Samstag, 1. März 2008

Unbekannte Lichtbilder der Gebrüder Grimm

Die Bedeutung der Gebrüder Grimm für die Geistes- und Wissenschaftsgeschichte Deutschlands, Europas und der Welt kann man nicht überschätzen. Jacob Grimm (1785-1863) war der Begründer der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, der Germanistik. Das Gründungsjahr der Germanistik datiert auf das Jahr 1817, das Ersterscheinungsjahr der "Deutschen Grammatik" von Jacob Grimm. Bekannt auch außerhalb der Wissenschaft wurden die Brüder weltweit natürlich durch die Veröffentlichung der deutschen Märchen, die sie insbesondere in Nordhessen gesammelt hatten. Außerdem legten sie in unermüdlicher, jahrelanger Arbeit den Grundstein zum ersten großen deutschen Wörterbuch, jenes, dessen letzter Band erst 1961 erschienen ist. Noch viele andere Gebiete der deutschen und europäischen Kulturgeschichte, Sprach- und Literaturwissenschaft, ja sogar der Politik - Jacob Grimm war Abgeordneter des Paulskirchen-Parlaments von 1848 - befruchtete ihr Schaffen und Wirken.

Die Gebrüder Grimm wurden in Hanau geboren, verbrachten aber schon ihre wichtigeren Schuljahre nach dem frühen Tod des Vaters in Kassel bei einer Tante. Diese Tante war Hofdame am Hof des Kurfürsten. Nach dem Studium in Marburg kehrten sie wieder nach Kassel zurück, wo sie als Bibliothekare vom König Jerome angestellt wurden. Nach zwei Jahren als Professoren in Göttingen kehrten sie 1837 wiederum - mit ihrer berühmten Entlassung als Köpfe der "Göttinger Sieben" - nach Kassel zurück. Im Jahr 1840 fanden sie dann Anstellung durch den neuen preußischen König Wilhelm IV. an der Universität Berlin. Sie lebten in einer damals stillen Wohnung ganz in der Nähe des heute so belebten und völlig neu bebauten Potsdamer Platzes. Hier in Berlin starben sie schließlich auch und sind dort begraben.

Die Gebrüder Grimm in Kassel

Somit verbrachten die Gebrüder Grimm ihre prägendsten Jahre und viele der bedeutendsten ihrer Lebensjahre in Kassel. Wer als aufmerksamer Mensch durch Kassel geht, kann sich ihrer überall leicht erinnern. Geht er zum Beispiel in die Hessische Landesbibliothek, auch "Murrhardt'sche Bibliothek" genannt, gelegen am heutigen Brüder-Grimm-Platz, befindet er sich fast im Mittelpunkt des Lebens der Gebrüder Grimm im damaligen Kassel.

Und verschafft man sich - etwa im Gebrüder-Grimm-Museum - einen Eindruck von der Schönheit Kassels in früheren Jahrhunderten, wird einem klar, dass auch die damaligen Wohnstätten der Gebrüder Grimm heute als solche in besonders günstiger Lage gelten würden. Da ist zunächst ihr heute noch vorhandenes Wohnhaus direkt am Anfang der Wilhelmshöher Allee (ebenfalls am Gebrüder-Grimm-Platz), eines der beiden Stadttor-Gebäude, wo sie lange Jahre im zweiten Stock als Mieter des Kurfürsten, bzw. des Königs lebten. Von dort aus müssen sie damals einen herrlichen Blick hinüber zum Schloss Wilhelmshöhe und seinem heute noch berühmten Bergpark gehabt haben. Denn damals endete die Stadt schon hier bei diesen Gebäuden. Und von dort aus gingen die Brüder Grimm täglich nur wenige Minuten die (Obere) Königsstraße hinunter, die auch heute noch die große Einkaufsstraße Kassels ist, zum heute ebenfalls noch vorhandenen "Fridericianum", damals die Bibliothek, in der sie arbeiteten. (Heute das Hauptgebäude der "Documenta".)

