter anderem das Rittertum/Kriegertum, in vielen bäuerlichen Völkern sind es Worte aus der bäuerlichen Lebenswelt.

Ein Wechsel der Lebenswelt - wie er durch einen Epochenwechsel wie den vom Mittelalter zur Neuzeit markiert wird - kann auch einen Wandel der meist benutzten Worte mit sich bringen - muß dies aber nicht. All das ist einsichtig und nachvollziehbar. 

Aber vielleicht werden aus solchen Forschungen künftig noch weitergehende Schlußfolgerungen abgeleitet werden können.

Für tieferliegende muttersprachliche Prägungen zum Beispiel der Wahrnehmung der räumlichen Umwelt oder der sozialen Umwelt werden allerdings noch ganz andere sprachliche Zusammenhänge eine Rolle spielen als es durch die Größe der Wortfelder in einer jeweiligen Sprache erforscht werden kann. 

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  1. T. Khishigsuren,T. Regier,E. Vylomova,& C. Kemp,  A computational analysis of lexical elaboration across languages, Proc. Natl. Acad. Sci. U.S.A. 122 (15) e2417304122, https://doi.org/10.1073/pnas.2417304122 (2025). (Preprint)
  2. Hespos, Susan J., and Elizabeth S. Spelke: Conceptual precursors to language. In: Nature (2004): 453-456 (Resg)
  3. Osterkamp, Jan: Erst denken, dann sprechen - Sprachentwicklung. In: Spektrum d. Wiss., 21.7.2004 (Spektrum2004)

Sonntag, 18. Mai 2025

Der älteste, bekannte Glockenbecher-Mann lebte bei Soissons in Nordfrankreich

Entstand die Glockenbecher-Kultur im Aisne-Tal oder in Flandern (2.500 v. Ztr.)

Der bislang älteste, bekannte Glockenbecher-Mann lebte 115 Kilometer nordöstlich des heutigen Paris in der Nähe des heutigen Soissons (GMaps), so eine im März 2025 veröffentlichte Studie aus dem Labor von Eske Willerslev in Dänemark (1) (s. Stg3/25). Die Glockenbecher-Kultur ist autochthon am Niederrhein entstanden, so eine im Mai 2025 veröffentlichte Studie aus dem Labor von David Reich in den USA (Stg5/25). Also wo nun? Diese Frage treibt uns um. 

Abb. 1: Im Jahr 2023 vorliegende archäogenetische Daten zur Glockenbecher-Kultur - Nordfrankreich als weißer Fleck (aus: 4)

Schon 2023 vermutete man die Urheimat der Glockenbecher-Kultur in Nordfrankreich, allerdings gab es damals aus dieser Region noch keine archäogenetischen Daten (s. Abb. 1) (aus: 4). Die genannten neuen Veröffentlichungen ändern diese Situation - zumindest ein wenig.

Allerdings muß von Seiten eines Laien immer noch ein bisschen wild gesucht werden, bis er alle verfügbaren Daten über den in der Literatur erwähnten Fund und seine Örtlichkeit zusammen hat - über das bis dato offenbar älteste, bekannte Glockenbecher-Grab (1-3).

Im Text der Studie (1) ist als Alter angegeben "4463" (vor heute). Mit diesem Suchwort finden wir in den Datenanhängen der Studie das folgendermaßen gekennzeichnete Individuum (1):

"CBV95.brunel_2020_pnas | La Bouche−−Vesle | France_Neolithic_Campaniforme | R1b | 4463"

Der hier angegebene Fundort „La Bouche à Vesle“ führt zunächst nicht weiter, da es sich bloß um die Bezeichnung eines Flurstückes handelt (wie wir später erfahren). Und solche finden sich bekanntlich nicht auf Google Maps. Aber man hätte den Ortsnamen ja auch einmal einfach übersetzen können, er lautet "Die Mündung der Vesle", also Mündung des Flusses Vesle (in die Aisne). Daß es so einfach sein könnte, wird uns erst später klar. Schließlich führt die Angabe "brunel_2020_pnas" weiter. Es ist dies nämlich die Studie, in der die archäogenetischen Daten dieses Fundes zum ersten mal veröffentlicht worden sind (2), und zwar unter der Kennzeichnung "CBV95".

Der frühste Glockenbecher-Fund im Aisne-Tal (2.500 v. Ztr.)

Über das Suchwort „La Bouche à Vesle“ fand sich zumindest zunächst einmal ein Bericht der französischen Denkmalbehörde über die diesbezügliche Ausgrabung (Neolitiqueblog2016):

Im Dorf Ciry-Salsogne auf dem Flurstück „La Bouche à Vesle“ wurde eine auf etwa 2.574/2.452 v. Ztr. datierte Einzelbestattung aus der Glockenbecher-Kultur entdeckt. (...) Bei dem Verstorbenen handelt es sich um einen jungen, erwachsenen Mann im Alter von 20 bis 22 Jahren. Ihm ist ein für die damalige Zeit typischer Becher, ein Feuerstein-Messer und ein Hirschgeweihobjekt beigegeben worden (ein langes, bogenförmiges Daubensegment). Der Feuersteindolch wurde links vom Verstorbenen abgelegt; gemessen an der Stumpfheit seiner Kante und der sekundären Retusche ist er sehr häufig verwendet worden.

Das Flurstück liegt also an der Mündung der Vesle in die Aisne. Die Vesle kommt von Reims her, der Stadt, die fünfzig Kilometer weiter östlich liegt. An ihrer durch die beiden Flußläufe geschützten Mündung fanden die Archäologen eine Siedlung aus der späten Hallstatt-Zeit. Sie bestand aus mindestens 16 Gebäuden, umgeben von einer Palisade (AdlFI1999). Unabhängig von diesen Funden wurde dann hier auch das 2000 Jahre ältere, bis dato älteste Grab der Glockenbecher-Kultur entdeckt. 

