Samstag, 5. Mai 2012

Die lange "Vorbrennphase" der "Neolithischen Revolution"

Ein um zehntausend Jahre verlängerter Vorlauf des Neolithikums im Vorderen Orient

Das Wichtigste in Kürze: Um 18.000 v. Ztr. hat es in einer Oase 70 Kilometer östlich von Amman (am östlichsten Rand des bis heute bekannt gewordenen Verbreitungsgebietes der damaligen Kulturstufe des "Kebaran") eine halbseßhafte Siedlung von einer Größe gegeben, wie sie - nach heutigem Wissensstand - erst wieder ab 9.500 v. Ztr. mit der vollneolithischen Lebensweise erreicht worden ist (s. Wiki). Die halbseßhafte "Vorlaufphase" zur vollneolithischen Lebensweise, in der offenbar die neue Lebensweise in vielen tausenden von Jahren um evolutionäre Stabilität rang, dauerte somit nicht 3.000, sondern 13.000 Jahre.

Vor fünfzehn Jahren war die Erkenntnis spannend, daß die ersten Ackerbaukulturen nicht fünf-, sondern zehntausend Jahre alt sind. Bis in die 1980er Jahre hinein wurde dabei die "neolithische Revolution" von der Forschung auch als ein einmaliger großer gewaltiger Akt angesehen. Aber in den 1980er und 1990er Jahren breitete sich dann die Erkenntnis aus, nicht nur daß die Neolithische Revolution fünftausend Jahre vorher stattgefunden hat als bis dahin gedacht, sondern daß die neolithische Lebensweise der Menschheit dabei auch - sozusagen - wie eine dreistufige Rakete startete (4-6). Diese Erkenntnis wurde damals unter anderem recht anschaulich popularisiert durch den Wissenschaftsjournalisten Roger Lewin (Abb. 1).


Abb. 1: Neolithische Revolution - frühere und heutige Vorstellung (aus: Roger Lewin, 1992)

Diese drei Stufen hießen (und heißen noch heute) im Fachjargon: Kebaran --> Natufium --> PPNA / PPNB. Also: kleine umherziehende Jäger-Sammler-Verbände --> halbseßhafte Erntevölker --> Dorfkultur / Stadtkultur. Einen vielleicht ganz brauchbaren Forschungsüberblick habe ich dazu einmal 1995 in einer Seminararbeit gegeben (6). Diese Stufenabfolge ist auch noch einmal in Abbildung 2 differenzierter - zusammen mit den jeweiligen Siedlungsgrößen dargestellt.

Abb. 2: Die Kulturstufen der neolithischen Revolution (aus: T. Molleson, 1994, ergänzt durch I.B.)

Bis zum gegenwärtigen Jahr 2012 hatte man nun angenommen, daß diese "Rakete" zwar dreistufig gestartet sei, aber praktisch "aus dem Stand" losgeflogen wäre, daß die Menschen im Vorderen Orient bis zum Start jener "Rakete" um 12.000 v. Ztr. (14.000 v. h.) dort immer noch so gelebt hätten - vor allem mit ähnlicher Siedlungsdichte -, wie noch heute die Buschleute in Südafrika in der Kalahari.

Doch spätestens seit Anfang dieses Jahres wissen wir: die erste Stufe dieser Rakete "Neolithische Revolution" mußte sage und schreibe siebentausend Jahre länger brennen, als bislang bekannt, um jene ausreichende Beschleunigung zu erlangen, die schließlich dazu ausreichte, den weit entfernten Planeten "Dorfkultur"/Ackerbau zu erreichen (und von dort aus dann - über weitere Brennstufen - den noch viel weiter entfernten Planeten "industrielle Revolution", auf dem wir heute leben). Was also haben wir dieser dreistufigen Rakete alles zu verdanken! Was wäre passiert, wenn ihr zwischendurch der Brennstoff ausgegangen wäre? (Wenn wir nur diesen Brennstoff überhaupt schon kennen würden.) Aber wieviel mehr noch haben wir vielleicht nun ihrer vieltausendjährigen "Vorbrenn"-Zeit zu verdanken?!

Diese erste genannte Stufe "Natufium" hatte beinhaltet: Halbseßhaftigkeit aufgrund des Jagens großer Gazellenherden und des Erntens von wildem Getreide. Diese Kennzeichen galten als das menschheitsgeschichtlich Neue der Kulturstufe des Natufium (12.000-9.000 v. Ztr.) (Wiki). Jene Kulturstufe, in der in der heutigen Südtürkei auch das berühmte Bergheiligtum von Göbekli Tepe (11.000 v. Ztr.-8.000 v.Ztr.) (Wiki) entstanden ist. Seit Kurzem wissen wir nun: Auch das Entstehen dieses Bergheiligtums war der Endpunkt nicht eines vielleicht 2.000-tausendjährigen "Brennens" der Raketenstufe "Natufium", sondern der Endpunkt eines sieben- bis zehn-tausendjährigen "Brennens", nämlich mitsamt der Kulturstufe des vorausgehenden Kebaran (21.000-12.000 v. Ztr.) (Wiki) zusammen. Klar ist: die ersten Tempel entstanden, noch bevor die Siedlungs- und Lebensformen Stadt, Dorf oder Vollseßhaftigkeit überhaupt erreicht waren. Sprich: Die Rakete der Götter der Menschen beschleunigte noch früher, als die der Menschen selbst ... (- ... Und vielleicht war das ja schon ein Teil des Brennstoffes? ....)

Die dreistufige Rakete "Neolithische Revolution"

Jedoch: Von den Göttern der Menschen, die in den zehntausend Jahren Vorbrennzeit vor dem Natufium lebten, also in der ihm vorausgehenden Kulturstufe des Kebaran (21.000-12.000 v. Ztr.)(Wiki), wissen wir bis heute noch so gut wie nichts. Auffallenderweise. Wenn aber auch diese Kulturstufe schon gekennzeichnet sein sollte durch das Merkmal der Halbseßhaftigkeit, wie seit Anfang dieses Jahres bekannt (1), dann bekommt das Neolithikum einen (Brenn-)Vorlauf, der bis in die Zeit zurückreicht, in der in Europa die Renntierjäger der Eiszeit ihre kunstvollen Höhenmalereien und Elfenbeinfigurinen ausgestalteten.

