Samstag, 19. August 2023

Ötzi - Der "letzte Antatolier"

Der Ötzi war einer der letzten Menschen mit ziemlich reiner anatolisch-neolithischer Herkunft (3.200 v. Ztr.)
- Er war Repräsentant von Relikt-Bevölkerungen in den Alpen
- In seiner Heimatgegend hatte man sich die Genetik der bäuerlichen Vorfahren aus dem Frühneolithikum bewahrt

Durch die Fortschritte in der Archäogenetik der letzten Jahre sehen wir immer deutlicher: Völkergeschichte kennt über viele Jahrtausende hinweg Relikt-Bevölkerungen, "Letzte ihrer Art", die noch in abgelegenen Rückzugsgebieten leben, während sich die Bevölkerung rund um sie herum kulturell und genetisch mehrheitlich schon sehr deutlich weiter entwickelt hat. Diese Relikt-Bevölkerungen können entweder in der Folge aussterben oder aber auch beträchtlichen Einfluß nehmen auf die Ethnogenese neuer Völker.

Abb. 1: Der Ötzi und der Broion-Mensch als Repräsentanten von Relikt-Bevölkerungen in Rückzugsgebieten in der Kupferzeit, bzw. im Spätneolithikum (aus 1)

So haben Jahrhunderte und Jahrtausende lang die Nachkommen europäischen Fischer, Jäger und Sammler des Mesolithikums unvermischt an Meeres-, See- und Flußufern, sowie in Höhenlagen der Mittelgebirge und der Alpen Europas, sowie auf den britischen Inseln weiter gelebt, während die fruchtbaren Schwarzerdeböden rund um diese Rückzugsräume herum auf dem Kontinent schon lange von Bauern anatolisch-neolithischer Herkunft besiedelt waren.

Und so haben auch Nachkommen der ursprünglichen anatolisch-neolithischen Bauern des Frühneolithikums noch unvermischt Jahrhunderte und Jahrtausende lang in Rückzugsgebieten weiter gelebt, während rund um sie herum längst Menschen neuer Genetik und Kultur entstanden waren, nämlich die typischen Menschen des Mittelneolithikums mit einem erneut erhöhten Anteil einheimischer Fischer-, Jäger- und Sammler-Genetik.

Abb. 2: Die Geschichte der Herkunftsgruppen in Italien (aus: "Research in Estonia" 2021, pdf, bzw. Physics2021) (Grafik erstellt von Eugenio Israel Chávez Barreto)

Daß letzteres der Fall gewesen ist, zeigte sich schon verschiedentlich in archäogenetischen Studien zu den Epochen nach der Ankunft der Steppengenetik in Europa, also nach 2.900 v. Ztr.. So etwa in einer Studie zur Archäogenetik der bronzezeitlichen Schweiz, zu der wir festhielten (Stgen2021):

Noch fast 1000 Jahre nach der Zuwanderung der Indogermanen in die Schweiz findet man hier nämlich männliche Indogermanen verheiratet mit einheimischen Frauen, die immer noch die typische reine europäische mittelneolithische genetische Signatur aufweisen. Entweder stammen diese Frauen also aus Unterschichten, die sich in den bisherigen Gräbern sonst gar nicht finden. Oder sie stammen aus entlegenen Alpentälern, in die sich die Indogermanen erst sehr spät eingemischt haben.

Es traten hier immer wieder Menschen auf, die aus Verbindungen hervorgegangen waren mit Menschen recht ursprünglicher, sprich mittelneolithisch-europäischer Genetik. Insbesondere hatte man solche im Alpenraum vermuten müssen. Und - sicherlich auch auf der Suche nach ihnen - sind die Gene des berühmten Ötzi (Wiki), die Eismumie aus Südtirol, neu sequenziert worden (1).

Der Ötzi liefert einmal erneut auffallendste Erkenntnisse

Überraschenderweise zeigt sich aber, daß seine Genetik nicht einmal nur rein "mittelneolithisch" war, sondern viel eher der "frühneolithischen" nahe stand.

Ötzi hat zwischen 3350 und 3120 v. Ztr. gelebt, das heißt, in der Zeit vor der Ankunft der Steppengenetik in Mitteleuropa und in den Alpen. Diese Ankunft wird grob erst auf 2900 v. Ztr. datiert und ist erst in den letzten Jahren durch die Archäogenetik besser verstanden worden (Stgen2021).