Abb. 2: Ein 15 cm hoher Becher als Beigabe - Aus dem bis dato ältesten Glockenbecher-Grab weltweit im Aisne-Tal (aus: Neolitiqueblog2016)

In der archäologischen Studie, in der dieser Fund 2011 veröffentlicht wurde, heißt es (3): 

Im Jahr 2000 wurde ein Grab aus der Glockenbecherzeit entdeckt im nördlichen Teil des Dorfes Ciry-Salsogne im Aisne-Tal rund ein Dutzend Kilometer östlich der Stadt Soissons. Das Flurstück „La Bouche à Vesle“ liegt an der Vesle, in der Nähe der Mündung in die Aisne. Das untersuchte Flurstück (30 ha) besteht insgesamt aus einer ebene Fläche mit kiesigem Untergrund, geeignet für menschliche Besiedlung. Durch jüngste und frühere archäologische Eingriffe wurden zahlreiche Strukturen sowohl aus der Frühgeschichte als auch aus der Geschichte freigelegt (Desenne et al., 2000). Eine Rodung auf zwei Hektar ergab nun dieses isolierte Grab (Struktur 95) inmitten von Strukturen aus der Bronze- und Latènezeit. In der Umgebung wurden sonst keine Strukturen, Außenbestattungen oder anderen Bestattungen entdeckt (Desenne et al., 2000). (...) Eine Datierung durch das Groninger Labor ergab für dieses Grab eine Zeitstellung von 2574-2452 v. Ztr..

Die Veröffentlichung der archäogenetischen Daten zu diesem 20-jährigen Mann der Glockenbecher-Kultur erfolgte dann im Jahr 2020 (2) (Abb. 3, 4). 

Abb. 3: "CBV95" - Das bislang älteste, bekannte Glockenbecher-Individuum, das sich nahe von Soissons in Nordfrankreich fand, hatte offenbar ausschließlich Steppenherkunft (aus 2)

In der Studie heißt es (2):

Wir präsentieren zwei mit der Glockenbecherkultur assoziierte Individuen (CBV95 und PEI2), die wir zusammen mit bereits beschriebenen zeitgenössischen Individuen aus Europa, einschließlich Frankreich, analysiert haben (10). Mit der Glockenbecherkultur assoziierte französische Individuen weisen ein breites Spektrum an Steppenabstammungsanteilen auf (Abb. 1C und 2D). CBV95 in Nordfrankreich weist in unserem Datensatz den höchsten Anteil an Allelen der Jamnaja-Kultur auf und gehört zur Y-Chromosom-Haplogruppe R1b (Abb. 1C und 2D und SI-Anhang, Abb. S4-5), was den frühesten klaren Beweis für die Präsenz dieser Haplogruppe in Frankreich um 2500 v. Ztr. darstellt (Datensatz S10). Diese Linie wurde mit der Ankunft von Migranten aus der Steppe in Mitteleuropa während des Spätneolithikums in Verbindung gebracht und wurde in anderen Teilen Europas und bei mit der Glockenbecherkultur assoziierten Individuen aus Südfrankreich beschrieben, während sie auf der Iberischen Halbinsel vor der Bronzezeit fast nicht vorhanden war (10, 13).
We report two Bell Beaker-associated individuals (CBV95 and PEI2), that we coanalyzed with previously reported contemporaneous individuals from Europe, including France (10). French Beaker-associated individuals display a wide range of steppe-ancestry proportions (Figs. 1C and 2D). CBV95 in northern France derives the highest proportion of alleles from the Yamnaya in our dataset, and belongs to Y-chromosome haplogroup R1b (Figs. 1C and 2D and SI Appendix, Fig. S4-5), providing the earliest clear evidence of the presence of this haplogroup in France around 2500 BCE (Dataset S10). This lineage was associated with the arrival of migrants from the steppe in central Europe during the Late Neolithic, and was described in other parts of Europe and in Bell Beaker-associated individuals from southern France, while being almost absent in Iberia prior to the Bronze Age (10, 13).

Es wird dann noch die Angabe gemacht (1):

Vermischungsmodelle erbrachten überraschenderweise Villabruna nicht als Herkunftsanteil für CBV95 oder PEI2, was sich von bisher bekannten Individuen aus der Jungsteinzeit unterscheidet.
Surprisingly, the admixture model did not include Villabruna as an ancestry source for either CBV95 or PEI2, which differs from previously known Late Neolithic individuals.

Für CBV95 wollen wir das gelten lassen. Aber diese Aussage kontrastiert ja doch mit den Ergebnissen aus dem David Reich-Labor, wonach die westeuropäische Jäger-Sammler-Herkunft konstitutiv für die Ethnogenese der Glockenbecher-Kultur gewesen sein soll (Stg5/25). Wie auch immer sich dieser Widerspruch auflösen wird!*) Wenn es im Aisne-Tal um 2.500 v. Ztr. noch Menschen mit reiner Jamnaja-Genetik gab, obwohl sich die Schnurkeramik-Leute in Europa seit 500 Jahren mit Einheimischen vermischt hatten, sollte dieser Umstand auch auf eine genetisch sehr konservativ gebliebene indogermanische Bevölkerung im Aisne-Tal verweisen.

In einer weiteren der Studie beigegebenen Grafik wird "CBV95" dann als Ausgangspunkt gewählt der europaweiten Glockenbecher-Ausbreitung (Abb. 4): Ihm stehen genetisch zunächst Glockenbecher-Individuen, die in Deutschland und Großbritannien gefunden wurden, am nächsten. 

Abb. 4: Die Vermischung der Glockenbecher-Leute während ihrer Ausbreitung über Europa - CBV96 steht dem Ursprung am nächsten (aus: 1) ("D statistics of the form D(Mbuti, Test; Yamnaya_Samara, Anatolia_Neolithic) for individuals associated with the Bell Beaker cultural complex")

Glockenbecher-Individuen, die auf der iberischen Halbinsel gefunden wurden, sind genetisch weiter von ihm entfernt. Die unterschiedliche genetische Nähe ergibt sich wohl jeweils vor allem aufgrund der Vermischung mit jeweils einheimischen Vorbevölkerungen.