Abb. 3: Verbreitungsgebiet der Kultur des Kebaran mit dem östlichen Außenposten Kharaneh IV

Schon vor zehn Jahren war an einer Ausgrabungsstätte am See Genezareth (Ohalo, engl., Arch.) eine 21.000 Jahre alte Siedlung gefunden worden (bdw 2001), die 2.000 Quadratmeter (0,2 Hektar) umfaßte. So ungewöhnlich sie erscheinen mußte, hatte sie doch bis heute noch als eine Art "merkwürdiger Einzelfall" gelten können. Doch in diesem Jahr wird eine etwa zeitgleiche Siedlung 70 Kilometer östlich von Amman in Jordanien (vgl. Abb. 1) bekannt, die sogar schon zehnmal so groß war wie jene Siedlung am See Genezareth, nämlich 21.000 Quadratmeter (2,1 Hektar) umfaßte. Ihr Name: "Kharaneh IV" (s.a. Wiki) (1):

Kharaneh IV is unparalleled in size and artifact density for the entire Epipalaeolithic, Natufian included.

"Natufian included" schreiben die Forscher! Was in diesen beiden Worten enthalten ist. Das heißt, für die Zeit seit 18.000 v. Ztr. hat es bis zum Beginn der vollneolithischen Lebensweise des PPNA ab etwa 9.500 v. Ztr. nach heutigem Kenntnisstand nie wieder eine so große Siedlung gegeben, wie am östlichsten Rand des derzeit bekannten Verbreitungsgebietes der Kultur des Kebaran um - - - 18.000 v. Ztr. (s. Abb. 2). Und das, obwohl das Natufium mehrere Jahrtausende umfaßte und archäologisch vergleichsweise gut erforscht ist. - Mußte etwa bei der Raketenzündung selbst mehr Energie aufgewendet werden, als im nachmaligen "Brennvorlauf"? Die Forscher schreiben (2):

Die letzte Phase des Epipaläolithikums, die dem Neolithikum unmittelbar voraus geht
(also das Natufium ab 12.000 v. Ztr.)
ist bei weitem die am besten erforschte was ihren kulturellen und wirtschaftlichen Beitrag betrifft zu Fragen des Ursprungs des Ackerbaus. Erst jüngst erkennen die Archäologen die früheren Phasen des Epipaläolithikums 
(also das Kebaran ab 20.000 v. Ztr.)
als kulturell dynamischer und der späteren Natufium-Phase ähnlicher als bislang gedacht. Das frühere Epipaläolithikum wird zunehmend erkannt als eine Phase, die jene Variabilität der Lebensweise und der Innovationen demonstrieren, die helfen, den wirtschaftlichen, technologischen und sozialen Wandel zu verstehen, der mit den komplexen Jäger-Sammlern des Natufium und der Bauern des Neolithikums verbunden ist.

Das heißt: Die achttausend Jahre Kulturstufe des Kebaran helfen uns, den Raketenaufbau und das Funktionieren der Rakete insgesamt besser zu verstehen. Es wird somit deutlicher, daß das Natufium und das Kebaran zusammen gesehen werden müssen, daß die erste Stufe der genannten Rakete nicht "Natufium" heißt, sondern "Natufium & Kebaran". Daß das Natufium womöglich nur die gesellschaftlich stabilisiertere "Endphase" des Kebaran darstellt. Es wird also inzwischen deutlich mehr die Kontinuität zwischen Kebaran und Natufium betont, als die Diskontinuität. Das Natufium, bzw. dann das nachfolgende PPNA mögen nur die endlich "stabil" gewordene Endphase dessen aufzeigen, was in 13-tausend Jahren zuvor noch größere Instabilität und Seltenheit aufgewiesen haben mag.

Die Rakete - Wie startete sie? Wie beschleunigte sie? ...

Abb. 2: Vereinzelte Gräber oder Menschenknochen

Diese herausragende Siedlung "Kharaneh IV" befindet sich in einer heutigen Steppen- bzw. Wüstenregion in der Nähe einer (vormaligen) Oase. Zur Zeit ihres Bestehens vor 20.000 Jahren war es dort (auf dem Höhepunkt der Eiszeit in Nordeuropa) deutlich feuchter. Somit verdichtet sich das Bild darüber, daß die halbseßhafte Vorläuferkultur im Vorderen Orient viel längere "Anlaufzeiten" zur Erreichung der Vollseßhaftigkeit genommen hatte, als man das bisher ahnen konnte. Es wird berichtet (Archäologie Online, Febr. 2012):

