Der emeritierte Archäologie-Professor Jens Lüning ist in den 1970er Jahren bekannt geworden durch die "Braunkohle-Archäologie". Durch diese konnte er nicht nur einzelne bandkeramische Siedlungen (Wiki), sondern ganze Siedlungskammern - anfangs insbesondere im Rheinland - ganz neu verstehen. 1979 bis 1985 hat Lüning auch eine sehr frühe bandkeramische Siedlung in Unterfranken am Main ausgegraben, bei dem Dorf Schwanfeld zwischen Schweinfurt und Würzburg. Dort gibt es seit 2010 sogar das "Bandkeramikmuseum Schwanfeld" (Wiki) (Abb. 1).
Abb. 1: Figurinen aus bandkeramischen Siedlungen - Nachbildungen im Bandkeramikmuseum Schwanfeld am Main (Wiki) (Fotograf: Ana al'ain) |
Jens Lüning war es auch gewesen, der erstmals - wenn wir es recht in Erinnerung haben: in den 1990er Jahren - postuliert hatte, daß Siedlergruppen aus bandkeramischen Siedlungen an der jeweiligen Siedlungsgrenze über 30 Kilometer entfernt inmitten des unberührten damaligen geschlossenen europäischen Lindenwaldes neue Siedlungen begründet hätten, und daß die unbesiedelten Zwischenräume erst in nachfolgenden Generationen aufgesiedelt worden wären.
Der kühne Vorschlag zweier angesehener Bandkeramik-Forscher
Das schien vor zwanzig Jahren noch eine kühne These zu sein. Aber die auffallend schnelle Ausbreitung der Bandkeramik über ganz Mitteleuropa hinweg, nämlich vom Wiener Becken aus bis an die Kanalküste einerseits und bis in die Ukraine andererseits mußte ja irgendwie erklärt werden.
Neuerdings macht Jens Lüning aber Vorschläge, die noch um ein Beträchtliches über dieses kühne Modell von vor zwanzig Jahren hinaus gehen (1): Er macht nämlich den Vorschlag einer Ausbreitungsbewegung von Bauern über fünfhundert Kilometer hinweg innerhalb von nur einer Generation. Er schlägt also vor, daß bandkeramische Siedler derselben Generation sich direkt vom Wiener Becken aus in Unterfranken zwischen Schweinfurt und Würzburg angesiedelt hätten (1).
Was für ein kühner Vorschlag. So viel Kühnheit in der Hypothesenbildung ist man ja von den heutigen, so vorsichtig vorgehenden Forschern gar nicht mehr gewohnt. Und man reibt sich ein wenig verwundert die Augen.
Für diese These hat sich Jens Lüning zusammen getan unter anderem mit dem Wiener Archäologen Peter Stadler, der in den beiden letzten Jahrzehnten südlich von Wien, dort wo die bandkeramische Kultur einstmals ihren Ursprung hatte, die sehr frühe und lange Jahrhunderte bestehende, bedeutende bandkeramische Siedlung Brunn am Gebirge ausgegraben hat.
Brunn am Gebirge südlich von Wien ist über fünfhundert Kilometer von dem Fundort Schwanfeld in Unterfranken bei Schweinfurt entfernt. Dennoch schreiben die beiden Archäologen - zusammen mit zwei Koautoren (1):
Die Fundstellen von Brunn 3 in Österreich und Schwanfeld in Deutschland lassen sich in die frühe Phase der linearbandkeramischen Kultur (LBK) einordnen. Komplexe mit archaischen Keramiktypen definieren ihre Stellung unter den frühesten Fundplätzen, die chronologisch gesehen auf die Formative Phase dieser Kultur folgten.