Ein Fürstensitz der Michelsberger Kultur im Vesle-Tal in Nordfrankreich (4.200 v. Ztr.)

Das Aisne-Tal in Nordfrankreich und das Tal des Vesle, die von Süden kommend in die Aisne mündet, werden seit vielen Jahren archäologisch erforscht. Ein regionales Zentrum der Michelsberger Kultur aus der Zeit um 4.200 v. Ztr. fand sich nahe Jonchery-sur-Vesles, 30 Kilometer von der Mündung der Vesle flußaufwärts entfernt (Neolitiqueblog2016):

Die bedeutendste Stätte aus dem Mittelneolithikum ist die von Jonchery-sur-Vesles (Michelsberg-Kultur, etwa 4.200 v. Ztr.). Ihre Ausgrabung wurde 2003 abgeschlossen. Es handelt sich bei ihr um eine Einfriedung mit einer Innenfläche von 5 Hektar. Diese besteht aus 4 bis 5 konzentrischen Gräben (also 3.500 Meter Gräben) mit einer oder mit zwei inneren Palisaden (also 1.500 Meter Palisaden, für die 600 Bäume gefällt werden mußten). Die archäologischen Funde sind bedeutsam (sie betragen 1 Tonne Keramik!) und sie zeugen von einem Ort mit einem bestimmten Zweck, vielleicht für zeremonielle Zwecke oder um die umliegenden Dorfgemeinschaften zusammenzubringen (Markt?). Neben dieser Fundstelle wurden für das Mittelneolithikum rund zwanzig weitere Fundstellen identifiziert.

Es dürfte sich um einen Fürstensitz am Westrand der Michelsberger Kultur (4.400 bis 3.500 v. Ztr) (Wiki) gehandelt haben, deren Volk sich von Ostbayern bis Nordfrankreich ausgebreitet hatte, und die dann von der Wartberg- und der Trichterbecher-Kultur abgelöst wurde. Rund um diese Ortschaft wurden Megalithgräber angelegt und genutzt zum Spätneolithikum, so daß auch das älteste Glockenbecher-Individuum an der Mündung der Vesle in Zusammenhang mit diesem kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Zentrum gestanden haben kann. Bekanntlich haben sich ja die Schnurkeramiker schon 500 Jahre vorher im Weichselraum mit ihren Herden in den Randbereichen der Ackerbauern-Siedlungen aufgehalten (ebenso zeitgleich die Indogermanen in Anatolien, die Kura-Araxes-Kultur). 

Die Gegend bei Soissons - Ort von Entscheidungsschlachten des Ersten Weltkrieges

Die Gegend um Soissons weist eine reiche Geschichte auf (Wiki), schon in der Zeit der Gallischen Kriege des Julius Caesar. Der Zeithistoriker denkt vor allem an das Geschehen des Ersten Weltkrieges in dieser Region. Die Deutschen hatten sich im September 1914 entsprechend des Schlieffen-Planes im vollen Siegeslauf auf Paris befunden. Sie hatten nur noch wenig Gegenwehr vorgefunden, als sie überraschend hinter Soissons, hinter die Vesle und hinter Reims zurück gingen. Dies war ein Vorgang, der unter der Bezeichnung "Wunder an der Marne" in die Geschichte einging (Wiki), und der sich in der Zeit zwischen dem 9. und 13. September 1914 vollzog (s. Abb. 5). 

Eine entscheidende Rolle bei der Verwirklichung dieses "Wunders" spielte ein Oberstleutnant Richard Hentsch, der als Abgesandter des von Rudolf Steiner okkult beratenen deutschen Generalstabschefs Hellmuth von Moltke zwischen den Hauptquartieren der vormarschierenden deutschen Armeen wechselte und der der jeweils nächsten Armee, zu der er kam, von einer angeblich sehr pessimistischen Sicht auf die Lage berichtete auf Seiten jener Armee, von der er gerade kam. Diese pessimistische Sicht hatte bei dieser aber gar nicht vorgelegen. Da nun plötzlich jede der vormarschierenden Armeen befürchtete, vom Gegner auf den Flügeln angegriffen und umfaßt zu werden, gingen alle vormarschierenden Armeen nun ziemlich gleichzeitig zurück. Ein ziemlich "verrückter" Vorgang. 

Abb. 5: Das Wunder an der Marne im September 1914

Erneut trat diese Regionen in den Mittelpunkt des Geschehens unter anderem im entscheidenden, letzten Jahr des Ersten Weltkrieges, im Jahr 1918. Mit einer gewaltigen deutschen Frühjahrsoffensive (Wiki) wollte der deutsche General Erich Ludendorff (1865-1937), der Sieger der Schlacht von Tannenberg in Ostpreußen im Jahr 1914, noch einmal die Lage zugunsten des Deutschen Reiches wenden. Die Deutschen erreichten unter seiner Führung an der Westfront auch den größten Geländegewinn seit 1914, jedoch nicht den heiß erstrebten Durchbruch nach Paris. Die erste Phase dieser Schlacht dauerte vom 21. März bis 5. April 1918. Die Deutschen waren in dieser etwas weiter nördlich von St. Quentin bis kurz vor Amiens durchgestoßen. Die zweite Phase dieser Schlacht spielte sich erneut rund um Soissons und um die Täler der Aisne und der Vesle ab. Vom 27. Mai bis zum 6. Juni griffen die Deutschen auf der Front von Reims an westwärts gen Süden an. Sie eroberten Soissons und den gesamten Flußlauf der Vesle von Reims abwärts, und zwar ein zweites mal seit 1914. Sie stießen bis Chauteaux Thierry und bis zum Wald von Villers-Cotterêts durch (Wiki). Entsprechend dieses Kriegsverlaufs heißt es über Soissons auch (Wiki):

Im Ersten Weltkrieg (1914-1918) wurde die Stadt zweimal von deutschen Truppen besetzt und durch Artilleriefeuer von beiden Seiten zu drei Vierteln zerstört. 