Das Areal wurde regelmäßig saisonal von einer großen Gruppe besiedelt und für rituelle Zwecke genutzt. Die Ergebnisse der Ausgrabungen von Kharaneh und von anderen gleichzeitigen Fundstellen wie Ohalo II am See Genezareth deuten immer stärker darauf hin, daß der Beginn von - zumindest saisonaler - Sesshaftigkeit und "dörflichen Strukturen" deutlich früher zu suchen ist als bisher allgemein angenommen.
Und in einem aus dem Englischen übersetzten Bericht (Astropage, 24.2.12):
Die Archäologen gruben hunderttausende von Steinwerkzeugen, Tierknochen und anderen Funden in Kharaneh IV aus, das sich heutzutage nur mehr als ein 3 Meter hoher Erdhügel über die Wüstenlandschaft erhebt. (...) Bis jetzt hat das Team zwei Hütten komplett ausgegraben, doch unter dem Wüstensand könnten sich noch einige mehr verbergen. "Sie sind nicht unbedingt groß. In der Länge messen sie maximal zwei bis drei Meter und sie wurden in den Boden gegraben. Wände und Dach waren aus Geäst, das verbrannt ist und einstürzte und dunkle Markierungen hinterließ", beschreibt Dr. Tobias Richter von der Universität Kopenhagen und einer der Co-Direktoren des Projekts. (...)
Obwohl ein Archäologenteam bereits 1989 bei Ausgrabungen in Ohalo II am Ufer des Sees Genezareth das mit 23.000 Jahren älteste hüttenartige Bauwerk gefunden hatte, glaubt das Team an der Grabungsstätte Kharaneh IV, daß ihre Entdeckung nicht weniger bedeutend ist, wie Dr. Maher erklärt: "Im Inneren der Hütten fanden wir Stapel von sorgfältig ausgebrannten, ausgehöhlten Gazellen-Hörnern, Klumpen von rotem Ocker-Farbstoff und einen Vorrat von hunderten, gelochten Meeresmuscheln. Diese Muschelperlen wurden über eine Strecke von mehr als 250 Kilometern vom Mittelmeer und dem Roten Meer an diesen Ort gebracht was beweist, daß die Menschen dort sehr gute regionale soziale Netzwerke hatten und Gegenstände über beträchtliche Entfernungen hinweg austauschten."
Wie noch Jahrtausende lang später während der Vollseßhaftigkeit (bis etwa 6.000 v. Ztr.) in dieser Region stellte wahrscheinlich die Jagd auf Gazellenherden die Hauptsubsistenzgrundlage dar:
Gazellen machen bis zu 90 % der Tierfunde in Khanareh IV aus und die Forscher glauben, daß jene Gazellen, die die Wasserlöcher im Talboden aufgesucht haben, der ursprüngliche Anziehungspunkt für die Jäger-Sammler waren.
In der neuen Studie (1) wird aber auch auf deutliche Unterschiede zwischen Kebaran und Natufium hingewiesen:
Archaeologists have tended to contrast the flimsy, ephemeral, short-term dwellings of the Early and Middle Epipalaeolithic
(also des Kebaran)
with the more durable, long-lived and solidly-built constructions of the (Early) Natufian. This is further exemplified by reference to earlier Epipalaeolithic structures as ‘huts’ and later Natufian and early Neolithic structures as ‘houses/homes’. However, that supposedly more ‘solid’ constructions do not imply more permanent occupation or long-term use has not gone unnoticed by researchers. The apparent contrast between earlier Epipalaeolithic and Natufian structures is further highlighted by an increasing emphasis on the non-domestic, ritual use of structures during the Natufian and the Pre-Pottery Neolithic A, and lack of evidence for (but acknowledgement of the possibility of) these ‘special’ uses in earlier phase.
Also die Wohnstrukturen des Natufium sind die Archäologen eher geneigt, als Häuser anzusprechen, als jene des Kebaran, die eher nur "Hütten" gewesen zu sein scheinen, wenn auch die Dauer der Benutzung bei beiden ähnlich gewesen sein mag. Außerdem gibt es im Natufium bisher noch deutlichere Hinweise auf nichthäusliche, rituelle (sprich religiöse) Betätigung - sprich in letzter Instanz Tempel - als im Kebaran. (Sprich: Die Götter des Kebaran bleiben - zumindest den Archäologen bisher - unsichtbar.) Die gejagten Gazellen lebten das ganze Jahr über in der unmittelbaren Nähe der Oase, sie unternahmen also keine Wanderzüge (9). Sie wurden auch nicht nur im Frühling, sondern auch in anderen Jahrezeiten gejagt (9). Das sind Hinweise darauf, daß der Reichtum an Gazellen eine vergleichsweise seßhafte Lebensweise ermöglicht haben könnte. - Wie sieht es diesbezüglich bei den vergleichbaren Buschleuten in der Kalahari diesbezüglich aus (Wiki):
Die Siedlungsstellen unterscheiden sich in ihrer Dauerhaftigkeit von nächtlichem Regenschutz im warmen Frühling (wenn die Menschen regelmäßiger unterwegs sind auf der Suche nach knospenden Grünpflanzen) bis hin zu formalisierten Ringen, zu denen sich Menschen in der trockenen Jahreszeit um Wasserlöcher sammeln, die das ganze Jahr über nicht austrocknen.
- Original: Villages range in sturdiness from nightly rain shelters in the warm spring (when people move constantly in search of budding greens), to formalised rings, wherein people congregate in the dry season around permanent waterholes.

Daß eine Lokalgruppe, bzw. "Horde" (engl. "camp") mit 30 bis 60 Menschen (10 bis 15 Familien) bei den Buschleuten zeitweise gemeinsame Siedlungsstellen haben, ist gut bezeugt (6, S. 9). Um die Siedlungsgröße von Khanareh IV zu erreichen, müssen wohl zehn oder mehr solcher Lokalgruppen ("Horden") zusammen siedeln. Es wäre noch zu klären, ob so etwas bei den Buschleuten vorkommt oder bei vergleichbaren Wüstenvölkern (etwa den Tuareg). Natürlich mag man mutmaßen, daß bloßes Zusammensiedeln aufgrund von Wildreichtum noch nicht zwangsläufig größere soziale Komplexität mit sich bringen muß. Wobei dieses Zusammensiedeln ja womöglich auch wieder aufgegeben wurde nach dem Ende dieser in dieser Region klimatisch günstigen Jahrtausende.

... - Und: Was war der Brennstoff?

Es wäre noch zu klären, ob die ungewöhnliche Siedlungsgröße von 21.000 Quadratmetern (2,1 Hektar), die während der gut erforschten 3.000 Jahre Natufium nie erreicht wurde (nur bis 0,5 Hektar), auch schon gelegentlich in der Kalahari erreicht wird oder in vergleichbaren Wüstenregionen (etwa von den Tuareg, wenn sie sich sammeln). Und es wird spannend sein zu erfahren, ob eine solche Siedlungsgröße ein einmaliges Auftreten darstellt oder in jener Zeit häufiger in dieser Region vorkam und nur bis heute noch nicht entdeckt wurde.

2017 - Auch Nachweise auf ähnlich frühes Ernten von wildem Getreide finden sich ..... 