Und von dort wiederum sind es nur wenige Schritte zur "Schönen Aussicht", wo sie in späteren Jahren wohnten, und wo sich heute noch das "Gebrüder-Grimm-Museum" befindet im letzten noch erhaltenen Haus des alten Kassel an der "Schönen Aussicht". Von der "Schönen Aussicht" hat ihr Malerbruder Ludwig Grimm, wie im Museum besichtigt werden kann, unzählige Gemälde und Zeichnungen geschaffen, so dass man sich heute einen guten Eindruck von der Herrlichkeit der Landschaft machen kann, von der die Gebrüder Grimm und alle ihre Zeitgenossen in Kassel damals umgeben gewesen sind. - Zwar ist auch heute noch die von dort aus sichtbare Orangerie und die Karlsaue weitgehend unverändert. Aber welch ein Unterschied zu heute, wenn man sich nur allein jene "Atombombe" städtebaulicher Architektur ansieht, genannt "Cinema". Ein solches ganz unmögliches Kinogebäude beherrscht heute städtebaulich den damaligen Lebensmittelpunkt der Gebrüder Grimm in Kassel und erdrückt alles um sich herum. (Um von den vielen anderen städtebaulichen Unmöglichkeiten des heutigen Kassel gar nicht erst zu reden.)

Weniger bekannte Photographien der Gebrüder Grimm

Im Gebrüder-Grimm-Museum in Kassel, das derzeit erweitert werden soll, wird eine kleine Schrift verkauft, die schon vor Jahren viele überraschende, unbekannte Photographien der Gebrüder Grimm, insbesondere von Jacob Grimm, zusammen gestellt hat (1). Photographien geben ja zumeist ein viel lebendigeres und lebensnäheres Bild von einem Menschen, als dies gemalte, gezeichnete oder gemeißelte Bildnisse könnten, selbst wenn diese von den bedeutendsten Künstlern geschaffen worden sein sollten. Deshalb sollen hier einmal die viel weniger bekannten auch zusammengestellt werden (2).

Abb. 1: Wilhelm und Jacob Grimm, 1847
Man erfährt aus dieser Schrift, dass Jacob Grimm über die von den Brüdern Grimm heute noch am meisten verbreitete Photographie selbst aus dem Jahr 1847 (Abb. 1) überhaupt nicht erfreut war.

"Wilhelm sitzt da wie ein Kranker ..."

Diese Photographie war von einem der frühesten Photographen der damaligen Zeit gemacht worden und von dem Verleger des "Deutschen Wörterbuches" in Leipzig dem ersten Band desselben als Stahlstich beigegeben worden. Jacob Grimm schrieb an seinen Verleger Hirzel (1, S. 49):
"Die ganze Komposition ist mir zuwider."
Und im August 1852 nochmals (1, S. 50):
"Lieber Hirzel (...) Die Geschichte mit dem Bild ist mir nicht recht und tut mir leid. Der Biow" (der Photograph) "quälte uns zum Daguerreotyp für seine Sammlung und ich überließ die getroffene Anordnung damals ganz seiner Phantasie, weil wir das Bild nicht für uns bestellten. Nun sitzt Wilhelm da im Stuhl wie ein Kranker und ich habe das Ansehn eines herangerufenen Hausverwalters. Mehr in meinem Sinne gewesen wäre, wenn wir (...) auf zwei Stühlen gerade neben einander sitzend aufgenommen und der Welt vorgestellt worden wären. Das hätte sich ruhiger und natürlicher ausgenommen."
Interessanterweise scheint ausgerechnet diese Photographie dann später auch noch die Vorlage und Idee gegeben haben zum deutschen Nationaldenkmal von den Gebrüdern Grimm in Hanau. Ganz sicherlich kommt die Eigenwilligkeit der Persönlichkeit Jacob Grimms auf dieser Photographie nicht so deutlich heraus wie auf anderen Photographien von ihm und offensichtlich wirkt Wilhelm Grimm auf der Photographie tatsächlich "kränker" als er in seinen besten Lebensjahren ausgesehen hat.