Die Formative Phase war wohl auf den Raum zwischen Plattensee und Wiener Becken beschränkt und ist mehrfach hier bei uns auf dem Blog behandelt worden. Eine auf diese Formative Phase folgende Phase wird nun neuerdings - seit 2021 - von den Archäologen "Milanove-Phase" benannt (wohl nach einem Fundort in Ungarn). Sie schreiben weiter (1):
Beide Fundorte weisen seltene gemeinsame Formen von Keramik und Verzierungen auf, sowie Gebäude mit ähnlichen trapezförmigen Grundrissen. Haus 16 der Schwanfelder Siedlung und Haus 38, Fundstelle 3 der Siedlung von Brunn am Gebirge können aufgrund ihrer Übereinstimmungen zu Recht als architektonische Zwillinge bezeichnet werden. Zum ersten Mal stellen wir das Phänomen baugleicher Häuser vor, die geographisch gesehen weit voneinander entfernt liegen.Eine Besonderheit von Haus 16 von Schwanfeld ist sicherlich das sogenannte Gründergrab, bei dem es sich um ein männliches Individuum handelt und von den Ausgräbern aufgrund der Beigaben als Jäger oder Krieger angesprochen wird (Lüning, 2011, 5). Es handelt sich hierbei um eine Sonderbestattung innerhalb einer großen Grube mit einer sehr frühen Datierung von 5484 v. Chr. (Lüning, 2011, 5). Interessanterweise gibt es auch gewisse Parallelen zu den ältesten Häusern der Formativen Phase von Brunn am Gebirge, die sich im Bereich der Fundstelle 2b befinden. Eines dieser Häuser, Haus 11, weist eine Datierung von 5525-5453 v. Chr. auf (Stadler & Minnich, 2021, Tab. 9.2) und zeigt deutliche Parallelen zum Nachbarhaus von Haus 16 aus Schwanfeld, bei dem es sich um Haus 15 handelt.Neben vergleichbaren Radiokarbondaten, die natürlich mit einer gewissen Vorsicht zu behandeln sind, Ähnlichkeiten in der Keramikdekoration und ihren Formen, spielen auch architektonische Übereinstimmungen eine wichtige Rolle, die gegen eine Zufälligkeit sprechen. Daher bringen wir die Entstehung des Schwanfelder Fundplatzes mit der Migration von Menschen aus dem Wiener Becken in Verbindung.
Das hieße also, daß Menschen aus dem Wiener Becken direkt nach Unterfranken gewandert wären, und daß beide hier genannten Häuser höchstens 20 Jahre voneinander versetzt erbaut worden wären, wenn nicht noch kürzer voneinander versetzt.
Die Mobilitätsspielräume mesolithischer Völker
Man wird all das vielleicht vor dem Hintergrund sehen können, daß "mesolithisch lebende" Völker - wie noch heute die hier auf dem Blog in diesem Jahr schon behandelten Chanten und Mansen in Westsibirien - ganz natürlicherweise Mobilitätsspielräume über viele hundert Kilometer aufgewiesen haben. Sie hatten Aufenthaltsgebiete im Sommer und im Winter, je nach Ressourcenangebot und Lebensbedingungen vor Ort (z. B. Rentier-Weiden, Fischfang-Gründe, Jagd auf Wild mit Fallen etc.). Da ist es natürlich denkbar und naheliegend, daß bäuerliche Gesellschaften, die ihnen folgten, und die aus ihnen dahingehend hervorgegangen sind, daß sie - vor allem anfangs - eine Mischbevölkerung darstellten aus einheimischen Mesolithikern und zugewanderten (genetisch anatolisch-neolithischen) Bauern, nicht über geringere Mobilitätsspielräume verfügt zu haben brauchen. So schließen wir gedanklich an diese, uns sehr kühn anmutende These an.
So hat eine litauische Forschungsgruppe anhand der
chemischen Zusammensetzung der Knochen von mesolithisch lebenden "osteuropäischen Jägern und Sammlern" (Wiki) in Litauen postuliert, daß sich diese während ihres Lebens über einen Aktionsraum von bis
zu 85 Kilometern hinweg bewegt haben (3).
Außerdem ist ja sowieso schon lange bekannt, daß die Bandkeramiker auch noch in späterer Zeit bestimmte Gesteinsarten für die Herstellung von Steinwerkzeugen über viele hundert Kilometer hinweg von Siedlungskammer zu Siedlungskammer transportiert haben (von Böhmen nach Schlesien, von Böhmen nach Bayern usw.).
Es wird sogar aufgrund bestimmter Hinweise vermutet, daß der erwähnte, in Schwanfeld bestattete Jäger aus dem böhmischen Gebirge stammte (s.a. Wiki).
Es werden auch die archäogenetischen Daten erwähnt, nach denen in der frühen bandkeramischen Siedlung Brunn am Gebirge anfangs noch Menschen lebten, die einen deutlich höheren Anteil einheimischer mesolithischer Genetik aufgewiesen haben als das in der späteren, klassischen Zeit der Bandkeramik über ganz Mitteleuropa hinweg der Fall gewesen ist.
Da dämmert einem die Vermutung, daß die anatolisch-neolithische Genetik sich in der Formativen Phase der Bandkeramik (zwischen Plattensee und Wiener Becken) ebenso wie noch während der hier behandelten weiten Ausbreitungsbewegung der "Milanove-Phase" der Bandkeramik noch nicht so stark innerhalb dieser Kultur durchgesetzt hatte, wie es ziemlich bald darauf danach geschehen sein muß (nach der Fülle der archäogenetischen Daten, die wir aus der "klassischen" Zeit der Bandkeramik inzwischen haben).
Nachdem man von einer dynamischen, demographischen und räumlichen Ausbreitung der Entwicklung der bandkeramischen Kultur mehr in eine statische Entwicklung überging, mag sich zugleich auch erst die anatolisch-neolithische Genetik wirklich durchgesetzt haben. Das ist vorläufig natürlich nur eine Hypothese.
