Die Abfolge der Völkerwelt in Sibirien - in den letzten 40.000 Jahren war sie kaum weniger komplex, in ihr fanden kaum weniger Bevölkerungsumwälzungen (genetische "Austausch"-Vorgänge) statt als in Europa während des gleichen Zeitraumes.
Abb. 1: Eine Frau der Keten am Jenissei - In ihrem Zelt während sie Fische auf Stöcken brät - Aufgenommen von Fritjof Nansen bei Turuchansk (Wiki) - Die Keten sind das letzte Volk der Jenissei-Sprachen, das als solches bis heute in genetischer und sprachlicher Kontinuität fortbesteht |
Überraschenderweise sind die Völker, die vor der Bronzezeit in Sibirien lebten, heute genetisch so gut wie ausgestorben - genau so wie in Europa. Das gilt für die Völkergruppe der osteuropäischen Jäger und Sammler (der hälftigen Vorfahren der Indogermanen) ebenso wie für die Völkergruppe der westsibirischen Jäger und Sammler.
Jene Völker, die in den letzten Jahrhunderten und Jahrtausenden in Sibirien leben, lebten und leben zwar von ihrer Lebensweise her oft recht ähnlich den Fischern, Jägern und Sammler vor der Bronzezeit und während des Mesolithikums. Denn das Klima ist ja der Landwirtschaft bekanntermaßen nicht besonders günstig. Trotzdem sind die heutigen Völker Sibiriens sprachlich und genetisch in der Regel erst vergleichsweise spät entstanden und haben sich erst seit der Bronzezeit in Sibirien und Nordosteuropa ausgebreitet. Dabei haben sie die Völker der zuvor genannten Völkergruppen verdrängt und ersetzt.
Das geschah womöglich deshalb, weil Sibirien entlang seiner gesamten Süd- und Westgrenze an Völker grenzte, in denen Ackerbau betrieben wurde und wird.
Die "Urheimat" jener Völker- und Sprachfamilien, die es heute in Sibirien und Nordosteuropa noch gibt, lag nun zumeist ganz im Osten von Sibirien. Und zwar einerseits in der Region rund um den Baikal-See und andererseits in Nordost-Sibirien. Die erstere Urheimat war die der Jenissei-Sprachfamilie (einer "paläosibirischen" Sprachfamilie), die zweitgenannte Urheimat war die der finno-ugrischen Sprachfamilie.
Abb. 2: Die Paläosibirier 16.000 bis 8.000 v. Ztr. (aus 1) |
Am Ende der Eiszeit lebten in Sibirien Völker, die von den Genetikern "Ancient Eurasian" genannt werden, erforscht anhand von Menschenfunden am Jenissei bei Afontova Gora, datiert auf 16.000 v. Ztr.. Dort trat auch zum ersten mal in der Menschheitsgeschichte die blonde Haarfarbe auf (siehe frühere Blogartikel hier auf dem Blog).
In Nordostsibirien lebte dann eine Population, die von den Genetikern "Ancient Paleosiberians" genannt wird. Von diesen "Ancient Paleosiberians" stammen auch die Ureinwohner Nordamerikas ab. Ihr Verbreitungsgebiet erstreckte sich im Süden bis an die Ufer des Baikal-Sees (Abb. 2).
Am Amur-Fluß schließlich lebte eine Population, die den größten Teil der Herkunft bildet, die noch die heutigen Mongolen in sich tragen, und die auch zur Ethnogenese der Koreaner und anderer Völker beigetragen hat. Das dortige kleine Volk der Ultschen hat sich bis heute als eines der wenigen sibirischen Völker eine ursprüngliche mesolithische Genetik unvermischt bewahrt.
3.400 v. Ztr. - Urheimat der Jenissei-Völker westlich des Baikal-See
Ab 3.400 v. Ztr. entstand dann am Westufer des Baikalsee's das Urvolk der Völker der Jenissei-Sprachen (Wiki). Aber erst ab 1100 v. Ztr. breiteten sich die Völker dieser Sprachgruppe bis zum Oberen Jenissei aus. Auch die meisten der Jenissei-Sprachen sind heute ausgestorben - bis auf die Sprache der Keten (Wiki, engl) (Abb. 1).
Wenn wir es recht verstehen, gehörten aus genetischer Sicht auch die Vorfahren der heutigen Jakuten in Nordost-Sibirien, die erst vor 400 Jahren eine Turksprache angenommen haben, ursprünglich zu den Jenissei-Völkern. Erst in den letzten 400 Jahren gaben sie ihre Sprache zugunsten von Jakutisch auf. Genetisch gehören sie aber - soweit wir das verstehen - zu den Jenissei-Völkern.
Der Begriff "paläosibirisch" wird von Genetikern und Sprachforschern unterschiedlich verwendet. Da die Genetiker zeitlich viel weiter zurück blicken können als die Sprachforscher, und da sie mehr "Umbrüche" feststellen als die Sprachforscher, gehören für sie "paläosibirische" Völker einer deutlich früheren Zeitepoche an als bei den Sprachforschern. Die eben genannten Jenissei-Sprachen, die sich vermutlich vom Westufer des Baikalsees aus ausgebreitet haben, werden von den Sprachforschern zu den "paläosibirischen Sprachen" gerechnet. Diese dürfen aber nicht mit den "Palaeosiberians" der Genetiker verwechselt werden. Über die "paläosibirischen Sprachen" - die nach dem neuesten Kenntnisstand eher zeitlich jung anmuten, da das Urvolk derselben "erst" ab 3.400 v. Ztr., alsoim Spätneolithikum westlich des Baikalsees lebte - lesen wir (Wiki):
Sie sind die Reste mehrerer alteingesessener Sprachfamilien, die bereits vor der Einwanderung der turkischen, tungusischen und uralisch-samojedischen Ethnien nach Nord- und Ostsibirien dort ansässig waren. (...) Innerhalb der letzten 400 Jahre nahmen Gruppen von Sprechern paläosibirischer Sprachen allmählich das Jakutische oder andere turkische und tungusische Sprachen an. Die zur uralischen Sprachfamilie gehörenden samojedischen Sprachen haben die Sprachen heute ausgestorbener jenisseischer Stämme absorbiert.
Mit "uralisch-samojedische Ethnien" sind hier im übrigen Völker der finno-ugrischen Sprachfamilie angesprochen. Die hier genannten Umstände machen also darauf aufmerksam, daß sich in der Genetik der heutigen Jakuten die Genetik von Menschen findet, die vormals Jenissei-Sprachen gesprochen haben.