Über das Jahr 1914 heißt es (Wiki):

Am 13. September griffen die Zuaven und Schützen von General Quiquandon den „Hügel 132“ an, der Soissons im Norden überblickt, jedoch ohne Erfolg. Nach den Angriffen am 14., 17., 23. und 30. September gelang es den Angreifern nicht, die Verteidiger zu vertreiben, die sich in diesen von Senken durchzogenen Hügeln eingegraben hatten und die sich zu hervorragenden Beobachtungsposten und Stellungen für die Bombardierung von Soissons entwickelten. (...) Die fortschreitende Zerstörung der Stadt veranlaßte das französische Kommando Anfang Januar 1915 zu einem Angriff, um die Stadt zu befreien. Es ist die Schlacht von Crouy. Am 8. Januar griffen ein Bataillon Jäger und ein Bataillon marokkanischer Schützen mit Unterstützung der 55. Division an und es gelang ihnen, auf dem „Sporn 132“ Fuß zu fassen. Die Front stabilisierte sich nördlich der Stadt, die bis 1917 schwer bombardiert wurde. 
Henri Barbusse schrieb dort "Le Feu".
Während der Meutereien von 1917 marschierten Soldaten durch die Stadt, die sich nach der verheerenden Offensive am Chemin des Dames geweigert hatten, an die Front zu gehen. (...)
29. Mai 1918: Die marokkanische Division und das Marschregiment der Fremdenlegion werden per Lastwagen in den Westen des gerade in Feindeshand gefallenen Soissons transportiert. Ziel war es, seinen Vormarsch in Richtung Villers-Cotterêts zu blockieren, indem man Stellung auf der Montagne de Paris einnahmen. Der Angriff begann am frühen Morgen nach einem kurzen, aber heftigen Artilleriefeuer. Der zahlenmäßig deutlich überlegene Feind konnte in den Stellungen der Legion Fuß fassen. Die Legionäre waren gezwungen, ihre Munition zu schonen, und verloren in den zweitägigen Kämpfen 47 Mann, 219 wurden verwundet und 70 wurden vermißt. Dennoch gelang es dem Marschregiment der Fremdenlegion, seine Stellungen zu halten und den deutschen Vormarsch in seinem Abschnitt zu blockieren.

Soweit nur ein kurzer Ausschnitt aus diesem dramatischen Geschehen, der natürlich beliebig erweitert werden könnte (s.a. Abb. 6).

Soldatenfriedhof Soupir an der Asine

Elf Kilometer westlich der Mündung der Vesle in die Aisne wurde der deutsche Soldatenfriedhof Soupir angelegt. Auf ihm liegen (Volksbund) ...

... mehr als 11.000 Gefallene aus den Gefechten, die vom September 1914 bis zum Oktober 1918 tobten. Allein 5.955 Tote ruhen in einem Gemeinschaftsgrab.

Daneben ist ein französischer Soldatenfriedhof angelegt worden. Auf ihm liegen (Volksbund... 

7.236 französische Soldaten aus den Schlachten des Ersten Weltkrieges zwischen Soissons und Reims, an der Aisne, der Vesle und der Marne sowie um den Chemin-des-Dames.

Die meisten der hier bestatteten Soldaten werden, sofern sie nicht allein germanischer Herkunft aus Norddeutschland waren, zu größeren Teilen auch jene Glockenbecher-Herkunft in sich getragen haben, die womöglich genau in dieser Region an der Aisne - oder weiter nördlich bis hoch nach Flandern - entstanden ist.

Abb. 6: Landschafts- und Geschichtseindruck - Der Fluß Aisne - "Französischer Angriff auf die deutschen Stellungen im Norden der Aisne - April und Mai 1917" - Gemalt von François Flameng 1917 (Wiki

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*) Jedenfalls steht diese Angabe auch in Widerspruch zu Angaben im sonstigen Internet über die Herkunftszusammensetzung dieses Individuums (nach ExploreyourDNA):

73.15 % Yamnaya_RUS_Samara (Jamnaja-Steppenhirten)
16.60 % TUR_Barcin_N (anatolisch-neolithische Bauern)
10.25 % WHG (westeuropäische Jäger und Sammler)

Eine andere Aufschlüsslung der Herkunft von CBV95 (dnagenetics), wonach er 42 % westeuropäische Jäger-Sammler-Herkunft gehabt hätte, ist dann noch weniger nachvollziehbar (s.a. umap). 

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  1. Tracing the Spread of Celtic Languages using Ancient Genomics. Hugh McColl, Guus Kroonen, Thomaz Pinotti, John Koch, Johan Ling, Jean-Paul Demoule, Kristian Kristiansen, Martin Sikora and Eske Willerslev (bioRxiv. posted 1 March 2025) 10.1101/2025.02.28.640770
  2. S. Brunel,E.A. Bennett,L. Cardin,D. Garraud,H. Barrand Emam,A. Beylier,B. Boulestin,F. Chenal,E. Ciesielski,F. Convertini,B. Dedet,S. Desbrosse-Degobertiere,S. Desenne,J. Dubouloz,H. Duday,G. Escalon,V. Fabre,E. Gailledrat,M. Gandelin,[...]& M. Pruvost,  Ancient genomes from present-day France unveil 7,000 years of its demographic history, Proc. Natl. Acad. Sci. U.S.A. 117 (23) 12791-12798, https://doi.org/10.1073/pnas.1918034117 (2020). (PNAS2020)
  3. Lamys Hachem, Pierre Allard, Fabien Convertini, Bruno Robert, Laure Salanova, et al.. La sépulture campaniforme de Ciry-Salsogne ” La Bouche à Vesle ” (Aisne). In: Laure Salanova & Yaramila Tchérémissinoff (Hg): Les sépultures individuelles campaniformes en France, CNRS Editions, pp.21-35, 2011, Gallia Préhistoire. Supplément; 41, 978-2-271-07124-8. ffhalshs-00654008
  4. Ian Armit: A sea change? Mobility, Genetics and the Beaker Complex in Britain. The Transformation of Europe in the Third Millennium BC. International Conference on the Third Millennium BC archaeology in Europe. Riva del Garda, Trento, Italy, 25-28 October 2023 (Yt)

Donnerstag, 15. Mai 2025

Ein sehr konservatives Volk an der Nordsee-Küste macht Revolution (2.400 v. Ztr.)