Auf jeden Fall ging dann der einheimische mesolithische genetische Herkunftsanteil ziemlich schnell und einheitlich auf sieben Prozent zurück. Das stellt übrigens eine mehr als auffallender Parallele dar zu den sieben Prozent herkunftsmäßigem indogermanischen Steppenanteil bei den spätbronzezeitlichen und antiken Griechen in der Ägäis. Wenn die antiken Griechen von ihrer Kultur her so "indogermanisch" sein konnten wie sie vor der Geschichte dastehen, obwohl sie nur sieben Prozent indogermanischer Genetik in sich trugen, wird man auch den Bandkeramikern viel mehr einheimische, europäische kulturelle Charaktermerkmale unterstellen können als dies allein von ihrer Genetik her abzulesen wäre.
Europaweiter Vergleich von Keramikinventaren
Durch den europaweiten Vergleich von Keramikinventaren von quasi "repräsentativen" bandkeramischen Siedlungen - damit meinen wir solche Siedlungen, die einerseits reich sind an Keramik, in denen andererseits sich aber ausreichend auch Keramikmaterial von nur kurzzeitig bestehenden Keramikstilen findet - durch einen solchen Vergleich jedenfalls kann die zeitliche Abfolge und der räumliche Ausbreitungsmodus der bandkeramischen Siedlungen inzwischen noch genauer eingegrenzt werden als das in früheren Jahrzehnten möglich gewesen ist (1).
Die bandkeramische Siedlung in Schwanfeld am Main in Unterfranken wird - aufgrund solcher europaweiter stilistischer Vergleiche von gut ausgewählten, repräsentativen Keramikinventaren - als eine der ältesten bandkeramischen Siedlungen in ganz Deutschland angesehen. Und von dieser Erkenntnis her wird geschlußfolgert (1):
Es ist möglich, eine Ausbreitungsbewegung anzunehmen von Einwohnern der Brunn 3-Siedlung oder verwandter Volksteile die Donau abwärts und später in das Maintal. Schwanfeld ist derzeit der einzige Fundplatz, der den Beginn dieser Ausbreitungsbewegung markiert. Eine Gruppe jüngerer Fundorte (Wang im Donautal, Buchbrücken im Maintal und Eitzum im Wesertal) zeigen die weitere Entwicklung der Ausbreitung während der späten Unterphase der "Milanove-Phase". Auffallende architektonische Ähnlichkeiten mit den Häusern von Brunn 3 kann ebenso für diese Gruppe demonstriert werden. Es ist möglich, daß all diese deutschen Fundorte eine eigene Gruppe bilden, die synchrone Existenz mit österreichischen Fundorten aufweist.It is possible to assume a migration of the Brunn 3 inhabitants or related people upstream of the Danube and later to the Main drainage. Schwanfeld is now the only site in Germany which marks the beginning of this migration. A group of younger sites (Wang in the Danube drainage, Bruchenbrücken in the Main drainage, and Eitzum in the Weser drainage) demonstrates the further development of migrants during the late subphase of the Milanovce phase. Significant architectural similarities with the houses of Brunn 3 could also be documented for this group. It is possible that all these German sites create an own arch of the parabola (light purple), which shows their synchronous existence with the Austrian sites.
An den weiteren genannten, nächstjüngeren Fundorten zwischen Donau und Weser wird deutlich, daß die Forscher die vermutete geographische und damit verbundene demographische Dynamik der Bandkeramik auch für die gleich darauf folgende Phase noch in ebenso starkem Maße annehmen.
Zusammen gefaßt also: Innerhalb einer Generation sind nicht 30 Kilometer überwunden worden, sondern: 500.
Allerdings hatten wir hier auf dem Blog auch schon auf Hinweise aufmerksam gemacht, daß auf dem Weg von Wien nach Schweinfurt etwa in der Gegend von Passau eine Kulturgrenze überschritten worden sein könnte, erkennbar an dem Verbreitungsraum eines bestimmten Pfeilspitztyps im mesolithischen und auch noch im darauffolgenden neolithischen Europa (Stgen2022) (2).
Man möchte fast annehmen, daß Menschen einheimischer, europäischer mesolithischer Genetik quasi die "Wegbahner" für diese Bauernkultur gewesen sein könnten in weit entfernte Gebiete hinein, bis hinauf ins Wesertal, daß ihre Genetik aber schon nach wenigen Generationen - dennoch - in diesem Bauernvolk auf sieben Prozent zurück gegangen, zurück gedrängt worden ist (auf friedlichem, demographischem Weg). Quasi nachdem ein solcher, verwegener Pioniergeist nicht mehr von Nöten war und die Menschen "gesetzter" werden konnten.