Ötzi hatte nach dieser neuen Studie 91,4 % anatolisch-neolithische Genetik und 8,6 % westeuropäische Jäger-Sammler-Genetik (1).

Abb. 3: Die Höhlen von Broion, gelegen in einem der südlichsten Ausläufer der Alpen (Unimore.it)

Es gibt noch ein weiteres Individuum ähnlicher Zeitstellung, ebenfalls grob aus dem Alpenraum, das eine noch überraschend geringere Jäger-Sammler-Beimischung aufwies, also eine solche, die eher typisch war für das Frühneolithikum. Dieses Individuum wurde gefunden in einer Höhle genannt "Grottina dei Covoloni del Broion" (3) im Monte Brosimo bei Lumignano (s. a. Wiki), grob auf der Hälfte des Weges zwischen Garda-See (im Westen) und Venedig (im Osten), 80 Kilometer östlich des Gardasees und 60 Kilometer westlich von Venedig, außerdem zwischen Verona und Padua, die ebenfalls auf dem Weg liegen (GMaps). Die Autoren schreiben (1):

Nur Individuen aus dem kupferzeitlichen Broion in Italien, die südlich der Alpen gefunden wurden, weisen eine ähnlich niedrige Jäger-Sammler-Abstammung auf wie der Mann aus dem Eis. Wir kommen zu dem Schluß, daß sowohl der Mann aus dem Eis als auch der Mann aus Italien_Broion_CA.SG Vertreter spezifischer Chalkolithikum-Gruppen sein könnten, die höhere Anteile frühneolithischer bäuerlicher Genetik aufweisen als jede andere zeitgenössische europäische Gruppe. Dies könnte auf einen geringeren Genfluß aus Gruppen hinweisen, die stärker mit Jägern und Sammlern vermischt sind, oder auf eine geringere Populationsgröße von Jägern und Sammlern in dieser Region im 5. und 4. Jahrtausend v. Ztr..
Only individuals from Italy_Broion_CA.SG found to the south of the Alps present similarly low hunter-gatherer ancestry as seen in the Iceman.21 We conclude that the Iceman and Italy_Broion_CA.SG might both be representatives of specific Chalcolithic groups carrying higher levels of early Neolithic-farmer-related ancestry than any other contemporaneous European group. This might indicate less gene flow from groups that are more admixed with hunter-gatherers or a smaller population size of hunter-gatherers in that region during the 5th and 4th millennium BCE.

In der Tat werden ja den Jägern und Sammler des Alpenraumes nach der Neolithisierung der Alpentäler, unter denen auch die größeren noch vergleichsweise schmal sind, nur noch vergleichsweise wenig Rückzugsräume geblieben sein. Und weiter (1):

Wir schätzten das Vermischungsdatum zwischen frühneolithischen, bauernbezogenen (unter Verwendung von Anatolia_N als Stellvertreter) und WHG-bezogenen Abstammungsquellen unter Verwendung von DATES22 auf 56 ± 21 Generationen vor dem Tod des Mannes aus dem Eis, was 4880 ± 635 kalibrierter v. Ztr. unter der Annahme von 29 Jahren pro Jahr entspricht Generation. (...) Im Vergleich mit dem Zeitpunkt der Vermischung zwischen frühneolithischen Bauern und Jägern und Sammlern in anderen Teilen Südeuropas, beispielsweise in Spanien und Süditalien, stellten wir fest, daß insbesondere die Vermischung mit Jägern und Sammlern, wie sie beim Mann aus dem Eis und in Italy_Broion_CA.SG zu sehen ist, neueren Datums ist, was auf ein möglicherweise längeres Überleben von Jäger-Sammler-Vorfahren in dieser geografischen Region schließen läßt.
We estimated the admixture date between the early Neolithic-farmer-related (using Anatolia_N as proxy) and WHG-related ancestry sources using DATES22 to be 56 ± 21 generations before the Iceman’s death, which corresponds to 4880 ± 635 calibrated BCE assuming 29 years per generation. (...) While compared with the admixture time between early Neolithic farmers and hunter-gatherers in other parts of southern Europe, for instance in Spain and southern Italy, we found that, particularly, the admixture with hunter-gatherers as seen in the Iceman and Italy_Broion_CA.SG is more recent (Figure 3B; Table S3), suggesting a potential longer survival of hunter-gatherer-related ancestry in this geographical region.