Abb. 2: Wilhelms Frau, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm, um 1854
Tatsächlich scheint wenige Jahre später ein Gruppenbild gemacht worden zu sein, das mehr im Sinne von Jacob Grimm gewesen sein könnte. Hier sind jedenfalls die Brüder zusammen mit Wilhelms Frau abgebildet und auch Wilhelm sieht gesund aus. Allerdings war dieses Foto wohl nur für den familiären Kreis hergestellt worden und ist in schlechter Qualität erhalten.

Wahrscheinlich im Oktober 1856 schrieb Jacob Grimm an seinen Verleger Hirzel (1, S. 58):
"Neulich bin ich von einem Photographen etwas besser behandelt worden und ich hebe Ihnen einen Abdruck des Bildes auf."
Abb. 3: Jacob Grimm, 1856 (aus:1)
Welche Photographie hiermit gemeint sein könnte, ist der Forschung nicht ganz klar. Es könnte sich um Abbildung 3 handeln.

"Großes Vergnügen an photographischen Portraits"

Herman Grimm, der Neffe Jacob Grimms, schreibt über seinen Onkel in dessen Altersjahren (1, S. 57):
"Jacob hatte in den letzten Jahren großes Vergnügen an kleinen photographischen Portraits. Es kam bald eine ziemliche Anzahl davon zusammen und wir versäumten keine Gelegenheit, sie zu vermehren."
Abb. 4: Jacob Grimm, 1860 (Wiki)
Fast alle Menschen in der Verwandtschaft und Bekanntschaft der Grimms begannen in der damaligen Zeit, Photographien in Visitenkarten-Format von ihren Verwandten und Freunden zu sammeln und untereinander auszutauschen. Diese waren sehr oft gar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Sie sind deshalb auch bis heute einer breiteren Öffentlichkeit gar nicht bekannt geworden.

Abb. 5: Jacob Grimm, 1860 (aus:1)
Eine von diesen Photographien von sich selbst sandte Jacob Grimm 1860 an eine Verehrerin, die in seinem Geburtsort Hanau wohnte. Und er schrieb dazu (1, S. 100):
"Zu den früher übersandten Bildern sende ich Ihnen noch eine Photographie, die neulich von mir aufgenommen wurde und die vor ihrem betrachtenden Auge nicht einmal den Hut abzieht, sondern still stehen bleibt."
Abb. 6: Jacob Grimm, 1860 (aus:1)
Die Hanauerin Luise Gies schickte eine eigene Photographie und schrieb (1, S. 100):
"Ihr Bildchen muß sprechend ähnlich sein, dies sagt mir jeder Zug desselben; und so eifrig habe ich es studiert, daß ich es, wie man sagt, auswendig kann. Was mich aber so besonders freut, daß Sie so deutsch darauf aussehen; auf den ersten Blick erkennt man den deutschen Gelehrten (...). Wenn Sie aber scherzhafter Weise bedauerten, daß Ihr Bild vor meinem betrachtenden Auge den Hut nicht abnehmen könne, was müßte ich dann sagen, daß das Meinige nicht einmal ehrerbietig aufstehen kann vor seinem hohen Freunde."
Abb. 7: Jacob Grimm, 1862 (aus:1)
Auf einer anderen Photographie (siehe oben) steht rückseitig verzeichnet (1, S. 102):
"Jacob Grimm - die Rose ist vom Grab seines Bruders Wilhelm."
Welche große Bedeutung Jacob Grimm solchen Photographien tatsächlich beimaß, wird vielleicht noch an seinem Verhalten auf dem Sterbebett deutlich. Sein Neffe Herman Grimm berichtet darüber (1, S. 81):
"Einmal glaubten wir ihn schon verloren, als er eine Photographie Wilhelms, die dalag, plötzlich ergriff, mit der gesunden Hand rasch und wie er zu tun pflegte, dicht vor seine Augen führte, einige Momente betrachtete und dann auf die Decke legte."
Jacob Grimm - trotz aller Anteilnahme ein Einsamer?