2.500 v. Ztr. - Die Urheimat der finno-ugrischen Sprachgruppe liegt in Nordostsibirien
In Nordost-Sibirien hingegen, wo heute die Jakuten leben, entstand ab 2.500 v. Ztr. das Urvolk der uralischen Völker mit der "Nganasan-Herkunft" ("Yakutia_LNBA") (1). Diese Herkunft findet sich heute in Nordost-Sibirien gar nicht mehr - sondern hier finden sich heute - wie gesagt - Jakuten, die vormals Sprecher von Jenissei-Sprachen waren und auch deren Genetik in sich tragen. Die Nganasan-Herkunft ("Yakutia_LNBA") findet sich dafür aber heute noch in Mittelsibirien bei den Nganasanen und weiter westlich überall in der uralischen und finno-ugrischen Völkerfamilie. Denn mit ihr hat sich die uralische und die finno-ugrische Sprachgruppe nach Westen ausgebreitet. Ab 2.200 v. Ztr. findet sich diese am Oberen Jenissei (also bevor sich dort die Jenissei-Sprachen vom Westufer des Baikalsees ab 1100 v. Ztr. ausbreiteten). In einer neuen archäogenetischen Studie heißt es dazu (1):
Bis zur Mitte des Holozäns entstanden in Ostsibirien durch die Vermischung dieser frühen nordostsibirischen Population mit Populationen aus dem Landesinneren Ostasiens und aus dem Einzugsgebiet des Amur zwei unterschiedliche Populationen, die eine wichtige Rolle spielten bei der Entstehung späterer Völker. Die Herkunft der ersten Population, Cis-Baikal-Spätneolithikum-Bronzezeit (Cisbaikal_LNBA), findet sich im Wesentlichen nur bei Jenissei-sprachigen Völkern und solchen, von denen bekannt ist, daß sie sich mit diesen vermischt haben.Die Herkunft aus der zweiten, benannt "Jakutien im Spätneolithikum-Bronzezeit" (Yakutia_LNBA) ist eng mit den heutigen Uralisch-sprachigen Völkern verbunden. Wir zeigen, wie sich die Yakutia_LNBA-Abstammung von einem ostsibirischen Ursprung vor ca. 4.500 Jahren, zusammen mit Unterklassen der Y-Chromosomen-Haplogruppe N, die bei heutigen Uralsprechern häufig vorkommen, nach West- und Zentralsibirien in Gemeinschaften ausbreitete, die mit der Seima-Turbino-Metallurgie in Verbindung stehen: mehrere fortschrittliche Bronzegußtechniken, die sich explosionsartig über ein riesiges Gebiet Nord-Eurasiens vor ca. 4.000 Jahren ausbreiteten. Allerdings war die Herkunftzusammensetzung der 16 Individuen aus der Seima-Turbino-Zeit - der frühesten, die von Fundorten mit dieser Metallurgie untersucht wurden - ansonsten sehr vielfältig. Sie bestand teilweise aus der Herkunft indoiranischsprachiger Herdenhalter und mehrerer Jäger-Sammler-Populationen aus weit voneinander entfernten Regionen Eurasiens. Unsere Ergebnisse stützen Theorien, die darauf hindeuten, daß frühe Uralisch-Sprecher zu Beginn ihrer Ausbreitung nach Westen an der Ausbreitung der metallurgischen Traditionen der Seima-Turbino beteiligt waren, und legen nahe, daß sowohl kulturelle Übernahme als auch demographische Ausbreitung bei der Verbreitung der materiellen Kultur der Seima-Turbino eine Rolle spielten.
So heißt es in der Zusammenfassung (im "Abstract"). Hier wird ein unglaublich spannender Befund dargestellt, für den sich unter anderem auch der Filmemacher und Staatspräsident Lennart Meri sehr interessieren würde, wenn er denn heute noch leben würde. Er hat mehrere spannende Dokumentationen über die Geschichte der finno-ugrischen Völkergruppe erstellt (s. Stgen2022). Daß diese ursprünglich aus Nordost-Sibirien stammt, war - soweit man sehen kann - bislang noch nicht im Horizont der Sprachforscher und Völkerkundler (siehe "Proto-Uralic homeland" [Wiki]).
Hier auf dem Blog waren wir ja schon mehrmals auf die Archäogenetik der Völker der uralischen Sprachgruppe gestoßen (Stgen2018, Stgen2019, Stgen2022). Aber erst scheint die Forschung zu einer Klärung ihrer Urheimat zu kommen.
Bevor die Indogermanen nach Sibirien kamen
Aber gehen wir noch einmal einen Schritt zurück. In der Erläuterung zur Abb. 3 heißt es (1):
Tafel B zeigt die Herausformung des (genetischen) FSHG-Gradienten vor ca. 10.000 Jahren und die Bildung der Population an ihrem östlichen Ende (Transbaikal_EMN) durch Vermischung von Vorfahren des Amur-Flusses und ostasiatischer Binnenvorfahren.
Die "ostasiatischen Binnenvorfahren" werden den Vorfahren der Han-Chinesen nahegestanden haben. Dazu wäre weiter zu erläutern: In Sibirien besaßen die Menschen früher Keramik als in Europa. Sie besaßen schon Keramik, obwohl sie ansonsten noch weitgehend als Fischer, Jäger und Sammler lebten. Denn die früheste Keramik breitete sich von Japan aus nach Westen bis zur Ostsee aus, schon in der Zeit, bevor sich Keramik mit der anatolisch-neolithischen Völkergruppe von Anatolien aus nach Europa ausbreitete.
Abb. 3: Die osteuropäischen und westsibirischen Fischer, Jäger und Sammler vor 4.000 v. Ztr. ("FSHG-Cline") (aus: 1) |
Die Menschen in Sibirien und Nordosteuropa lebten trotzdem - wie schon einleitend gesagt - viel länger als Fischer, Jäger und Sammler als die Menschen in Europa. Auch die mesolithischen Ursprungsvölker hielten sich hier länger.
Wir sehen dann in der Zeit vor 4.000 v. Ztr. Populationen westlich des Baikal-See's ("Cis-Baikal") und östlich des Baikal-See's ("Transbaikal"), wir sehen Populationen in der Mongolei, in Nordchina, am Amur-Fluß und in Nordost-Sibirien (s. Abb. 3). Und wir sehen, wie Nordchina und die Transbaikal-Population genetisch Einfluß nehmen auf die Population in der Mongolei.
Und wir sehen wie die Transbaikal-Population genetisch Einfluß nimmt auf die Population in Nordostsibirien, um die Nganasan-Herkunft der finno-ugrischen Völkergruppe, die Herkunftsgruppe "Yakutia_LNBA" zu bilden. Wobei die Bezeichnung "Yakutia" hier nur als geographischer Begriff zu verstehen ist. Die Jakuten, die heute in Nordost-Sibirien leben, haben ja bis vor 400 Jahren Jenissei-Sprachen gesprochen. Es wäre unseres Erachtens vielleicht besser gewesen, wenn die Forscher ihre Herkunftsgruppe "Nordost-Sibirien_LNBA" genannt hätten. Denn "Jakutien" weckt in diesem Zusammenhang ja eigentlich falsche Assoziationen.
2.500 v. Ztr. - Die Indogermanen kommen nach Sibirien
Die ersten Indogermanen der Afanasiewo-Kultur kamen schon um 4000 v. Ztr. nach Sibirien und an die Nordgrenze Chinas (Shirenzigou, Dsungarei). Das war die erste Welle der indogermanischen Ostausbreitung.