Eine sehr konservative Genetik und Kultur in den Küstenregionen der Nordsee 
- Sie wird Ausgangspunkt für die Ethnogenese der italo-keltischen Völkergruppe, bzw. der Glockenbecherkultur

Wir hatten gerade im März erst völlig neue Erkenntnisse über die Entstehung und Geschichte der keltischen und italischen Völker in Europa behandelt (Stg25). Es geschah das unter dem Titel "Bollwerk Germanien", um deutlich zu machen, daß diese keltischen und italischen Völker mehrfach ohne langfristigen Erfolg versuchten, nach Skandinavien einzudringen, wodurch sich in Skandinavien eine vergleichsweise "konservative" Völkergruppe erhielt, nämlich die germanische.

Abb. 1: Hoher verbliebener Jäger-Sammler-Herkunftsanteil an der Nordseeküste zwischen Weser, Weserbergland und Schelde zwischen 4.500 und 2.500 v. Ztr. (aus 1) - Ausgangspunkt für die Ethnogenese der Glockenbecher-Kultur (!) 

In einer neuen archäogenetischen Studie wird nun auf die Bedeutung eines anderen genetisch sehr konservativen Volkes an der Nordseeküste hingewiesen. Nämlich auf einen lange Zeit nachwirkenden, ungewöhnlich hohen Jäger-Sammler-Anteil in den neolithischen und frühbronzezeitlichen Kulturen zwischen Weser, Weserbergland und Schelde (1) (s. Abb. 1).

Nordhessen einerseits, die Niederlande und Flandern andererseits

Fast zeitgleich zur hier zu behandelnden archäogenetischen Studie zu den Niederlanden und Flandern erscheint eine weitere, die einen ähnlich konservativen, hohen Jäger-Sammler-Anteil aufzeigt für die benachbarten Regionen in Nordhessen und Südniedersachsen. Nämlich für die dortige Wartberg-Kultur (3.500-2.800 v. Ztr.) (Wiki) und die dortige Westliche Trichterbecher-Kultur (4.300-2.800 v. Ztr.) (Wiki) (2), und zwar in Menschen, die in dortigen, zum Teil berühmten Galerie- und Megalithgräbern bestattet worden waren. Zum Beispiel im berühmten Galeriegrab von Züschen in Nordhessen, in dem es eines der ältesten Wagendarstellungen der Weltgeschichte gibt. 

Es wird all dies aufgezeigt anhand der Analyse von 129 Genomen, die aus Skeletten gewonnen werden konnten von den Fundorten in Altendorf, Niedertiefenbach, Rimbeck, Warburg und Züschen (alle der Wartberg-Kultur in Nordhessen/Westfalen zugehörig), sowie von dem Fundort Sorsum (im südlichen Niedersachsen, der Westlichen Trichterbecher-Kultur zugehörig). Die Genome all dieser Menschen wiesen genetisch einen hohen westeuropäischen Jäger-Sammler-Anteil auf, nämlich zwischen 25 und 50 %, im Durchschnitt 35 %.

Außerdem aber wird in dieser archäogenetischen Nordhessen-Studie Eliten-Verwandtschaft aufgezeigt rund um die genannten Großsteingräber, und zwar zum Teil über mehr als 200 Kilometer hinweg (2). Wir haben es hier mit einer ähnlichen Erscheinung zu tun, wie sie 2020 schon für die berühmtesten Megalithgräber in Irland aufgezeigt worden war (Stg20), wodurch staatliche Strukturen, "Großreiche" in Nordeuropa schon für das Mittelneolithikum immer wahrscheinlicher werden.

Aber mehr noch: die in diesen Galerie-Gräbern repräsentierten mittelneolithischen Fürstentümer und Königreiche in der norddeutschen Tiefebene und an der Nordseeküste scheinen nun das Kerngebiet der Ethnogenese der Glockenbecher-Kultur ab 2.460 v. Ztr. gewesen zu sein oder diesem Kerngebiet räumlich, genetisch und kulturell sehr nahe gestanden zu haben (1). Zunächst lesen wir von (1) ...