Was mich selbst an diesen Photographien von Jacob Grimm so frappierte, das war, wie doch offenbar so einsam dieser Mann inmitten seiner Zeit vielleicht doch gelebt hat trotz all der Anteilnahme, die er in seiner Familie und bei seinen Zeitgenossen fand. Dieser Mann würde, so scheint mir, nicht nur in unserer Zeit eine ziemlich "fremde" menschliche Erscheinung bilden. Er war es - wahrscheinlich - in vielerlei Hinsicht schon für seine eigenen Zeitgenossen. Bedeutende Menschen stehen wohl auf die eine oder andere Weise immer irgendwie "abseits".

Viele Menschen, die Jacob Grimm begegnet sind, haben das auch so empfunden. Sie fanden keinen Zugang zu seiner Persönlichkeit. So schrieb etwa ein Emil Kuh 1857 (1, S. 63):
"So angenehm Wilhelm auf mich wirkte, so abstoßend war mir Jacob Grimm. Er frug mich, ob ich Philolog sei, und Ähnliches mehr. Der stiere Blick, der stes bloß das Weiße des Auges und spärlich die Pupille blicken läßt, sodann seine Schwerhörigkeit vermehren das Unbehagen. Als ich mich (...) verabschiedete (...), da trat Jacob Grimm, während ich noch in der Tür war, buchstäblich wie ein aus der Ruh gestört gewesener Biber in seine viereckige Bücherwohnung zurück, und ich dankte dem Himmel, daß ich die Begegnung hinter mir hatte."
Und ein Julius Rodenberg schrieb 1853 aber unter anderem auch etwas günstiger über Jacob Grimm (1, S. 63):
"Er ist ein kleiner Mann, der in seinem altfränkischen Frack aussieht wie ein Stück der guten, alten Zeit, gar nichts von einem Stubengelehrten und noch weniger von dem vornehmen Berliner Professor an sich hat. Die hohe Stirn umgraut ein volles Haar, und die Augen funkeln."

Abb. 8: Jacob Grimm, 1863 (aus:1)

_________________________________________
1. Wiegand, Thomas: Die Brüder Grimm und die Photographie. In: Jahrbuch der Brüder Grimm-Gesellschaft VI, 1996, S. 41 - 104. Auch als Sonderdruck: Brüder Grimm-Gesellschaft e.V., Kassel 2000

2. Als Blogger muss man sich neuerdings viele Gedanken über das Urheberrecht machen, weil Abmahn-Räuber durch die Wälder ziehen und hinter jedem Baum lauern können mit der Forderung der Zahlung von nachträglichen Lizenz-Gebühren und Rechtsanwaltskosten. Soweit übersehbar, werden die Photographien dieses Beitrages heute "gemeinfreisein im Sinne des Urheberrechts (auf englisch "Public Domain"): "Dies gilt für alle Staaten mit einer gesetzlichen Schutzfrist von 100 Jahren oder weniger nach dem Tod des Urhebers," heißt es auf Wikipedia. In Deutschland gelten 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers. Wenn ein Fotograf 1862 25 Jahre alt war, wäre er im Jahr 1837 geboren und im Jahr 1937 100 Jahre alt geworden. 2007 wäre damit die gesetzliche Schutzfrist abgelaufen. (Erst 2007! ...)

Falls dennoch mit der Veröffentlichung dieser Photographien aus der vorgenannten Schrift hier auf dem Blog irgendwelche Urheberrechte verletzt sein sollten, bittet der Bloginhaber, ihn davon in Kenntnis zu setzen, damit er das korrigieren kann. 

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