Das genannte Datum würde auf die Zeit des Untergangs der Bandkeramik hindeuten, auf den Beginn des Mittelneolithikums. Welche Vorgänge genauer dafür verantwortlich waren, wird man beim gegenwärtigen Zeitpunkt nur erahnen können. Denn die Neolithisierung des Alpenraumes erfolgte ja eigentlich erst ab 4.300 bis 4.100 v. Ztr. im Rahmen der sogenannten "tertiären Neolithisierung" (Stgen2011).

Abb. 4: Neolithische Kulturen in der Schweiz (Stöckli1995) - "Cortaillod" sind auch bäuerliche Kulturen

Und sie dürfte vom Süden her von vergleichsweise anderen Kulturen erfolgt sein als von Norden her, wobei sich die Genetik nicht sehr stark unterschieden haben braucht.

Auf jeden Fall ist nichts naheliegender als ein längeres Überleben von Jägern und Sammlern im Alpenraum. Etwas ähnliches sehen wir ja auch beispielsweise in den Karpaten oder im Ostseeraum. Von dieser Perspektive her, würde das Vermischungsereignis unter den Vorfahren des Ötzi sogar vergleichsweise früh gelegen haben. 

Auf Verbreitungskarten - beispielsweise zur Neolithisierung der Schweiz (Abb. 4) - sieht man deutlich, daß weite Gebiete der Zentralalpen über Jahrtausende hinweg offenbar nicht von bäuerlicher Bevölkerung besiedelt waren. Nur bäuerliche Kulturen sind überhaupt eingetragen und wurden bislang überhaupt behandelt für diese Zeiträume von Seiten der Forschung (5). Vielleicht deuten diese Ausführungen auf eher ursprüngliche Bevölkerungen (5):

Eine spezielle Problematik zeigt die Nordschweiz und das mittlere Juragebiet, wo viele Fundkomplexe mit zahlreichen sogenannten Dickenbännlispitzen bekannt sind, aber kaum Keramikscherben enthalten. Die Dickenbännlispitzen sind nach Vergleichsfunden in der Ostschweiz ab etwa 4500 v.Chr. bis ins 4. Jahrtausend v. Chr. zu datieren. Kulturell war das Gebiet nach Mitteleuropa ausgerichtet.

Vielleicht stammt Ötzi von Populationen ab, die ursprünglich am Rande der Alpen gelebt haben (so wie auch der Mann von Broion), und die sich dann von dort aus weiter in die Alpen hinein ausgebreitet haben während des 5. und/oder 4. Jahrhunderts v. Ztr.. Wir lesen (4):

Vielleicht blieben in der Bergregion beide Gruppen (Bauern und Jäger und Sammler) länger unter sich als anderswo in Europa.

Es ist ja auch auffallend genug, daß Ötzi selbst eher die Lebensweise von Jägern und Sammlern gelebt hat in den Zentralalpen, dabei er aber in stetiger Verbindung mit bäuerlichen Kulturen in den Tälern stand.

 Abb. 6: Rekonstruktion der Ötzi-Mumie, Vorgeschichtliches Museum Quinson, Provinz Alpes-de-Haute, Frankreich 2011 (Wiki) (Fotograf: "120")

Auf jeden Fall haben wir jetzt mit dem Ötzi einen Menschen vor uns, der mehr als alle anderen Funde und Befunde bisher als gültiger Repräsentant des Phänotyps der anatolisch-neolithischen Bauern gelten darf. Wir lesen (2):