Ergänzung 30.10.2017: Neuerdings zeigen ancient-DNA-Studien an Pflanzenresten aus dem Vorderen Orient und aus Ostasien (7, 8) auf, daß jene Gene, die für das Ernten von wildem Getreide oder Reis zwangsläufig durch Menschen selektiert werden an diesen Pflanzen, ebenfalls schon mehrere zehntausend Jahre früher selektiert worden sein können als bislang gedacht. Es handelt sich um Gene, die dafür sorgen, daß die Getreide- oder Reiskörner in den Ähren haften bleiben und sich nicht von selbst zerstreuen. Die ancient-DNA-Studien bestätigen zunächst, daß in der bisher bekannten Domestikationsphase dieser Pflanzen die Selektionsrate dieser Gene vergleichsweise hoch war. Zugleich aber stießen die Studien darauf, daß die Selektionsrate zum Teil schon mehrere zehntausend Jahre vorher über einer natürlichen Selektionsrate diesbezüglich lagen.

Wildes Getreide gilt bei vielen Völkern, die normalen Ackerbau nicht kennen, als Hungerpflanze, deren Samen nur in größten Notzeiten gesammelt wurde. Die neuen Forschungsergebnisse würden aber nun zeigen, daß das Ernten von wildem Getreide über die Jahrtausende hin doch einen einigermaßen regelmäßigen Bestandteil der Nahrungsversorgung jener Völker bildete, deren Siedlungsdichte - nach den bisherigen archäologischen Zeugnissen - in der Regel nicht höher war als die der heutigen Buschleute in der Kalahari in Südafrika.

Und übrigens: Wenn Getreidegene schon so früh selektiert wurden, warum sollte das dann für Gehirngene des Menschen (in der von ihm betriebenen Selbstdomestikation) nicht ebenfalls gelten?



/Letzte Überarbeitung,
unter anderem anhand von (9):
7.12.2017/

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  1. Maher, L., Richter, T., Macdonald, D., Jones, M., Martin, L., & Stock, J. (2012). Twenty Thousand-Year-Old Huts at a Hunter-Gatherer Settlement in Eastern Jordan PLoS ONE, 7 (2) DOI: 10.1371/journal.pone.0031447 
  2. Maher LA, Richter T, Stock JT (2012): The Pre-Natufian Epipaleolithic: Long-Term Behavioral Trends in the Levant. In: Evolutionary Anthropology 21: 69 - 81
  3. Michael Balter: New Light on Revolutions That Weren't. In: Science 4 May 2012: Vol. 336 no. 6081 pp. 530-531 DOI: 10.1126/science.336.6081.530
  4. Lewin, Roger: Spuren der Menschwerdung. Die Evolution des Homo sapiens. Heidelberg 1992
  5. Molleson, T.: Die beredten Skelette von Tell Abu Hureyra. In: Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1994, S. 98 - 103
  6. Bading, Ingo: Die Neolithische Revolution im Vorderen Orient 12.000 bis 6.000 v. Ztr.. (Eigentlicher Titel: Populationsstrukturen und Transitions-Vorgänge im Levanteraum vom Epi-Paläolithikum bis zum PPNB.) Seminararbeit für den Anthropologischen Kurs II (Populationsstrukturen) von PD Dr. Winfried Henke, Universität Mainz, SS 1995, http://independent.academia.edu/IngoBading/Papers/1599513/Die_Neolithische_Revolution_im_Vorderen_Orient_12.000_-_6.000_v._Ztr._
  7. Crops evolved 10 millennia earlier than thought October 23, 2017, https://phys.org/news/2017-10-crops-evolved-millennia-earlier-thought.html
  8. Geographic mosaics and changing rates of cereal domestication Robin G. Allaby, Chris Stevens, Leilani Lucas, Osamu Maeda, Dorian Q. Fuller Published 23 October 2017.DOI: 10.1098/rstb.2016.0429, http://rstb.royalsocietypublishing.org/content/372/1735/20160429
  9. Elizabeth Hentona, Louise Martina, Andrew Garrarda, Anne-Lise Jourdan, Matthew Thirlwallc, Oliver Boles: Reports Gazelle seasonal mobility in the Jordanian steppe: The use of dental isotopes and microwear as environmental markers, applied to Epipalaeolithic Kharaneh IV. In: Journal of Archaeological Science: Reports Volume 11, February 2017, Pages 147-158, http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2352409X16306903

Freitag, 4. Mai 2012

Der Genetiker James Crow (1916 - 2012) gestorben

Wer sich in den letzten Jahren intensiver und in aller Breite mit der Genetik von angeborenen Begabungs- und Neigungsunterschieden zwischen Rassen und Völkern beschäftigt hat, sowie mit ihrem evolutionären Entstehen (vgl. unser Buchprojekt), ist irgendwann auch auf den nicht unbedeutenden amerikanischen Populationsgenetiker James Crow (1916 - 2012) gestoßen (etwa: 1, 2). Bei diesem Anlaß konnte man überhaupt feststellen, daß fast alle bedeutenderen Genetiker der letzten Jahrzehnte schon sehr früh zu diesen Fragen Stellung genommen hatten, ohne daß ihre sonst vorhandene Autorität so weit gegangen wäre, hierbei Einfluß auf die Ansichten der Mehrheit der studierten Biologen, geschweige der öffentlichen Meinung überhaupt zu nehmen. In Fragen von politischer Relevanz scheint für viele Akademiker dann wissenschaftliche Autorität doch allein nicht ausschlaggebend zu sein.

Der Genetiker James Crow mit Viola
Nun ist James Crow im Januar dieses Jahres in dem gesegneten Alter von 95 Jahren gestorben. Und erst aus diesem Anlaß heraus erfährt man in Nachrufen, insbesondere von Seiten seiner Schüler (3) von den außerordentlich zahlreichen liebenswürdigen, ja, begeisternden Eigenschaften des Menschen,  akademischen Lehrers, Doktorvaters, Forschers und Wissenschaftsorganisators James Crow.

Diese Nachrufe kann man jedem Leser nur empfehlen, selbst nachzulesen (inbesondere: 3). (Übrigens scheint unser Blogartikel der erste deutschsprachige Artikel aus Anlaß des Todes von James Crow zu sein.) Einen solchen Nachruf (3) zu lesen ist - wie so oft bei bedeutenderen Wissenschaftlern - schon allein vom menschlichen Standpunkt aus gesehen rundum eine Bereicherung.