... der Region rund um das Rhein-Maas-Gebiet in Gemeinschaften in den Feuchtgebieten, Flußgebieten und Küstengebieten der westlichen und zentralen Niederlande, Belgiens und Westdeutschlands, wo wir genomweite Daten für 109 Menschen zwischen 8500 und 1700 v. Ztr. zusammentrugen. Hier überlebte eine besondere Population mit hohem Jäger- und Sammleranteil (∼50 %) bis zu dreitausend Jahre länger als in kontinentaleuropäischen Regionen, was auf die begrenzte Eingliederung von Frauen früheuropäischer Bauernabstammung in die lokalen Gemeinschaften hindeutet. In den westlichen Niederlanden war auch die Ankunft des Schnurkeramik-Komplexes außergewöhnlich: Tieflandbewohner aus Siedlungen, die Schnurkeramik übernahmen, hatten trotz eines charakteristischen Y-Chromosoms der frühen Schnurkeramik kaum Steppenvorfahren. Der begrenzte Zustrom könnte die einzigartige Ökologie der flußdominierten Landschaften der Region widerspiegeln, die sich nicht für die flächendeckende Übernahme des frühneolithischen Landwirtschaftstyps eigneten, der mit der Linearbandkeramik eingeführt wurde. Dadurch konnten bereits etablierte Gruppen gedeihen und eine dauerhafte, aber durchlässige Grenze geschaffen werden, die Ideentransfer und Genfluß auf niedriger Ebene ermöglichte. Dies änderte sich mit der Entstehung durch Vermischung von Bevölkerungen der Glockenbecherzeit um 2500 v. Ztr. durch die Verschmelzung lokaler Rhein-Maas-Bevölkerung (9-17 %) und mit der Schnurkeramik assoziierter Migranten beiderlei Geschlechts. Ihre Ausbreitung aus der Rhein-Maas-Region hatte dann zerstörerische Auswirkungen auf einen viel größeren Teil Nordwesteuropas, einschließlich Großbritannien, wo ihre Ankunft die Hauptursache für eine 90-100-prozentige Verdrängung der lokalen neolithischen Bevölkerung war.
... the wider Rhine-Meuse area in communities in the wetlands, riverine areas, and coastal areas of the western and central Netherlands, Belgium and western Germany, where we assembled genome-wide data for 109 people 8500-1700 BCE. Here, a distinctive population with high hunter-gatherer ancestry (∼50%) persisted up to three thousand years later than in continental European regions, reflecting limited incorporation of females of Early European Farmer ancestry into local communities. In the western Netherlands, the arrival of the Corded Ware complex was also exceptional: lowland individuals from settlements adopting Corded Ware pottery had hardly any steppe ancestry, despite a characteristic early Corded Ware Y-chromosome. The limited influx may reflect the unique ecology of the region’s river-dominated landscapes, which were not amenable to wholesale adoption of the early Neolithic type of farming introduced by Linearbandkeramik, making it possible for previously established groups to thrive, and creating a persistent but permeable boundary that allowed transfer of ideas and low-level gene flow. This changed with the formation-through-mixture of Bell Beaker using populations ∼2500 BCE by fusion of local Rhine-Meuse people (9-17%) and Corded Ware associated migrants of both sexes. Their expansion from the Rhine-Meuse region then had a disruptive impact across a much wider part of northwest Europe, including Britain where its arrival was the main source of a 90-100% replacement of local Neolithic peoples.

Der Hauptkomponenten-Analyse für die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den neolithischen und bronzezeitlichen Bevölkerungen im Rhein-Maas-Gebiet entnehmen wir, daß es dort mit jeder neuen archäologischen Kultur während des Neolithikums zu einem weiteren Vermischungsschub kam (Abb. 2). 

Abb. 2: Hauptkomponenten-Analyse für die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den neolithischen und bronzezeitlichen Bevölkerungen im Rhein-Maas-Gebiet (aus 2)

Wir haben zunächst Menschen mit 100 % westeuropäischem Jäger- und Sammler-Anteil (Abb. 2: gelb). Mit der dortigen Swifterbant-Kultur (Wiki), die parallel zur bandkeramischen Kultur entstand, kam es zu Vermischungen mit Menschen der bandkeramischen Kultur, und zwar in recht unterschiedlichen Anteilen (Abb. 2: dunkelblau). Die mittel- und spätneolithische Wartberg-Kultur weist dann Herkunftsanteile auf wie oben schon anhand (2) wiedergegeben (Abb. 2: hellblau).

Auf Baltrum waren die Menschen genetisch noch "konservativer"

Wir lesen außerdem über genetisch noch "konservativere" Menschen in der Blätterhöhle in Westfalen und auf der schönen Nordseeinsel Baltrum (1):

Zu den seltenen Ausnahmen zählen ein Individuum aus dem Mittelneolithikum von der Insel Baltrum (BLR001) und ein veröffentlichtes Individuum aus der Blätterhöhle (I1565), beide mit einer Abstammung von >75 % von Jägern und Sammlern, sowie einige mit der Wartberg-Kultur in Zusammenhang stehende Individuen mit einem WHG-Abstammungsanteil von nur 25 %.
Rare exceptions include one Middle Neolithic individual from the island of Baltrum (BLR001) and one published individual from the Blätterhöhle cave (I1565), both with >75% hunter- gatherer ancestry, and also some Wartberg-associated individuals with a range of WHG ancestry reaching as low as 25%.

Ab 3.000 v. Ztr. nehmen die Menschen des Niederrhein-Gebietes dann die Kultur der indogermanischen Schnurkeramik an. Aber ihre Genetik verändert sich dabei einmal erneut nicht wesentlich. Sie bleiben weiterhin "konservativ". Es kommt nur zu leichten genetischen Einmischungen der Schnurkeramiker (Abb. 2: rot).

Auch als "Schnurkeramiker" blieben die Menschen an der Nordseeküste genetisch "konservativ"

Erst ab 2.500 v. Ztr. wandelt sich das genetische Abstammungsbild drastisch. Die einheimische Bevölkerung wird genetisch ersetzt durch die Glockenbecher-Kultur (orange), die ein völlig anderes Herkunftsprofil aufweist. Über die Ankunft der Glockenbecher-Genetik und -Kultur in den Niederlanden wird vornehmlich aus archäologischer Sicht ausgeführt (2):

Die Ankunft des Glockenbecher-Komplexes um 2500 v. Ztr. markierte einen weiteren großen kulturellen Übergang. Mit ihr breiteten sich Siedlungen über die Feuchtgebiete und Küstengebiete aus und ersetzten Siedlungen von Vlaardingen/Schnurkeramik, obwohl sie im Allgemeinen nicht dieselben Standorte nutzten. Die Glockenbecher-Wirtschaft war der vorherigen Schnurkeramik-Wirtschaft ähnlich und bestand hauptsächlich aus Landwirtschaft, gemischt mit Jagen und Sammeln von geringer Intensität. Im sandigen Hochland gab es eine Fortsetzung des Hügelgräberrituals, allerdings mit ausgeprägten Glockenbecher-Merkmalen und einer materiellen Kultur, die das Schnurkeramik-Repertoire ersetzte. Glockenbecher-Gruppen sind auch südlich des Rheins gut belegt, wie Glockenbecher-Grabhügel auf den Sandböden der südlichen Niederlande und Belgiens belegen.
The arrival of the BB complex around 2500 BCE marked another major cultural transition, as settlements spread across the wetlands and coastal areas, replacing Vlaardingen/CW settlements, though generally not using the same sites28. The BB economy was similar to the previous CW one and consisted of predominantly farming mixed with low-intensity hunting and gathering. In the sandy uplands, there was a continuation of the barrow ritual, but with distinct BB characteristics and material culture replacing the CW repertoire34,35. BB groups were also well attested south of the Rhine, as evident in BB burial mounds on the sandy soils of the southern Netherlands and Belgium32,36,37. BB settlement sites remain just as elusive in this area as CW settlements.