Ab 2.500 v. Ztr. und später kommen neue indogermanische Völker nicht nur nach Armenien und Griechenland, nicht nur auf die britischen Inseln und nach Finnland, sondern auch nach Nordosteuropa, nach Westsibirien und in das Altai-Gebirge (s. Abb. 4: Europa_LNBA/Steppe_LNBA). Das war die zweite Welle der indogermanischen Ostausbreitung, mit der auch die "Arier" nach Nordindien kamen (s. Stgen2020). Man darf annehmen, daß die Indogermanen dort mit einem ähnlichen kriegerischen, herrschaftlichen Gestus auftraten wie zeitgleich in Armenien und in Griechenland. Genauer gesagt: Man darf annehmen, daß sie dort ähnlich als erbarmungslose "Kopfjäger" unterwegs waren wie um dieselbe Zeit in Armenien und wie noch später bei den Kelten (Stgen2023).
Die Indogermanen vermischten sich mit den einheimischen Fischer-, Jäger- und Sammler-Völkern. Daraus entstand um 2.000 v. Ztr. nicht nur das Seima-Turbino-Phänomen, das schon angesprochen worden ist und das uns noch beschäftigen wird. Daraus entstanden unter anderem um 1.400 v. Ztr. auch die Vorfahren der heutigen Chanten und Mansen, sowie die Vorfahren des Landnahme-Volkes der Ungarn (Stgen2022), sowie - aus genetischer Sicht - die Vorfahren der Baschkiren.
Da die Chanten und Mansen eine finno-ugrische Sprache sprechen, muß davon ausgegangen werden, daß sich die finno-ugrisch-sprachigen Vorfahren der Chanten, Mansen und Landnahme-Ungarn bis 1.400 v. Ztr. schon bis in die Region südlich des Ural ausgebreitet hatten, das nämlich ist die Region der Ethnogenese der Vorfahren der Chanten, Mansen und Landnahme-Ungarn. Was für ein tiefer Blick in die bisherige Dunkelheit der sehr differenzierten Völkergeschichte Sibiriens. Über die Chanten und Mansen und ihre genetischen Verwandten, die Nganasanen hatten wir schon letztes Jahr geschrieben (Stgen2022):
Es handelt sich bei den Nganasanen um eine andere Herkunftsgruppe als jene, von denen die Mongolen abstammen. Die ursprüngliche Herkunftsgruppe der Mongolen wird am ehesten durch das Volk der Ultschen am Amur-Fluß repräsentiert. Dem äußeren Erscheinungsbild nach finden sich aber sowohl bei Nganasanen wie bei Ultschen "mongolische" (sprich "asiatische") Gesichtszüge. Ob es also zwischen beiden Herkunftsgruppen trotz der vermutlich langen Isolation voneinander in Mesolithikum dennoch auch deutlichere genetische Gemeinsamkeiten gibt, wäre noch einmal gesondert zu klären. Die Genetiker scheinen jedenfalls diese beiden Herkunftsgruppen aufgrund Jahrtausende langer Isolation voneinander in Eiszeit, Mesolithikum und Neolithikum gut unterscheiden zu können.
Die hier umrätselten Zusammenhänge werden durch die neue archäogenetische Studie nun genauer aufgeklärt (1). Die Nganasanen-Herkunftsgruppe stammte ursprünglich aus der Region östlich des Baikal und war damit den Vorfahren der Mongolen am Amur-Fluß eng benachbart.
In der Erläuterung zu Abb. 4 heißt es nun (1):
Tafel C zeigt die Entstehung von Cisbaikal_LNBA und Yakutia_LNBA in genetischen Austauschvorgänge in den Regionen Cis-Baikal und Nordostsibirien im mittleren Holozän, sowie die genetische Vielfalt von Individuen aus der Seima-Turbino-Zeit ∼4,0 kya.
Die finno-ugrischen Völker vermischten sich also mit den Indogermanen und dienten sich diesen auch sehr bald als Mischbevölkerungen an, die sich auf Bronzeverarbeitung spezialisiert hatten. Die Archäologen sprechen vom "Seima-Turbino-Phänomen" (2.300 bis 1.700 v. Ztr.) (Wiki). Mit diesen Bronze-Handwerkern könnte sich die uralische (bzw. finno-ugrische) Sprachgruppe über die nunmehr indogermanisch geprägte Völkerwelt hinweg bis an die Ostsee ausgebreitet haben, wobei kulturelle Weitergabe dieser besonderen Techniken ebenso infrage kommt wie Weitergabe vom Vater auf den Sohn, also gemeinsam mit genetischer Herkunft.
Abb. 4: Die Indogermanen kommen nach Nordosteuropa und Sibirien - Die Bronzegießer der Seima-Turbino-Kultur bilden eine finno-ugrische Gruppe multiethnischer Herkunft |
Dieses Geschehen, sowie weitere Fragestellungen werden in einer neuen archäogenetischen Studie aus dem Labor von David Reich untersucht anhand der Genetik von vorgeschichtlichen Skeletten aus einer Region zwischen Baikalsee und Ural, darunter auch solche, die in Zusammenhang stehen mit dem "Seima-Turbino-Phänomen" (2.300 bis 1.700 v. Ztr.), das für die Mittlere Bronzezeit zu finden ist zwischen dem Tarim-Becken im Osten und der Ostsee im Westen. Dabei fällt neues Licht auf die Geschichte der "paläosibirischen" Jenissei-Völker vom oberen und mittleren Jenissei. Außerdem wird eine Ursprungsregion der uralischen (finno-ugrischen) Sprach- und Völker-Familie aufgedeckt, der - soweit uns übersehbar - bislang von kaum einem Forscher angenommen worden war (s. Wiki). Beider Urheimat lag in der Region des Baikal-See's. Es heißt dazu im Diskussionsteil der Studie (1):
Jakutien_LNBA-Abstammung könnte sich in Epochen menschlicher Mobilität ausgebreitet haben, die mit der prähistorischen Verbreitung der uralischen Sprachen in Zusammenhang standen in gleicher Weise wie das Auftreten der Jamnaja/Steppen_EMBA-Herkunft korreliert ist mit (demographischen) Ausbreitungsbewegungen, die für die Ausbreitung der indogermanischen Sprachen verantwortlich waren (...). Ebenso könnte die Cisbaikal_LNBA-Herkunft mit der Verbreitung von Jenissei-Sprachen in Zusammenhang stehen.Yakutia_LNBA ancestry may have spread in episodes of human mobility that were associated with the prehistoric dispersal of Uralic languages, in the same way that the appearance of Yamnaya/Steppe_EMBA ancestry may be correlated with migrations responsible for the expansion of the Indo-European languages (a “tracer-dye”). Likewise, Cisbaikal_LNBA ancestry may be connected to the spread of Yeniseian languages.