So scheint es zum Beispiel - wie recht häufig - auch bei James Crow die klassische Musik gewesen zu sein, die einen bedeutenden emotionalen Ausgleich geschaffen hat zum abstrakt-intellektuellen Arbeitsalltag seines Fachgebietes (siehe Foto). Und es sollte vielleicht auch nicht unerwähnt bleiben, daß die gewiß nicht unbedeutende Schule der japanischen Populationsgenetik seit Motoo Kimura im Wesentlichen auf James Crow zurückzugehen scheint (3). Ebenso ist zu erwähnen, daß sich James Crow früh für die Erforschung der genetischen Schäden eingesetzt hat, die von der Nutzung der Energie durch Atomkernspaltung ausgehen. Und auch für die Nutzung der Genetik in der Kriminologie hat er sich früh eingesetzt.

James Crow in der IQ-Debatte seit 1969

Doch im Rahmen eines der Schwerpunktthemen dieses Blogs sei hier nur noch festgehalten, welche Erfahrungen James Crow schon 1969 im Zusammenhang mit der damaligen IQ-Debatte rund um Arthur Jensen machte, dessen intellektuelle Ehrlichkeit Crow vollumfänglich anerkannte, so wie die Forschungen von Jensen heute auch etwa vom dem IQ-Forscher Detlev Rost vollumfänglich anerkannt sind:
... The only time Crow’s steady diplomacy seemed insufficient was when he was asked to comment on a 1969 article by Arthur Jensen on the race and IQ controversy. Jensen had been heavily criticized for his view that much of the variability in IQ was genetic. Crow wrote that he did not agree with many of Jensen’s conclusions, but thought that Jensen was intellectually honest and that his quantitative methodology was sound. In those days, there was a common misconception that any non-zero heritability of IQ implied that racial differences were heritable. Crow understood that this was not the case
(- ?)
and tried to explain it in a way that would be transparent to nonscientists. It wasn’t enough. In the highly charged climate of the day, Crow found his classroom picketed, and placards abusing his name ‘Jim Crow’ were posted outside the lecture hall. Crow must have known the effect his words would have, but he expressed his views with courage and honesty. Outwardly, at least, he handled the student protests with his usual good-humored aplomb until it  blew over after a few weeks. If there  was a silver lining to this episode,  it was that all of us who knew Crow  were left with a deeper understanding  of the meaning of intellectual integrity.
Obwohl Crow also die zurückhaltendste Interpretation von Intelligenz-Unterschieden zwischen Rassen anbot, die überhaupt nur möglich war  (- das eingefügte Fragezeichen soll die Frage andeuten, ob das hier eigentlich von seinem Schüler wirklich richtig wiedergegeben worden ist) und obwohl er ein außerordentlich konzilianter, beliebter akademischer Lehrer war, konnte ihn das alles dennoch nicht davor bewahren, in den Feuersturm der damaligen IQ-Debatte hineinzugeraten. Das ist sicherlich ein gutes Anzeichen für die Aufgeheiztheit der Stimmung im Jahr 1969. Deren Nachwirkungen sind oft heute noch zu spüren, zumindest in der älteren Generation der heute noch lebenden und wirkenden Wissenschaftler.

Doch seit den Büchern von Detlev Rost, Thilo Sarrazin - neuerdings wieder Dieter E. Zimmer -, sowie den breiten wissenschaftlichen Entwicklungen seit der vollständigen Entzifferung des menschlichen Genoms und der daraus folgenden Erkenntnisse hat sich daran doch einiges geändert.

Wann aber endlich einmal im Gegenteil ein Feuersturm über die wissenschaftlichen Ignoranten hinwegstürmt, was diese Themen betrifft, vor dieser Frage steht man wie vor einem großen Rätsel: Die Wissenschafts- und Weltgeschichte läßt sich schlicht nicht in die Karten gucken.

______________
1. Crow, James F: Unequal by Nature: A Genetist's Perspective on Human Differences. In: Daedalus, Winter 2002, S. 81 - 88
2. Khan, Razib: Group selection in humans? (25.6.2006) – 10 questions for Jim Crow, 26.6.2006, auf: gnxp.com
3. Engels, William R.: Obituary James Franklin Crow (1916 - 2012). In: Current Biology, 10 April, 2012 Volume 22, Issue 7 (pdf)
4. Hawks, John: James F. Crow 1916 - 2012. JohnHawks.net, 4.1.2012
5. Stockinger, Jacob: James Crow - famed geneticist, devoted viola player and classical music fan and philanthropist - dies at 95 in Madison. The Well-Tempered Ear, 6.1.2012
6. Seymour Abrahamson: James F. Crow - His Life in Public Service. In: Genetics, January 2012 190:1-4; doi:10.1534/genetics.111.135186
7. Wade, Nicolas: James F. Crow, Population Genetics Pioneer, Dies at 95. New York Times, 10.2.2012

Donnerstag, 3. Mai 2012

Die Christianisierung Englands

Und die Jahrhunderte hindurch fortbestehende Sehnsucht der Angelsachsen, zu ihren germanischen Ursprüngen zurück zu kehren

Eine Rezension in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "History" (1) macht auf eine Neuerscheinung zur Geschichte und Archäologie der Christianisierung Englands aufmerksam (2) und damit überhaupt auf dieses Thema.

Das folgende ist zunächst vorwiegend nach den verlinkten Wikipedia-Artikeln erarbeitet. 

Es waren rechte Haudegen, unsere Verwandten, die in der Völkerwanderungszeit ab 450 n. Ztr. von Schleswig-Holstein und Niedersachsen aus nach England übersetzten und dort als "Angelsachsen" das Land beherrschten - so wie zu gleicher Zeit die Alemannen aus der Elberegion nach Süddeutschland wanderten.