Ab 2.500 v. Ztr. vollzieht sich auch die Indogermanisierung Armeniens und Griechenlands und auch dort beobachten wir - wie anderwärts - ein vergleichsweise grausames Ausrotten der Vorbevölkerung, bildlich dargestellt etwa in dem Silberbecher von Karashamb aus der Zeit um 2.200 v. Ztr. (Stg23). Dieses grausame Ausrotten ist zeitgleich durch die Archäogenetik auch in Böhmen und anderwärts zu beobachten.

Aber dann kam die Glockenbecher-Kultur ...

Über die Glockenbecher-Genetik in den Niederlanden wird ausgeführt (2):

Alle 13 verfügbaren Individuen, die mit der Glockenbecher-Kultur in Zusammenhang stehen, scheinen in der Hauptkomponentenanalyse genetisch den Gruppen nahezustehen, die in Zusammenhang mit der Schnurkeramik-Kultur stehen, jedoch nicht mit den vorhergehenden lokalen Vlaardingen/Schnurkeramik-Individuen aus dem Rhein-Maas-Gebiet. Sie können mit einer Abstammung von ∼83 % aus dem Hauptcluster der Schnurkeramik-assoziierten Individuen und ihre restliche Abstammung aus einer mit dem Wartberg-Neolithikum verwandten Gruppe modelliert werden, die jene neolithische Bevölkerung aus dem Rhein-Maas-Gebiet mit dem niedrigsten Grad an Jäger- und Sammler-Abstammung repräsentiert, oder als Mischung zwischen mittel- und spätneolithischen Gruppen von außerhalb des Rhein-Maas-Gebiets (z. B. Kugelamphore in Polen, TRB in Tschechien, Baalberge in Deutschland, Neolithikum-Chalkolithikum in Iberien) und spätneolithischen Populationen aus Belgien. Alle diese Szenarien deuten auf eine Abstammungsänderung von ∼83–91 % (aber nicht 100 %) hin, die mit der Ankunft des Glockenbecher-Komplexes in der Rhein-Maas-Region verbunden ist (Ergänzende Tabelle 5). Ein Beitrag der lokalen Bauern des Rhein-Maas-Deltas mit ihrem charakteristischen Merkmal einer hohen Jäger- und Sammlerabstammung ist essenziell, um die Entstehung der mit dem Rhein-Maas-Delta assoziierten Glockenbecher-Individuen zu modellieren. Sogar bei 9–17 % können wir davon ausgehen, daß diese lokale Vermischung stattfand: Modelle, denen dieser einzigartige genetische Beitrag der Bauern des Rhein-Maas-Deltas fehlt, werden mit hoher Signifikanz zurückgewiesen. Das deutet darauf hin, daß die beobachtete Vermischung zwischen den mit der Schnurkeramik-Kultur verbundenen Gruppen und europäischen Bauern, die das genetische Profil des Rhein-Maas-Deltas bildete, in der Region selbst stattgefunden haben muß. Radiokarbondatierungen legen außerdem nahe, daß die Rhein-Maas-Region einer der frühesten Orte war, an denen das Glockenbecher-Kulturphänomen auftrat. Während das früheste Vorkommen von Glockenbecher-Kulturmaterial auf der Iberischen Halbinsel lokalisiert wurde, zeigen unsere Ergebnisse, daß eine frühe Bildung von Glockenbecher-assoziierten Gruppen, die nicht nur kulturell, sondern auch genetisch von Schnurkeramik-Nutzern beeinflußt wurden, auch im Rhein-Maas-Gebiet stattfand.
All 13 available BB-associated individuals appear genetically close to CW-associated groups, but not to the preceding local Rhine-Meuse area Vlaardingen/CW individuals in the PCA. They can be modeled with ∼83% ancestry from the main cluster of CW-associated individuals (Supplementary Table 5), and their remaining ancestry from a Wartberg Neolithic-related group, representing the Neolithic population from the Rhine-Meuse area with the lowest level of hunter-gatherer ancestry, or as a mixture between Middle and Late Neolithic groups from outside the Rhine-Meuse area (e.g. Poland Globular Amphora, Czechia TRB, Germany Baalberge, Iberia Neolithic-Chalcolithic) and Late Neolithic populations from Belgium. All these scenarios point to a ∼83-91% (but not 100%) ancestry change associated with the arrival of the BB complex in the Rhine-Meuse region (Supplementary Table 5). A contribution of local Rhine-Meuse delta farmers, with their distinctive signature of high hunter-gatherer ancestry, is essential to model the formation of Rhine-Meuse delta BB-associated individuals. Even at 9-17%, we can be confident this local admixture occurred: models lacking this unique Rhine-Meuse delta farmer genetic contribution are rejected with high significance. This suggests that the observed mixture between CW culture associated groups and European farmers that formed the genetic profile of Rhine-Meuse delta BB must have occurred in the region itself. Radiocarbon dates further suggest that the Rhine-Meuse area was one of the earliest places where the BB cultural phenomenon arose61. While the earliest appearance of BB cultural material has been located in Iberia62, our results show that early formation of BB-associated groups, influenced not just culturally but also genetically by CW users, also occurred in the Rhine-Meuse area.