Und (1):
Die aktive Teilhabe mehrerer sozialer Gruppen, die genetisch und kulturell unterschiedlich waren, bildete einen wesentlichen Teil des ST-Phänomens - eine Schlußfolgerung, die mit dem übrigen Inventar in ST-Gräberfeldern übereinstimmt, wie etwa Keramik (die Ähnlichkeiten aufweist mit derjenigen, die von westsibirischen Sammlern hergestellt wurden, sowie derjenigen der Waldsteppen rund um den Tatarka-Hügel), Artefakte aus Feuerstein, Knochen oder Jade (die Ähnlichkeiten aufweisen mit denen, die von Kulturen im äußersten Nordosten Sibiriens und vom Baikalsee hergestellt wurden) und Metallgegenstände aus Nicht-ST-Traditionen (die möglicherweise in der Sintashta-Kultur und insbesondere in den eng verwandten Abashevo-Kulturen entstanden sind). Diese drei Quellen materieller Kultur entsprechen sehr genau jenen drei bedeutendsten genetischen Herkunftsgruppen in unserem Datensatz.Active participation of multiple social groups that were genetically and culturally distinct was an essential part of the ST phenomenon itself—a conclusion consistent with the rest of the inventory found in ST necropolises, such as pottery (which displays similarities to that produced by West Siberian foragers 61,62,69,78 and that of the forest-steppes around Tatarka Hill 56), artifacts of flint, bone, or jade (which displays similarities to those produced by cultures of far Northeast Siberia and Lake Baikal), and metal items from non-ST traditions (which may have been produced in the Sintashta and especially the closely-related Abashevo cultures) 61,62,69,78. These three sources of material culture closely parallel the three major genetic ancestries in our sample.
Womöglich waren die einheimischen Völker, die schon zwei Jahrtausende früher erstmals mit kulturellen Auswirkungen etwa der Oasen-Kultur an den Nordhängen des Tianshan in Berührung gekommen waren oder mit Indogermanen der Ost-Ausbreitungsbewegung, besonders fasziniert von besonderen Bronzeguß-Techniken und entwickelten sie nach und nach weiter und entwickelten so ein "Alleinstellungsmerkmal", ein "Spezialistentum", das sie für die damaligen indogermanischen Gesellschaften quasi unentbehrlich machte.
Abb. 5: Eine Gruppe von Keten am Jenissei, aufgenommen von Fritjof Nansen 1913 (Wiki) |
Und dabei kam es zur Vermischung der drei genannten Herkunftsgruppen, der finno-ugrischen Nganasan-Herkunft, der westsibirischen Jäger-Sammler-Herkunft und der indogermanischen Herkunft der Abashevo-Kultur. Ein aufregendes Geschehen.
In einer Filmdokumentation des Jahres 2010 wird dargestellt wie beispielsweise noch heute die besonderen Fertigkeiten der Keten im Kanu-Bau von zugezogenen russischen Fischern, Jägern und Fallenstellern gerne genutzt werden (2). Wir lesen außerdem (1):
Bei dem ST-Phänomen haben wir es zu tun mit dem plötzlichen Auftreten sehr ähnlicher Bronze-Gegenstände, die mit fortschrittlichen Techniken hergestellt worden sind, und die sich sehr schnell (etwa innerhalb eines Jahrhunderts oder so) in viele Kulturen hinein verbreitet haben, die über eine weite Spanne von Nordeurasien verbreitet waren, nämlich von China bis zur Ostsee.
The ST phenomenon refers to the sudden appearance of a very similar suite of bronze artifacts manufactured with advanced casting techniques that spread rapidly (in a century or so) into many cultures spanning a vast region of Northern Eurasia, from China to the Baltic Sea. Archaeologists credit this trans-cultural phenomenon for the introduction of metallurgy into Eastern Eurasia and the dissemination of advanced casting methods for tin bronze into Europe.
Aber gehen wir noch einmal erneut zeitlich einen größeren Schritt zurück: Keramik hat sich - wie oben schon erwähnt - erstmals von Ostasien aus über ganz Osteuropa bis an die Ostsee ausgebreitet.
Die osteuropäischen und die westsibirischen Jäger und Sammler - Ausgestorben
Diese ältesten Keramik-Kulturen der Waldsteppe gehörten der Völkergruppe der osteuropäischen Jäger und Sammler an. Im Text der Studie finden wir noch folgende Erläuterung der Abbildung 4 des vorliegenden Beitrages (1):
Wenn wir vom westlichen Ende des Gradienten der Jäger und Sammler der Waldsteppe ausgehen, finden wir zunächst Jäger und Sammler zwischen der Ostsee und dem Ural. Im Westen werden sie der frühneolithischen Elshanka-Kultur zugerechnet. Es folgen die spätneolithische Kammkeramik-/Ljalowo-Kultur und die äneolithischen Volosovo-Kulturen (im Osten) bis hin zu den Kulturen des Samara-Äneolithikums, des Kama-Mündungs-Äneolithikums und des äneolithischen Urals. Diese alle weisen überwiegend osteuropäische Jäger-Sammler-Herkunft (EHG) auf zusammen mit geringen Anteilen an WHG-Herkunft. Das steht in Übereinstimmung mit Erkenntnissen früherer Studien.Starting from the western end of the e Forest-Steppe Hunter-Gatherer (FSHG) cline, hunter gatherers from the Baltic to the Urals, attributed to (in the west) the Early Neolithic Elshanka, Late Neolithic Pit-Comb Ware/Lyalovo, and Eneolithic Volosovo cultures, and (in the east) to the Samara Eneolithic, Kama Estuary Eneolithic and Eneolithic Ural cultures, have mostly EHG-related ancestry, with low levels of WHG-related ancestry, in line with previous findings.
Hier auf dem Blog haben wir der Völkergruppe der westeuropäischen Jäger und Sammler schon einen ausführlichen und umfangreichen Blogartikel gewidmet, in den auch viele neuere archäologische Erkenntnisse eingeflossen sind (Stgen2021). Ein ähnlicher Beitrag über die Völkergruppe der osteuropäischen Jäger und Sammler scheitert vermutlich zunächst einmal an fehlenden russischen Sprachkenntnissen, obwohl sie einen ähnlich umfangreichen Beitrag verdient hätte. Denn diese Völkergruppe stellte die eine Hälfte der Vorfahren des Urvolkes der Indogermanen. Mit der hier behandelten Studie haben wir jedenfalls ein weiteres Puzzle-Teil für einen solchen Beitrag.
Ergänzung (2.12.23): 6000 v. Ztr. gab es östlich des Ural, also im damaligen Gebiet der osteuropäischen Jäger und Sammler, schon komplexe Gesellschaften, die ihre Siedlungen mit Wällen und Palisaden umgaben (Antiquity2023, ScMag2023). Dieser Umstand läßt ggfs. auch einen Blick werfen auf den Ursprung der Indogermanen an der Mittleren Wolga.