450 n. Ztr. - Völker wirbeln durcheinander

Ostanglien war eine der ersten Gegenden Englands, die unsere Verwandten 450 n. Ztr. eroberten und besiedelten, und wo das Königsgeschlecht der Wuffinger (Wiki) sein Königreich Ostanglien (Wiki, engl) begründete. Hier zuerst wurde die englische Sprache gesprochen. Der Name "Wuffinger" leitet sich her von Wolf. Dieses Fürstengeschlecht sah sich also als Nachkommen der Wölfe an. Sie gründeten in Ostengland ein Königreich so wie unsere Verwandten, die Wandalen, ihr Königreich in Afrika gründeten, die Goten ihre Königreiche auf dem Balkan, in Italien und Spanien, die Langobarden ihr Königreich in Norditalien, die Bajuwaren und Alemannen ihre Königreiche in Süddeutschland, der Schweiz und im Elsaß, die Franken in Frankreich, die Thüringer in Thüringen.

"Windzeit ist's, Wolfszeit, nicht ein Mann wird des anderen schonen", sangen damals die Seherinnen in ihren "Gesichten" (vgl. die Völuspa [Wiki]).

Alle diese Völker wurden nach und nach zu Christen. Im Süden wurden sie es schneller, im Norden hingen sie oft viel länger am angestammten heidnischen Glauben und ihren heidnischen Göttern. Im Stammland der Sachsen und Angeln auf dem Kontinent in Norddeutschland übrigens noch mindestens hundert Jahre länger als in England. Und wie die meisten germanischen Königsgeschlechter führten auch die Wuffinger ihre Herkunft auf eine heidnische Gottheit zurück, nämlich auf den Gott Wotan.

597 n. Ztr. beginnt die offizielle Christianisierung Englands

Als der Missionar, als der "Apostel" Englands gilt der  Erzbischof Augustinus von Canterbury (gestorben 604) (Wiki). Er hatte diesselbe Rolle inne wie einhundert Jahre der Engländer Bonifatius als der "Apostel der Deutschen". 597 wurde Augustinus von Canterbury von Papst Gregor I. zu Æthelberht, dem König von Kent im südlichen England, gesandt. Erzbischöfe, Apostel und "Heilige" konnten damals noch ganz regulär verheiratet sein. 

Augustinus war mit einer Tochter des Merowingerkönigs verheiratet. Thron und Altar reichten sich damals auf diese Weise die Hand. Auch Æthelberhts Frau war Christin und förderte die Christianisierung ihres Landes.

Eine Personifizierung des Umbruchs - König Raedwald von Sutton Hoo

Helm des Raedwald, Sutton Hoo (W)

Diese Jahrhunderte waren sehr kriegerisch. Noch zweihundert Jahre später fielen immer wieder die Dänen und Wikinger in England ein. Sie beherrschten zeitweise auch Ostanglien. Die englischen Königreiche innerhalb Englands bekriegten sich auch untereinander. In dem berühmten Schiffsgrab von Sutton Hoo (etwa 625 n. Ztr.) (Wiki), ließ sich der ostanglische König Raedwald (539-625) (Wiki, engl) gemäß einer nicht einheimischen Sitte, sondern gemäß der Sitte der Wikinger bestatten:

Zu Beginn seiner Herrschaft stand Rædwald unter der Oberherrschaft des Bretwalda Æthelberht von Kent. Æthelbert drängte Rædwald, den christlichen Glauben anzunehmen. Beda Venerabilis (ein mittelalterlicher Chronikschreiber) sagt Rædwald nach, er habe sich um 604 in Kent der Taufe unterzogen und die Gottesdienste besucht, zugleich aber weiter seinen alten Göttern gedient. In seinem Tempel sollen zwei Altäre, einer für den christlichen und einer für die heidnischen Götter gestanden haben.

Ein Haudegen also, dieser Raedwald.

Nach der Christianisierung ist der Ort seines Grabes - laut der archäologischen Befunde - als Hinrichtungsstätte (!) genutzt worden. Der Ort war aus christlicher Sicht also ein verrufener Ort geworden, ein Ort des Teufels. Die typische "Umwertung aller Werte". König Raedwald wird von seinen Nachfahren als "unverbesserlicher Heide", als Sohn des Teufels angesehen worden sein.

Sein christlich gewordener Sohn wurde von einem Heiden erschlagen.

Erst der darauffolgende König Sigebert, ein Stiefsohn König Raedewalds, leitete die Christianisierung Ostangliens ein. Er holte dazu den Missionar Felix als ersten Bischof nach Dunwich. Und um 700 n. Ztr. war England und Ostanglien christlich. Der Christianisierung hatten die Engländer hundert Jahre Widerstand entgegen gesetzt. Noch einmal hundert Jahre später erst ist die Zwangschristianisierung bei den stammverwandten Sachsen auf dem Festland eingeleitet worden durch den Frankenkönig Karl, genannt "den Großen".

Dies sind die Zeiten und historischen Vorgänge, von denen auch die neue Buchveröffentlichung handelt (1, 2). Sie untersucht vor allem die Ruinen der römischen Kastelle und Wallanlagen und geht Hinweisen nach, daß in diesen christliche Missionsstationen, sprich Kirchen errichtet wurden. Die Ausbreitung des Christentums ist dann im archäologischen Befund vor allem sichtbar:

  1. in dem Rückgang der Leichenverbrennungen und 
  2. in dem räumlichen Heranrücken der Friedhöfe an die Siedlungen. 

Das heißt, die Heiden brauchten mehr "Raum" um sich, sie wollten weitere Wege vor sich haben, um die Gräber ihrer Vorfahren zu besuchen. Die Ausbreitung des Christentums ist weiterhin sichtbar an Kreuzeszeichen auf Grabbeigaben. All dies findet sich in ähnlicher Weise auch zeitgleich bei den Alemannen und den Franken.

865 n. Ztr. - Die "Große Heidnische Armee" kommt nach England

Noch 150 Jahre später - 865 n. Ztr. - wurde Ostanglien durch die zeitgenössisch so genannte "Große Heidnische Armee" (Wiki) der dänischen Wikinger erobert. Es war dies eine Armee, die, fahrend auf hunderten von Schiffen, zuvor schon bis Paris vorgedrungen war. Ein großer Teil der christlichen Strukturen gingen in Ostanglien durch sie wieder verloren. 