Vor zwei Monaten erst war - wie eingangs angedeutet - eine Studie aus dem Labor von Eske Willerslev erschienen, die den Ursprung der Glockenbecher-Kultur in Nordfrankreich lokalisierte für die Zeit ab 2.463 v. Ztr., und die eine Ausbreitung in die Niederlande ab 2.384 v. Ztr. annahm (Stg25). Man darf gespannt sein, wie weit sich die Kernregion der Ethnogenese der Glockenbecherkultur künftig noch eingrenzen lassen wird.

Jedenfalls wird hier einmal erneut eine spannende Beobachtung gemacht. Einmal erneut - wie dies schon zum Beispiel archäogenetischen Studien zu Böhmen (Stg21) oder zu Ungarn/Kroatien (Stg22) gleich mehrfach beobachtet worden war - sind es einheimische europäische Jäger-Sammler-Anteile, die einen entscheidenden Beitrag leisten zur Ethnogenese neuer Völker. In dem vorliegenden Fall an der Nordseeküste sogar zur Ethnogenese eines der bedeutendsten Völker der europäischen Geschichte überhaupt, nämlich der Glockenbecher-Kultur und damit der italo-keltischen Völkergruppe.

"Das untergehende Vaterland" - ein "Werden im Vergehen"

Wir ahnen, bzw. bekommen damit einmal erneut vor Augen geführt, daß "konservative" Völker dennoch zum Fortschritt der Völkergeschichte beitragen oder vielleicht gerade deshalb, weil sie so konservativ sind und darum einer Welt, die sich inzwischen völlig gewandelt hat, "Impulse" geben können, die aus weniger konservativen Völkern nicht mehr gegeben werden können, da sie zu sehr angepaßt sind an die inzwischen "modern" gewordene Welt. Wir ahnen einmal erneut ein dynamisches Wechselspiel zwischen sehr konservativen und sehr fortschrittlichen Tendenzen und Ausrichtungen innerhalb der Völkergeschichte, und daß beide Tendenzen oft sehr nahe beieinander liegen können. Ähnliches glaubten wir ja auch schon etwa bei der Ethnogenese der Urindogermanen an der Mittleren Wolga zu beobachten, wo zwei sehr gegensätzliche Lebensweisen zu einer neuen Lebensweise verschmolzen und etwas völlig Neues schufen.

Und wir erkennen damit - vielleicht einmal erneut: daß auch die norddeutsche Tiefebene und die Küstenregionen der Nordsee schon im Neolithikum und in der frühen Bronzezeit eine für das übrige Europa vergleichsweise "konservative" Genetik und Kultur aufgewiesen haben, die aber nicht bedeutungslos im "Strom der Geschichte" "versiegten". Denn welch große Überraschung zugleich: Genau diese konservative Genetik und Kultur in den Küstenregionen der Nordsee scheinen der Ausgangspunkt gewesen zu sein für die Entstehung einer der bedeutendsten Völkergruppen der europäischen Geschichte, insbesondere der Bronze- und Eisenzeit, nämlich der italo-keltischen Völkergruppe und der Glockenbecher-Kultur, die diese begründete.

Wir erkennen damit zugleich, daß die große Geschichte der  Völkergruppe der westeuropäischen Jäger und Sammler (Stg21) um 2.400 v. Ztr. zwischen Weser und Schelde einen sehr überraschenden "Endpunkt" findet, einen Abschluß, der womöglich sogar als ein neues, illustrierendes Beispiel gelten kann für den so grundlegenden geschichtsphilosophischen Gedanken von Friedrich Hölderlin (1770-1843) rund um das von ihm umsonnene Theorem vom "Werden im Vergehen" (Zeno):

Das untergehende Vaterland, Natur und Menschen, insofern sie in einer besondern Wechselwirkung stehen, eine besondere ideal gewordene Welt, und Verbindung der Dinge ausmachen, und sich insofern auflösen, damit aus ihr und aus dem überbleibenden Geschlechte und den überbleibenden Kräften der Natur, die das andere, reale Prinzip sind, eine neue Welt, eine neue, aber auch besondere Wechselwirkung, sich bilde, so wie jener Untergang aus einer reinen, aber besondern Welt hervorging. (...) Dieser Untergang oder Übergang des Vaterlandes (in diesem Sinne) fühlt sich in den Gliedern der bestehenden Welt so, daß in eben dem Momente und Grade, worin sich das Bestehende auflöst, auch das Neueintretende, Jugendliche, Mögliche sich fühlt. 

In der von uns behandelten Studie (1) wird ja zudem auch noch ausgeführt, daß es tatsächlich eine besondere "Wechselwirkung" gegeben hat zwischen den Menschen an der Nordseeküste und dem dortigen, wasserreichen Naturraum, die dazu führte, daß die vollneolithische und die nachmalige indogermanische Lebensweise viel zögernder angenommen wurde als in anderen Regionen.

Und es kann ja gar keinem Zweifel unterliegen, daß sich "das Neueintretende, Jugendliche, Mögliche" in der Glockenbecher-Kultur "fühlte" - - - angesichts des geradezu rasenden Eroberungssturmes, mit dem die Glockenbecherkultur von dem kleinen umrissenen Raum der Nordseeküste aus vordrang bis nach Südnorwegen, bis nach Böhmen, bis nach Schottland und Irland, bis nach Sizilien, bis nach Portugal, bis nach Nordafrika.

________________

  1. Long-term hunter-gatherer continuity in the Rhine-Meuse region was disrupted by local formation of expansive Bell Beaker groups. By: Iñigo Olalde, Eveline Altena, (...) Iosif Lazaridis, Swapan Mallick, Nick Patterson, Nadin Rohland, Martin B. Richards, Ron Pinhasi, Wolfgang Haak, Maria Pala, David Reich. bioRxiv 2025.03.24 (biorxiv)
  2. Ben Krause-Kyora, Nicolas Antonio da Silva, Almut Nebel et al. Long-distance kinship in megalithic Europe, 06 May 2025, Preprint (Version 1) (Research Square) [https://doi.org/10.21203/rs.3.rs-6464608/v1]

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