Abb.: Von Palisaden umgebene, feste Siedlungen um 6.000 v. Ztr. östlich des Ural (aus:(Antiquity2023) |
Östlich des Ural finden wir dann schon erste ausgeprägtere Mischbevölkerungen zwischen a) der Völkergruppe der osteuropäischen Jäger und Sammler, b) der Völkergruppe der westsibirischen Jäger und Sammler, bzw. des Tarim-Beckens und c) derjenigen des Baikalsees (1):
In Populationen östlich des Ural, die dem Tobol- und Mittelirtysch-Frühneolithikum zugehören und dem nachfolgenden Kreis der äneolithischen westsibirischen Kulturen, die Kammkeramik benutzen, mischte sich EHG-Abstammung mit Ancient North Eurasian-(ANE-)Herkunft, sowie mit geringen Mengen ostasiatischer Herkunft. Diese Populationen gleichen genetisch Individuen, die der benachbarten Botai-Kultur aus Nordkasachstan zugeschrieben werden (~5,4–5,1 kya).Eastwards across the Urals, in populations of the Tobol and Middle Irtysh Early Neolithic and of the succeeding circle of Eneolithic West Siberian cultures using Comb-Pit Ware pottery, EHG ancestry admixed with ANE ancestry and low levels of East Asian ancestry. These populations are genetically similar to adjacent Botai-attributed individuals from northern Kazakhstan (~5.4-5.1 kya).
Wie dann weiter ausgeführt wird, ist die hier genannte, sehr alte ANE-Herkunft mit großer Wahrscheinlichkeit über die Zwischenstufe der Tarim-Herkunftsgruppe in die hier erörterten Populationen hinein gekommen, so wie wir das auch selbst schon in einem früheren Blogbeitrag angesprochen hatten.
Dann heißt es weiter (1):
Individuen weiter östlich, vom Fuße des Altai und vom Oberen Ob, aus der Kuznetsk-Altai-Kultur, die das Frühe Neolithikum und das Eneolithikum überspannt (von Grabungsorten wie Firsovo-11, Tuzovskie-Bugry-1 and Ust’-Isha), können modelliert werden als eine Zwei-Wege-Vermischung von ANE und ostasiatischer Genetik. Dies setzt sich fort mit Individuen von neolithischen Siedlungen am Oberen Jenissei und aus dem Tal des Kan-Flusses (Siedlungen ohne klare kulturelle Zuschreibung), in denen die ANE-Herkunft zurück geht und die ostasiatische Herkunft zunimmt. Der Gradient erstreckt sich weiter bis zur Kitoi-Kultur der Baikal-Region durch die zuvor erörterte Cisbaikal_EN-Population hindurch, um auszulaufen in der Transbaikal_EMN-Population, die fast vollständig ostasiatische Herkunft aufweist.Further east, individuals from the Altai foothills and the upper Ob, from the Kuznetsk-Altai culture spanning the Early Neolithic and Eneolithic (from sites such as Firsovo-11, Tuzovskie-Bugry-1 and Ust’-Isha), can be modeled as two-way admixtures of ANE and East Asian ancestry. This continues into individuals from Neolithic sites of the Upper Yenisei and Kan River Basin from sites without clear cultural attribution, where ANE ancestry declines and East Asian ancestry increases. The gradient extends into the Kitoi culture of the Baikal region, through the previously discussed Cisbaikal_EN population, to terminate in the Transbaikal_EMN population that is almost completely East Asian in ancestry.
Aber die ANE-Abstammung ist definiert durch ein sehr altes Individuum vom Unteren Jenissei (16.000 v. Ztr.), so daß sich die Forscher fragen, ob die hier behandelte, in viel späterer Zeit erneut vorgefundene Herkunft nicht aus anderer Quelle stammen könnte. Sie schreiben (1):
Es ist vorgeschlagen worden, daß Populationen, die genetisch mit Tarim_EMBA verwandt sind, in Zentralasien vor dem Aufkommen der Herdenhaltung während der Bronzezeit lebten; die Abstammung aus dieser Quelle könnte zu FSHG-Populationen in Westsibirien beigetragen haben, was unsere Ergebnisse erklären könnte, ein Szenario, das durch die kürzliche Entdeckung eines Individuums mit diesem hypothetischen Profil aus dem mesolithischen Tadschikistan noch plausibler wird. Daher könnten sich zwei Quellen in die ANE-reichen Populationen im Zentrum der FSHG-Kline eingemischt haben: eine Tarim_EMBA-ähnliche Population aus Zentralasien und eine Population wie die des späteren Kusnezk-Altai-Neolithikums der Altai-Region.It has been suggested that populations genetically related to Tarim_EMBA lived in Central Asia before the arrival of pastoralism during the Bronze Age; ancestry from this source may have contributed to FSHG populations in West Siberia, explaining our results, a scenario made even more plaubsible by the recent discovery of an individual with this hypothesized profile from Mesolithic Tajikistan. Therefore, two sources may have admixed into the ANE-rich populations in the center of the FSHG cline: a Tarim_EMBA-like population from Central Asia, and a population like that of the later Kuznetsk-Altai Neolithic of the Altai region.
So die Studie.
Abb. 7: Die finno-ugrische Sprachfamilie vor der Ausbreitung der Russen im Mittelalter und in der Neuzeit |
Als Erläuterung heißt es zur Abb. (1):
Tafel D zeigt den genetischen Gradienten zwischen westeurasischer Abstammung und Jakutien_LNBA, der von heutigen Ural-Populationen gebildet wird, zusammen mit allen Standorten, an denen heutige Populationen mit Cisbaikal_LNBA-Abstammung zu finden sind (graue Punkte mit schwarzem Ring), zusammen mit den geografischen Standorten von zwei Individuen aus der späten Bronzezeit/frühen Eisenzeit (graue Punkte mit gelben Ringen) mit >90 % Cisbaikal_LNBA-Abstammung.
Die Keten (auch "Ostjaken" genannt) lebten ursprünglich vor allem am Mittel- und Oberlauf des Jenissei. Sie lebten im Wesentlichen von dem Fischfang im Jenissei und von der Jagd an Land. Interessanterweise gab es bei den Keten einen ähnlichen Bärenkultur wie bei den Chanten und Mansen. Wir lesen (Wiki):
Wie bei anderen Völkern im Norden von Eurasien gehört zur Tradition der Keten ein Bärenkult. Ein Bär gilt als Ahn, weil in ihm die Seele eines verstorbenen Menschen steckt. Bei einem getöteten Bären wird nach bestimmten körperlichen Merkmalen gesucht, um herauszufinden, wessen Seele er beherbergte. Außerdem existiert die Vorstellung, der Bär habe hellseherische Fähigkeiten, er könne die menschliche Sprache verstehen und sogar Gedanken erraten. Deswegen wandten laut dem Bericht einer 1905 bis 1908 durchgeführten Forschungsexpedition die Keten eine Beschwichtigungsformel an, wenn sie einen Bären bei der Jagd umstellt hatten: „‚Sei nicht böse, Großvater! Komm zu uns als Gast.‘ Erst dann schlägt man ihn tot.“ Weitere Rituale waren beim Zerlegen des Bärenfleisches zu beachten, so durfte etwa kein Blut auf die Erde tropfen. Für den Schädel eines getöteten Bären wurde ein eigenes Bretterhäuschen errichtet. Der finnische Sprachwissenschaftler Kai Donner beschreibt ein Bärenfest, an dem er 1912 teilnahm, bei dem eine mit feuchter Holzkohle auf Birkenrinde gemalte Bärenfigur im Mittelpunkt stand.