"Die einheimischen Jäger und Sammler haben die Bandkeramik erfunden"
Ergänzung 27.10.22: Schon Anfang 2014 hatte Jens Lüning fest gehalten (4):
Nach Gronenborn (1994 b; 1999) wanderten die bandkeramischen Bauern auf ihrem Weg nach Westen vom Plattensee bis zum Rhein in ein von Jägern und Sammlern dünn besiedeltes Gebiet ein. Sie folgten dabei einem schon lange bestehenden, mesolithischen Netz von Verbindungen und Beziehungen und übernahmen speziell in Südwestdeutschland Feinheiten der einheimischen Silextradition so umfassend - es war also nicht ein simples Eintauschen von Geräten, wie manchmal vermutet wird, daß auf eine rasche und auch biologisch-genetische Integration der dortigen Jäger und Sammler geschlossen wurde. Durch Inna Mateiciucová wurde später auch der östliche Bereich der ältesten Bandkeramik genauer aufgearbeitet, wobei sie darauf hinwies, daß die dortige Silextechnik „keine Tradition ist, die aus dem Frühneolithikum des Balkans stammt“, sondern aus dem noch unzureichend bekannten „lokalen Spätmesolithikum tradiert worden sein“ dürfte. Folglich seien es die einheimischen Jäger und Sammlerinnen gewesen, die unter Einfluß der Starčevokultur die Bandkeramik „erfunden“ hätten (Mateiciucová 2003, 315; 2008)Für den Vergleich mit den aDNA-Analysen ist auch die archäologische Diskussion darüber wichtig, wie viele Menschen eigentlich an der ältestbandkeramischen Einwanderung teilgenommen haben. Das Spektrum reicht von einer „kraftvollen Einwanderung“ in die Gebiete westlich bis zum Rhein (Lüning 1996, 46), hinter der wie Jörg Petrasch (2001, 13 f.) später ausführlich vorrechnete, ein „drastischer Bevölkerungszuwachs“ im Entstehungsgebiet nördlich des Plattensees die Grundlage geschaffen haben könnte, über ein erstes, lockeres Netz von weit gestreuten Pioniersiedlungen als Kerne eines zukünftigen lokalen Landesausbaus (Gronenborn 1994 a, 51; Petrasch 2001, 17), ein Netz, das nach „Regeln“ strategisch geplant in Besitz genommen wurde (Frirdich 2005, 99f.), bis hin zu einem religiös-kulturellen „Missionierungsvorgang“, der von nur relativ wenigen bandkeramischen Personen und Familien getragen wurde, die die Masse der einheimischen Bevölkerung „bekehrten und belehrten“ (Lüning 2006).
Die letztere Hypothese wird wohl nach dem heutigen Forschungsstand ausgeschlossen werden können. Aber alles andere sind in letzter Konsequenz sehr spannende Ausführungen.
Wenn wir bedenken, daß auch in den antiken Griechen acht Prozent Steppengenetik als Einmischung übrig blieben, nachdem sich durch Träger dieser Genetik bei ihnen eine völlig neue Sprache, Kultur und Religion ausgebreitet hatte, so wird man eine ähnliche anteilige anfängliche Kulturgestaltung der Bandkeramik durch die mesolithischen Jäger und Sammler, von deren Genetik dann zuletzt doch nur noch acht Prozent in der Bevölkerung erhalten blieb, nicht von vornherein verwerfen können.
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- Nadezhda Kotova, Alexander Minnich, Jens Lüning, Peter Stadler: Brunn 3 and Schwanfeld. Common features in the ceramics and housebuilding of the earliest Milanovce phase sites in Austria and Germany. Archäologische Informationen 45, Early View, published online 29 July 2022 (Rg), auch https://dguf.de/fileadmin/AI/archinf-ev_kotova-etal.pdf
- Erwin Cziesla: Der Nachweis indigener, mesolithischer Bevölkerungsteile in bandkeramischen Siedlungen. In: Wolfram Schier, Jörg Orschiedt, Harald Stäuble, Carmen Liebermann (Hrsg.): Mesolithikum oder Neolithikum? Auf den Spuren später Wildbeuter. Tagungsbeiträge von 2014, 2021
- Piličiauskas, G., Simčenka, E., Lidén, K. et al. Strontium isotope analysis reveals prehistoric mobility patterns in the southeastern Baltic area. Archaeol Anthropol Sci 14, 74 (2022). https://doi.org/10.1007/s12520-022-01539-w, Published29 March 2022, https://link.springer.com/article/10.1007/s12520-022-01539-w (Rgt)
- Lüning, Jens: Einiges passt, anderes nicht: Archäologischer Wissensstand und Ergebnisse der DNA-Anthropologie zum Frühneolithikum,Archäologische Informationen 37, 2014, 43 -51, Online 16.1.2014 (Acad)
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