Eine verrückte, aufgewühlte - und aufwühlende - Zeit. 

Leopold von Ranke schreibt in seiner "Englischen Geschichte" darüber:

Alles war in einer allerdings noch unvollendeten, aber hoffnungsreichen Bildung, in den Agonien des Werdens begriffen, als der Staat von einer neu emporkommenden Weltmacht in seinem Dasein bedroht wurde.
Denn so dürfte man die Einwirkung wohl bezeichnen, welche der skandinavische Norden über das östliche kontinentale Europa und zugleich seegewaltig über alle Küsten des westlichen ausübte.
Nur ein Teil der germanischen Völker war von den Ideen des Reichs oder der Kirche ergriffen worden: in den anderen erhob sich das eingeborene Heidentum, von den Verlusten, die es erlitten, und den Gefahren, die es fortwährend bedrohten, gereizt, zu dem gewaltsamsten Anlauf, den die gebildete Welt jemals von heldenmütigen und barbarischen Kindern der Natur bestanden hat.
Es ist nicht auszusprechen, welches Unheil sie seit der Mitte des 9. Jahrhunderts über Britannien gebracht haben.

/ Ergänzung 23.9.2022 / Etwas Erstaunliches geschah in den nächsten hundert Jahren. Die christianisierten Engländer entwickelten eine ....

"Sehnsucht, zu den germanischen Ursprüngen zurück zu kehren"

So beschreibt es eine im Mai 2022 erschienene Doktorarbeit von Amanda N. Boeing als auf Seiten der Angelsachsen vorliegend, die ab Ende des 10. Jahrhunderts gegen die in England eingedrungenen Wikinger kämpften (4).

Konnte etwas Derartiges noch vierhundert Jahre nach Beginn der Christianisierung in England, dreihundert Jahre, nachdem es sich weitgehend vollständig durchgesetzt hatte, möglich sein in England? An diese Frage mögen wir uns womöglich durch folgende Überlegung annähern:

Die Beliebtheit der Nibelungensage im Hochmittelalter in Deutschland macht deutlich, daß sich auch die Deutschen noch über Jahrhunderte hinweg ihre Sympathien für ihre heidnischen Vorfahren, ihre edelmütige Liebe und ihre Heldentaten, ihre Treue bis in den Tod, erhalten hatten. Sie formten den Inhalt der Sagen zwar kräftig nach den Anschauungen und Lebensgewohnheiten und ihres christlich gewordenen Zeitalters um.

Aber auch noch in manchen Versionen der Nibelungensage reist König Gunther von Worms aus den Rhein hinab bis zur düsteren Insel Island, um dort die noch sehr heidnisch anmutende Brünhilde zu freien. Das rohe Messen der Körperkräfte mit einer Königin paßte - man merkt es der hochmittelalterlichen Sage deutlich an - überhaupt nicht mehr in das Denken der Zeit. Dennoch hat es sich in der Sage gehalten.

Und so ähnlich um 1000 herum womöglich auch bei den Angelsachsen. Die christianisierten Angelsachsen sahen in den Wikingern eine Verkörperung von heldischen Idealen, die ihre eigenen waren, bevor sie christianisiert worden waren. Die Doktorarbeit (4) vertritt die These, daß es bei den Angelsachsen durch das Eindringen der Wikinger in England zu einer Wiederbelebung der heidnisch-germanischen Kriegerideale gekommen ist.

991 n. Ztr. - Schlacht bei Maldon

Die Wikingereinfälle begannen unter König Æthelred von England (969-1016) (Wiki). Nach verlorenen Schlachten, insbesondere nach der Niederlage in der Schlacht bei Maldon (Wiki) im Jahr 991 mußten die Angelsachsen in den folgenden Jahrzehnten hohe Tributzahlungen an die Wikinger zahlen, das sogenannte "Danegeld".

Amanda N. Boeing nimmt unter anderem Bezug auf wiederkehrende Themen in der altenglischen Dichtung, zum Beispiel die "Beasts of battle" (Wiki). Das waren: der Wolf, der Rabe und der Adler, die Krieger in die Schlacht begleiteten und sich von den Leichen der erschlagenen Krieger ernährten. In der heidnischen Sagenwelt finden sie sich unter anderem in "Odins Tieren" wieder (4, S. 107f):

..... Zwar mögen die Engländer das Christentum lange vor ihren skandinavischen Gegnern angenommen haben - in vielerlei Weise hatten sie sich die germanischen Werte in ihren heroischen Idealen, ihren Gefolgschaftsverhältnissen und in bestimmten Archaetypen des Geschichtenerzählens, die ihre Weltsicht beeinflußten, aber erhalten (z.B. Tiere als Begleiter in Schlachten, der heldische Jesus usw.). ... Diese alten Werte waren von Generation zu Generation weiter gegeben worden.
Der interessanteste Fall dafür aus der angelsächsischen Literatur ist "Die Schlacht von Maldon", eine Dichtung, die die historische Schlacht von Maldon beschreibt, die 991 stattfand, fast hundert Jahre nach dem ersten Auftreten von Skandinaviern in England. ... Sie (die Skandinavier) hatten den Vorteil, daß sie ihre traditionelle Religion bis etwa in das 10. Jahrhundert hinein praktizierten .... Die Angelasachsen könnten die skandinavischen Eindringlinge als idealsierte Versionen ihrer selbst angesehen haben.  ..... Nach Jahrhunderten, in denen die Angelsachsen eine vergleichsweise pazifistische Religion praktiziert hatten, ähnelte ihr tägliches Leben nicht mehr dem von furchtlosen, tapferen Kriegern.

...