Schon letztes Jahr hatten wir in einem Blogartikel-Entwurf Ausführungen festgehalten, die wir hier noch als Anhang bringen wollen.
Anhang: Fritjof Nansen bereist Sibirien im Jahr 1913
1913 unternahm der norwegische Forschungsreisende und Entdecker Fritjof Nansen (1861-1930) (Wiki, engl) eine Reise nach Sibirien. Das Buch, das er darüber ein Jahr später veröffentlichte, nannte er "Zukunftsland Sibirien". Es erschien erst kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Nansen war mit einer Reisegesellschaft von Norwegen aus um das Nordkap herum über das Karische Meer hinweg den Jenissei hinauf gefahren. Wenn man nach frühen Bildern von den Völkern Sibiriens und der sibirischen Tundra sucht, stößt man immer wieder auf die Bilder aus diesem Buch (Wiki). So als ob dies die frühesten Fotografien von den Völkern Sibiriens darstellen würden. Das gilt insbesondere für die Samojeden (heute Nenzen) (Wiki) auf der Halbinsel Jamal und an den Ufern des Jenissei, ein Volk der ugrischen Sprachfamilie. Und auch für für die Ostjaken (heute Chanten), ein Volk der finno-ugrischen Sprachfamilie. Beide Sprachfamilien werden unter dem Begriff "uralische Sprachen" zusammen gefaßt. Verwandte der Nenzen (Nansen nennt sie "Samojeden") sind in Finnland die Samen (Nansen nennt sie "Bergfinnen") und in Sibirien vor allem die Mansen und die Chanten, die dort als Rentierzüchter leben und die von Fritjof Nansen "Ostjaken" und "Wogulen" genannt werden. - - - Und Achtung, jetzt wirds kompliziert, ich beschäftige mich damit schon seit Tagen, wenn nicht Wochen:
Sie haben sich schon in der Bronzezeit mit Indogermanen vermischt. Das ist auch schon Nansen aufgefallen, daß sich da andere Menschen eingemischt hatten, da sie größer und kräftiger gebaut sind. Die Mansen und die Chanten haben als Vasallen der Tataren Kriegsdienste gegen die Russen geleistet, als diese Sibirien im 16. Jahrhundert erobert haben.
Das ist sehr eindrucksvoll auf jenem berühmten Gemälde über die Eroberung Sibiriens durch die Russen dargestellt, das man vielleicht schon einmal gesehen hat (Surikow [1848-1916] "Jermak erobert Sibirien" [Wiki]).
Ein Teilstamm dieser Völker hat sich nach der Bronzezeit noch zusätzlich mit Sarmaten und Hunnen (Mongolen) vermischt und hat dann im Mittelalter als "Ungarn" ("Magyaren") Ungarn erobert. Daher haben die Ungarn ihre Sprache. In Abwehr der Ungarn ist damals das Deutsche Reich entstanden. Die Genetik der Landnahme-Ungarn ist in Ungarn aber längst verloren gegangen, lebt aber bei den Wolgatataren und den Baschkiren fort, die vermutlich Nachkommen der Verwandten der Landnahme-Ungarn in ihrer Heimat an der Wolga sind, die dort aber wiederum ihre Sprache verloren haben und heute - nach der Eroberung durch Mongolen und Tataren - Turksprachen sprechen und alle etwas "mongolischer" aussehen als die ursprünglichen sibirischen Völker.
Ganz schön irre, was da alles aufeinander gefolgt ist an Völkern. Darüber hat man bis heute - so wie Fritjof Nansen - ziemlich im Nebel gestochert. Jetzt aber, seit den Jahren 2022 und 2023 lichtet sich auch hier das Dunkel.
"Zukunftsland Sibirien"
Einen Überblick über die Völker der Ureinwohner Sibiriens, ihre historischen und heutigen Bezeichnungen erhält man hier: (Wiki). Nansen selbst schreibt (3, S. 67):
Zu dem, was mir als das Verlockendste bei dieser Reise vorgeschwebt hatte, gehörte die erwünschte Gelegenheit, einige der vielen Naturvoller Sibiriens in der Nähe zu sehen. Naturvölker haben, je ursprünglicher sie sind, stets eine starke Anziehungskraft, und in diesem merkwürdigen Lande gibt es eine Mannigfaltigkeit solcher Völker, die noch verhaltnismäßig wenig bekannt sind.
Als der große Erforscher der Völkerwelt Sibiriens gilt der deutsch-baltische Forscher Alexander Theodor von Middendorff (1815-1894) (Wiki), der Sibirien schon vor Fritjof Nansen bereist hat.
Nansen hatte diese Reise unternommen auf Einladung eines norwegischen Geschäftsmannes namens Jonas Lied. Es war darum gegangen, mögliche Handelswege zwischen Westeuropa und dem Inneren Sibiriens zu erkunden (3, S. 2):
Es galt bei der Reise nichts Geringeres, als einen neuen ernstlichen Versuch zu wagen, eine dauernde Handelsverbindung mit dem Innern Sibiriens durch das Karische Meer und die Jeniseimündung zu eröffnen. Hauptsächlich zu diesem Zweck hatte sich eine "Sibirische Gesellschaft" gebildet, dank der Initiative des Herrn Jonas Lied und unter seiner Leitung.
Das Karische Meer und der Oberlauf des Jenissei frieren im Winter zu. Sie sind nur im Sommer zu befahren. Neben Jonas Lied fuhr ein ehemaliger Bürgermeister der Stadt Jenisseisk mit, der zugleich Goldminen-Besitzer in Sibirien war, sowie Reichstags-(Duma-)Mitglied: Stephan Wostrotin. Dieser war der Hauptauskunftgeber für Nansen. Er hatte schon seine Hochzeitsreise über das Karische Meer hinweg gemacht und war mehrmals den Jenissei hinauf und hinunter gereist. Er sei ein wandelndes Lexikon über diese Gegenden, so schreibt Nansen.
Außerdem war ein Mitarbeiter der russischen Botschaft in Oslo dabei. So war die Zusammensetzung der Personen für die Fahrt bis Krasnojarsk. Die Weiterreise, die Nansen dann noch bis nach Wladiwostok und in die Gegend des Amur unternahm, geschah dann auf freundliche Einladung der russischen Regierung und als ihr Gast.
Am 5. August 1913 lief der Dampfer, auf dem Fritjof Nansen reiste, aus Tromsö in Nordnorwegen aus. Tromsö liegt zwar nördlich von Narvik aber immer noch 500 Kilometer südlich vom Nordkap. Der Dampfer hatte Zement geladen. Er war zum Eisbrecher verstärkt worden. Es waren auch schon Meldungen herein gekommen, daß das Meer und die Durchfahrt keineswegs eisfrei waren. Die gesamte Überfahrt hindurch hatte das Schiff immer wieder mit Eis zu tun.