Ötzi hatte eine noch dunklere Haut als bisher angenommen. „Es ist der dunkelste Hautton, den man in europäischen Funden aus derselben Zeit nachgewiesen hat“, erklärt Co-Autor Albert Zink vom Institut für Mumienforschung bei Eurac Research in Bozen. Ötzis Haut war demnach stärker pigmentiert als die der heutigen Bewohner Sardiniens oder andere Mittelmeerpopulationen. Das wirft auch ein neues Licht auf die Mumie des Gletschermannes: „Man dachte bisher, die Haut der Mumie sei während der Lagerung im Eis nachgedunkelt, aber vermutlich ist, was wir jetzt sehen, tatsächlich weitgehend Ötzis originale Hautfarbe“, sagt Zink. „Dies zu wissen, ist natürlich auch wichtig für die Konservierung.“ 
Die bisherige Vorstellung zum Aussehen von Ötzi stimmen offenbar auch in Bezug auf die Haare nicht: Bisherige Rekonstruktionen zeigten den Gletschermann immer mit langem, leicht gewelltem braunen Haupthaar und einem dichten Bart. Doch eine mit frühem Haarverlust verknüpfte Genvariante in seinem Genom legt nun nahe, daß Ötzi zum Zeitpunkt seines Todes wahrscheinlich eine Glatze oder höchstens noch einen schütteren Haarkranz besaß. „Das ist ein relativ eindeutiges Ergebnis und könnte auch erklären, warum bei der Mumie fast keine Haare gefunden wurden“, sagt Zink. Ein erhöhtes Risiko für Übergewicht und Diabetes Typ 2 lag ebenfalls in Ötzis Erbanlagen, kam jedoch dank seines gesunden Lebensstils wahrscheinlich nicht zum Tragen. (...) 
„Die Genomanalysen enthüllten phänotypische Merkmale wie eine starke Hautpigmentierung, dunkle Augenfarbe und männliche Glatzenbildung, die in starkem Kontrast zu früheren Rekonstruktionen stehen“, sagt Krause. (...) Elisabeth Vallazza, Direktorin des Südtiroler Archäologiemuseums, in dem eine auf den früheren Erkenntnissen basierende Rekonstruktion steht, kommentiert dazu: Bei der im Museum ausgestellten Ötzi-Figur stehe ein anderer Aspekt im Vordergrund: „Es ging dabei vor allem darum, zu zeigen, daß Ötzi ein moderner Mensch war: mittleren Alters, tätowiert, drahtig, wettergegerbt, ein Mensch wie du und ich“, so Vallaza. Eine Überarbeitung der Rekonstruktion sei derzeit nicht vorgesehen.

Ötzi war uns modernen Menschen also fremder als bislang angenommen. So wie der Menschentyp der Bandkeramiker auch und so wie der Menschentyp der antolisch-neolithischen Völkergruppe. Dieser Menschentyp ist heute ausgestorben. Seine Herkunft ist aber heute im Mittelmeer-Raum noch am häufigsten vertreten, vermischt mit Steppen-Genetik, sowie westeuropäischer Jäger-Sammler-Genetik. Wir lesen (4):

Vergleiche (zum Ötzi) sind rar, denn aus dem Alpenraum sind nur wenige Gendaten der Jungsteinzeit bekannt. Diese Lücke wollen die Forscherinnen und Forscher um Zink bald füllen. "Wir arbeiten gerade an der Untersuchung von Skelettfunden aus dem Raum Südtirol/Trentino, aus dem Neolithikum bis zur Bronzezeit", berichtet Zink. "Wir erhoffen uns dadurch ein besseres Verständnis, ob Ötzi ein typischer Vertreter seiner Zeit war (also innerhalb des Alpenraumes) oder sich von anderen Individuen unterschied."

Ergänzung 22.8.23: Der "Mann aus dem Eis" könnte also auch schon zu seiner Zeit - rein phänotypisch - einer Minderheitenbevölkerung angehört haben und ist womöglich sogar schon deshalb als gesellschaftlicher "Außenseiter" verfolgt worden.

___________________

  1. Ke Wang, Kay Prüfer, Ben Krause-Kyora, Albert Zink, Stephan Schiffels, Johannes Krause u.a.: High-coverage genome of the Tyrolean Iceman reveals unusually high Anatolian farmer ancestry. Cell Genomics 16. August 2023, DOI:https://doi.org/10.1016/j.xgen.2023.100377, https://www.cell.com/cell-genomics/fulltext/S2666-979X(23)00174-X
  2. Nadja Podbregar: „Ötzi“ hatte dunkle Haut und kaum noch Haare (BdW 2023)
  3. Tina Saupe, Francesco Montinaro u.a. (Christiana L. Scheib): Ancient genomes reveal structural shifts after the arrival of Steppe-related ancestry in the Italian Peninsula. In: Current Biology 2021 https://www.cell.com/current-biology/fulltext/S0960-9822(21)00535-2
  4. Karin Schlott (Spektrum 2023
  5. Stöckli, Werner E.: "Neolithikum", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 07.09.2010. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008012/2010-09-07/, konsultiert am 19.08.2023.

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