As demonstrated by the Anglo-Saxons’ stylistic choices in their literature, both secular and religious, the English may have adopted Christianity before their Scandinavian counterparts but in many ways, they still retained many Germanic values in their heroic ideals, lord-retainer relationships, and certain archetypes of storytelling that shaped their worldview (e.g., the beasts of battle, a heroic Jesus, etc.). These elements, especially more material ones such as the lord-retainer relationship and gift-giving, could be seen in Tacitus’ and Julius Caesar’s descriptions of the Ancient Germans, leading me to think that despite hundreds of years of relative isolation from the continent and conversion to Christianity, these old values were passed down without fail throughout the generations.
The most interesting case of Anglo-Saxon literature was The Battle of Maldon, a poem depicting the historical battle in Essex that took place in 991, almost one hundred fifty years after the arrival of the Scandinavians. Anglo-Saxon society was well-acquainted by that point with Scandinavian society, one that still practiced and idealized many of the old Germanic values. The depiction of Byrhtnoth, then makes the poem so interesting, as the way the poet decided to memorialize a real man was in the archetype of the Germanic hero. The poet was explicitly quite hateful to the Scandinavians as they were the opposing side in the battle, but it is quite interesting to see how they still wrote Byrhtnoth as if he was a Scandinavian man. Of course, the Norsemen themselves were not perfectly preserved times capsules of Germanic society, however, they had the advantage of practicing their traditional religion until around the tenth century, when Christianity began to arrive in Scandinavia. This can be clearly seen in the Frankish, Irish, and English annals as well as inferred from the remains of skaldic poetry. What is most significant is how it is possible the Anglo-Saxons would have seen the Scandinavian invaders as the idealized versions of themselves. The Anglo-Saxon histories were aware that they arrived in Britain by way of Hengist and Horsa, Germanic mercenaries who served as the catalysts of the Anglo-Saxon invasions of the predominantly Celtic isles at that time. However, after centuries of following a comparatively pacifist religion, their daily lives no longer looked like that of fearsome, ambitious warriors
The Great Army was depicted by the English scholars as notoriously tricky, and it took years before an English power became strong enough to finally subdue them. An Anglo-Saxon of the time would have had to face their fearsome strength and complete lack of respect for the sanctity of treaties sworn on Christian relics, but at the same time, they fulfilled the romanticized role of a Germanic warrior, one the Anglo-Saxons would have liked to have claimed for themselves. While the Anglo-Saxon did not feel compelled to die a heroic death as their God provided an alternative for salvation, the Scandinavian could only claim a seat in paradise by death on the battlefield. Their motivation for battle fulfilled the idealized battle-deaths the Anglo-Saxons wrote of in their heroic poetry and their blasé attitudes towards peace was something an Anglo-Saxon would have to justify within their religion. In other words, the Scandinavian warrior represented the ideal version of the Anglo-Saxon, without having to make justifications as serving a pacifist God. 

In der Zusammenfassung der Arbeit heißt es dann (4):

Das Eindringen der Wikinger und ihre nachfolgenden Ansiedlung in England im neunten, zehnten und elften Jahrhundert brachte bedeutsame kulturelle und sprachliche Auswirkungen mit sich, die in den christianisierten Angelsachsen eine Sehnsucht entzündeten, zu ihren germanischen Ursprüngen zurück zu kehren. Und zwar sowohl noch während des Krieges mit ihnen wie in der nachfolgenden Zeit ihrer Ansiedlung und des "Danelaws". ... Nostalgie in der angelsächsischen kulturellen Elite in Bezug auf ein germanisches Goldenes Zeitalter ....
The Viking invasion and subsequent settlement of England in the ninth, tenth, and eleventh centuries brought about significant cultural and linguistic effects that rekindled in the Christianized Anglo-Saxons a desire to return to their Germanic origins, both while at war with the Scandinavians and in the subsequent colonization of the Danelaw. This paper argues that the arrival of the Scandinavians sparked nostalgia for a Germanic golden age in the Anglo-Saxon cultural elite and explains why they were so receptive in adopting multiple aspects of their invaders’ culture. Through investigations of Anglo-Saxon literature, various accounts of Scandinavian activity, archeological finds, and linguistic analysis, it is evident that the Scandinavians initiated significant cultural and linguistic changes on their Anglo-Saxon neighbors. An analysis of Anglo-Saxon heroic and religious poetry demonstrates that stylistic elements and characteristics typically considered Germanic in origin are common and even emphasized in a theme or character when no such trait existed in the source material (e.g., the Book of Judith). Archeological finds also indicate the Anglo-Saxons of the Danelaw and other parts of England intentionally emulated the Scandinavian style. More importantly, the language itself was receptive to many common loan words from Old Norse (e.g., sister, egg) as well as pronoun and form word shifts (e.g., they, them) that indicate close contact, familiarity, and prestige value placed on the settlers’ language. Based on accounts of Scandinavian activity at the time, the Vikings displayed many of the idealized traits of the Germanic hero so heavily featured in Anglo-Saxon literature and likely would have been the object of English admiration. Due to the nature of the evidence, an explanation of the eagerness that the Anglo-Saxons displayed regarding the adoption of traditionally Scandinavian cultural and linguistic markers represents a resurgence of Germanic values and a desire to return to a perceived golden age in Anglo-Saxon history

Ihre eigene pazifistische Religion hatte die Angelsachsen aus ihrer früheren kulturellen Verwurzelung aus der Welt ihrer heidnischen Werte und Normen heraus gelöst.

Mit solchen Ausführungen bekommt man an ein immer größeres Interesse für die englische Geschichte.

/ Ergänzt 23.9.2022;
Entwurf der Ergänzung: 
12.7.2022 /

___________________
  1. Pickles, Thomas: The Archaeology of the East Anglian Conversion – By Richard Hoggett. Rezension in: History, 97: 296–297. doi: 10.1111/j.1468-229X.2012.00554_5.x
  2. Hoggett, Richard: The Archaeology of the East Anglian Conversion. Boydell, 2010 [Anglo-Saxon Studies 15] (G-Bücher) 
  3. Ranke, Leopold von: Englische Geschichte, vornehmlich im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert (erschienen 1859 bis 1869)
  4. Boeing, Amanda N., "Vikings, Anglo-Saxons, and England: The Germanic revival of the 9th, 10th, and 11th centuries" (2022). Chancellor’s Honors Program Projects. https://trace.tennessee.edu/utk_chanhonoproj/2475
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