Die Nenzen auf der Halbinsel Jamal
Sieben Tage dauerte die Überfahrt. Nahe der Halbinsel Jamal legten am 12. August 1913 Boote mit Nenzen ("Samojeden") und einem Syrjänen an ihrem Schiff an. Sie würden Fischfang und Jagd betreiben und auch einige Rentiere besitzen, so gaben die Bootsinsassen zur Auskunft. Fritjof Nansen berichtet in diesem Zusammenhang von den Nenzen (damals "Samojeden" genannt) auf der Halbinsel Jamal das folgende (3, S. 25):
Sie bringen die Wintermonate zu im Süden in den Wäldern nahe der heutigen Stadt Salechard (früher Obdorsk) (G-Maps) am Unterlauf des Ob. Diese Stadt liegt unterhalb der Nordausläufer des Ural. Sie verkaufen dort im Winter auf dem Markt Felle und ähnliches und statten sich mit notwendigen Gütern für die Sommerzeit aus. Im März und April kehren sie dann auf die Jamal-Halbinsel zurück. Die Weidegebiete auf der Halbinsel sind unter mehrere Clans aufgeteilt, von denen die reichsten die Weidegebiete im Inland besitzen, die weniger wohlhabenden an den Küsten. Reichtum wird gemessen an der Zahl der Rentiere. Um so weniger Rentiere eine Familie besitzt, um so mehr muß sie ihre Nahrung mit Fischfang und Jagd ergänzen.
Von dem sehr gelassenen, ruhigen Leben der Nenzen auf Jamal in ihren Zelten und beim Fischfang auf den Weiten der sibirischen Tundra erhält man einen sehr guten Eindruck in einer Dokumentation von Peter Adler, die vor fünf Jahren veröffentlicht wurde (4). Wenn wir es recht verstehen, erfolgt darin die Anreise auf der 1947 bis 1953 gebauten Polarkreiseisenbahn Moskau-Labytnangi (zu Deutsch "Sieben Lärchen"). Dies ist eine Ortschaft am Unteren Ob gegenüber von Salechard (G-Maps). Sie ist auf einem früheren Lagerplatz der Chanten (ggfs. auch der Nenzen) errichtet worden.*) Die Halbinsel Jamal wird von dort aus dann mit dem Hubschrauber erreicht (4).
Nansen teilt mit, daß die Körpergröße der Nenzen auf Jamal 1,60 bis 1,65 Meter beträgt, während die ugrischen Chanten (Ostjaken) 1,70 Meter groß seien (3, S. 27):
Ich kann nicht gerade sagen, daß sie besonders ausgeprägte Asiaten oder Mongolen mit vorstehenden Backenknochen und schrägstehenden Augen waren. Meist waren sie fast bartlos und braun mit langem, schwarzem Haar; aber die Gesichter waren zum Teil sogar nach unserm Geschmack leidlich hübsch zu nennen.
Aufgrund des wenig ausgeprägt asiatischen Aussehens machte sich Nansen Gedanken, ob und in welchem Umfang es zu Vermischungen der Nenzen mit anderen Völker gekommen sein könnte, wobei er noch nicht weiß, daß zwar die Chanten (hier "Ostjaken") fast zur Hälfte - von der Bronzezeit her - Steppengenetik in sich tragen, zum Teil auch die Mansen (hier "Wogulen"), daß sie ansonsten aber eine eigene ursprüngliche sibirische Völkergruppe darstellen, die eben schon seit vielen Jahrtausenden auch genetisch getrennt gelebt hat von der Völkergruppe der Mongolen am Amur-Fluß. Nansen (3, S. 27):
Bei diesen Leuten ist wohl die Vermischung mit russischem Blut und vielleicht auch mit andern Völkern von Süden her ziemlich stark. Schitkow erzählt, er habe im Innern von Jamal zwei Männer getroffen, die zu dem Okotetta- und zum Lamdustamm gehörten; hochgewachsen und kräftig gebaut, hatten sie große, gerade Nasen, beinahe Adlernasen gehabt. Wie Schitkows Führer behauptete, trifft man oft auf denselben Typus unter den weiter südwärts wohnenden Samojeden; auch unter den Wogulen sind bisweilen ähnliche Gesichtszüge zu finden. Sie erinnern an nördliche Völker der sogenannten paläo-asiatischen Gruppe, und Samojeden wie Wogulen können sich mit solchen Völkern, wie z. B. mit Jenissei-Ostjaken, vermischt haben.
Das Küstengebiet des Jenissei-Golfs (Wiki) ist noch heute größtenteils unbewohnt. Nansens Schiff kommt an der Mündung des Sopotschnaja (Wiki) in den Jenissei vorbei, nämlich bei Sopotschnaja-Karga. 2012 ist dort im Uferhang ein gut erhaltenes, ausgewachsenes Mammut entdeckt worden (Wiki):
Aus dem Jahr 2012 wurde die Entdeckung eines Kadavers eines ausgewachsenen männlichen Individuums berichtet, das die Bezeichnung Zhenya-Mammut oder Sopotschnaja-Karga-Mammut erhielt. Dieser kam nahe der Mündung des Jenissei am Uferhang der Sopotschnaja zu Tage.
Hier lebten in Holzhütten zwei seit 1906 Verbannte, ein Russe und ein Jude, so berichtet Nansen, jeweils mit einheimischen Frauen. Sie lebten vornehmlich vom Fischfang. Nansen glaubte, der Jude sei Anarchist und deshalb so lange verbannt. Sie fuhren dann entlang der Gydan-Halbinsel (Wiki) im Westen bis zu den Brechowski-Inseln (Wiki):
Die Inseln haben ihren Namen von der Familie Brekhov, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf den Inseln jagte.
An der nordöstlichsten dieser Inseln war das Treffen mit einem Dampfer und zwei Schleppkähnen vereinbart, die von Krasnojarsk aus den Jenissei hinab nach Norden gekommen war, um Handelsgüter - darunter ein Kamel und verschiedene Holzarten - für Norwegen auf den norwegischen Dampfer umzuladen und umgekehrt norwegische Güter für Kransojarsk in Empfang zu nehmen. Auch Nansen und zwei seiner Mitreisenden stiegen hier um.
An der Mündung des Jenissei heuerte man also einen kleinen Dampfer an und fuhr dann den Jenissei aufwärts bis Krasnojarsk. Nansen hat dabei immer wieder eindrucksvolle Fotografien der dort lebenden Volksstämme angefertigt. Wir lesen dazu (Wiki):
Im Sommer nahm Nansen als Mitglied einer Delegation zur Erkundung neuer Handelswege von Westeuropa nach Sibirien an einer Reise in die Karasee teil. Diese führte ihn entlang des Jenissei nach Krasnojarsk (...). Beiläufig lieferte er den Nachweis dafür, daß das Westsibirische Tiefland früher vergletschert gewesen ist. Während dieser Reise entstand Nansens Sympathie für das russische Volk, die sein späteres politisches Leben nachhaltig beeinflußte.
1914 kam das Buch über seine Reise auf Deutsch heraus. Das Vorwort war schon nach Ausbruch des Weltkrieges geschrieben worden. Das Inhaltsverzeichnis:
Von Norwegen ins Karische Meer; Samojeden auf Besuch; Durchs Eis nach Norden; Offene See. Ostwärts nach dem Jenissei; Den Jenissei hinauf; von Dudinka zur Kureika; Das Troizkij-Kloster und weiter südwärts; Von Werchne-Jnbazkoje nach Jenisseisk; Von Jenisseisk nach Krasnojarsk; Die Kolonisation und Entwicklung Sibiriens; Von Irkutsk nach Wladiwostok; Das Ussurigebiet. Wladiwostok und Chabarowsk; Rußland im Osten. Die gelbe Frage; Das Amurgebiet und die Amurbahn; Nach Transbaikalien; Heimwärts durch Sibirien.
Das Ende seiner Reise bildete also das Amur-Gebiet. Im Amur-Tal im Norden der Grenze zu China, nördlich von Wladiwostok lebt in der Region von Khabarovsk (Abb. 9) das Volk der Ultschen (Wiki) (engl.: "Ulch people"). Nur noch etwas über 2000 Menschen gehören zu ihm.
Ultschen - Mongolen
Man möchte schon glauben, daß man sie äußerlich von den Nganasanen und Samen einerseits und von den Mongolen, Chinesen und Koreanern andererseits unterscheiden kann. Nach den feineren Unterschieden wollen wir aber an dieser Stelle nicht fragen. Es geht hier nur um eine erste Sichtung und einen ersten groben Überblick.
Die Ultschen leben am Fluß Amur in Nordsibirien als Fischer. Die ursprüngliche Sprache der Ultschen, die heute ausgestorben ist, soll der koreanischen Sprache nahegestanden haben. Und auch genetisch stehen sie den Koreanern und Japanern mehr als nahe (5-9). Man kann also sagen, daß sie frühe nordostasiatische Genetik repräsentieren, also ostasiatische Genetik vor dem Übergang zum Ackerbau.
Es wurde nun herausgefunden, daß ihre genetischen Vorfahren schon 5.700 v. Ztr. wenige hundert Kilometer weiter südlich an der heutigen Nordgrenze Koreas lebten. Jene Völker, die 5.700 v. Ztr. in Mittel- und Nordeuropa lebten (Ertebolle-Kultur an der Ostsee, Mesolithiker in Mitteleuropa, Bandkeramiker), sind heute längst ausgestorben! Wie in den letzten Jahren ebenfalls durch ancient-DNA-Forschung herausgekommen ist. - Die Ultschen leben bis heute in dieser entlegenen Gegend unvermischt weiter.
Abb. 9: Der Fluß Amur mit der Regional-Hauptstadt Khabarovsk (Ersteller: Kmusser von Wiki) |
In einer abgelegenen Region am Amur-Fluß, hat sich also ein so altes Volk in direkter genetischer Kontinuität erhalten.
Die Buschleute in Südafrika, die Andamanen auf den nach ihnen benannten Inseln, die australischen Ureinwohner - sie alle sind alte Völker, Urvölker, die es schon im Mesolithikum oder noch viel länger gegeben hat.
Die Ultschen haben übrigens auch längst den Ackerbau angenommen. Aber überhaupt scheint in Ostasien genetische Kontinuität über gesellschaftliche Transformationsvorgänge - wie die Annahme der seßhaften Lebensweise und des Ackerbaus - eher erhalten geblieben zu sein als in übrigen Teilen der Welt, wo solche Transformationsvorgänge sehr oft mit genetischem Umbruch und genetischem Austausch verbunden waren.
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*) Die Polarkreis-Eisenbahnlinie führt auf der Westseite des Urals übrigens durch die Gegend des berüchtigten Straflagers Workuta.
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- Postglacial genomes from foragers across Northern Eurasia reveal prehistoric mobility associated with the spread of the Uralic and Yeniseian languages. By Tian Chen Zeng, Leonid M. Vyazov, Alexander Kim, Pavel N. Flegontov, Kendra Sirak, Robert Maier, Iosif Lazaridis, (...) Johannes Krause, (...) Mark G. Thomas, (...) Ron Pinhasi, Vagheesh Narasimhan and David Reich. bioRxiv. posted 2 October 2023, http://biorxiv.org/content/early/2023/10/02/2023.10.01.560332?ct=ct
- Ein Kete am Jenissei-Ufer baut ein Kanu. In: Dmitry Vasyukov: Happy People. A Year in the Taiga. Russ. Film-Dokumentation 2010. Englisch besprochen von Werner Herzog (Wiki) - ab Minute 25'48 (Yt) (Archive)
- Fridtjof Nansen: Sibirien ein Zukunftsland. F.A. Brockhaus Verlag, Leipzig 1914, http://runeberg.org/sibirzuk/ (Archive)
- Peter Adler: Zwischen Europa und Asien - Auf Jamal. reportage + dokumentation, 09.06.2017, https://youtu.be/Cv3NbIY0wNI
- Alexander Khramov: Ulchi aus Primorje gelten als das älteste russische Volk, Infox.ru veröffentlicht am 3. Februar '17 16:37 Uhr, https://m.infox.ru/news/232/171234-ulci-iz-primora-priznany-samym-drevnim-rossijskim-narodom
- Maltseva, O. V., & Nesterov, S. P. (2014). Elements of the Inau Cult in Ethnic and Cultural Contacts of the southern Far East. Archaeology, Ethnology and Anthropology of Eurasia, 42(3), 106-116 (Researchgate)
- Veronika Siska, Eppie Ruth Jones, Sungwon Jeon, Youngjune Bhak, Hak-Min Kim: Genome-wide data from two early Neolithic East Asian individuals dating to 7700 years ago. In: Science Advances. Band 3, Nr. 2, 1. Februar 2017, S. e1601877, doi:10.1126/sciadv.1601877, https://advances.sciencemag.org/content/3/2/e1601877 (frei zugänglich)
- Ancient women found in Russian cave were close relatives of today’s indigenous population. Science Magazine, 2017, http://www.sciencemag.org/news/2017/02/ancient-women-found-russian-cave-were-close-relatives-today-s-indigenous-population
- Bading, Ingo: 8.000 Jahre lange unverfälschte genetische Kontinuität eines Fischervolkes - In Ostsibirien. St.gen., 5. Februar 2017, https://studgendeutsch.blogspot.com/2017/02/8000-jahre-lange-genetische-kontinuitat.html
- Fridtjof Nansen - Ein Leben für die Freiheit. Roald Amundsen - Held der Antarktis, Hörspiel 2011, https://youtu.be/MLdq_D1t51Y.
1 Kommentar:
6000 v. Ztr. gab es östlich des Ural, also im damaligen Gebiet der osteuropäischen Jäger und Sammler, die sich ggfs. mit westsibirischen Jägern und Sammlern vermischt hatten, schon komplexe Gesellschaften, die ihre Siedlungen mit Wällen und Palisaden umgaben (Antiquity2023, ScMag2023). Dieser Umstand läßt ggfs. auch einen Blick werfen auf den Ursprung der Indogermanen an der Mittleren Wolga.
(Lit.angaben dazu im Blogartikel selbst)
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