Darwin's Kollege Richard Owen vertrat eine naturalistische aber nicht-darwinistische Theorie der Evolution, also quasi eine "Biologie ohne Darwin". Sollten sich moderne biologische Denker mehr an diesen Zeitgenossen Darwins, also mehr an Richard Owen erinnern?
Als das "Geheimnis aller Geheimnisse", als "the mystery of all mysteries" hatte Charles Darwin (1809-1882) (Wiki) die Frage danach bezeichnet, wie die immense Artenvielfalt auf dieser Erde entstehen konnte. Wir haben in der Schule und an der Universität inzwischen von vielen Versuchen gehört, dieses größte aller Geheimnisse zu entschlüsseln. Ist dieses Geheimnis aber wirklich mit den Lösungsvorschlägen von Charles Darwin entschlüsselt? Immer mehr Biologen zweifeln daran. In der Bewertung der Bedeutung dieser Frage war sich Darwin aber einig mit vielen der bedeutendsten Biologen seiner Zeit, darunter auch mit seinem Kollegen Richard Owen (1804-1892) (Wiki, engl).
Abb. 1: Richard Owen, 1883 |
Owen war sechs Jahre älter als Darwin. Und Owen übernahm nach Darwin's berühmter Reise mit der Beagle die Bearbeitung des Bandes über die Funde fossiler Säugetiere, die Darwin von seiner Reise mitgebracht hatte. Die beiden kannten und achteten einander somit schon sehr früh. Im Laufe der geistigen Auseinandersetzungen der nächsten Jahrzehnte anerkannte Owen zwar den Gedanken der Evolution. Er widersprach Darwin aber darin, daß die Hauptantriebskraft der Evolution die natürliche Selektion sei. Somit steht er - nach dem Titel einer Biographie über ihn - für eine "Biologie ohne Darwin". Über diese "Biologie ohne Darwin" ist aber zu sagen, daß sie den Evolutionsgedanken selbst voll anerkennt (1-3). Um eine Neubewertung des Lebens und Denkens von Richard Owen hat sich der niederländische Wissenschaftshistoriker Nicolaas Adrianus Rupke (geb. 1944) sehr verdient gemacht. Inzwischen heißt es auf dem englischen Wikipedia über Richard Owen (Wiki):
Ausgesprochen kritisch gegenüber Charles Darwin's Theorie der Evolution durch natürliche Selektion, stimmte er mit Darwin darin überein, daß Evolution als solche stattgefunden habe. Allerdings meinte er, dies habe in komplexerer Weise stattgefunden, als dies in Darwin's "On the Origin of Species" dargestellt worden war. Owen's Denken über Evolution kann als ein solches angesehen werden, das jene Themen vorweggenommen hat, die später im Zusammenhang mit dem Entstehen der Fachrichtung der "Evolutionären Entwicklungsbiologie" große Aufmerksamkeit gewonnen haben.Über die Fachrichtung der Evolutionären Entwicklungsbiologie (kurz "Evo-Devo") heißt es (Wiki):
An outspoken critic of Charles Darwin's theory of evolution by natural selection, Owen agreed with Darwin that evolution occurred, but thought it was more complex than outlined in Darwin's On the Origin of Species. Owen's approach to evolution can be seen as having anticipated the issues that have gained greater attention with the recent emergence of evolutionary developmental biology.
Eine Gruppe von Philosophen und theoretischen Biologen (mit der Programmatik einer Erweiterten Synthese der Evolutionstheorie) benutzt den Begriff Evo-Devo auch als Bezeichnung für die Forschung zu der Frage, ob und wie die Prozesse der Embryonalentwicklung möglicherweise die Evolution der Organismen (Phylogenese) beeinflussen.Es geht hier um die Frage, wie die Epigenetik des Embryos (die Gesetzmäßigkeiten der DNA-Methylierung) verändert werden kann von einer Generation zur nächsten, so daß über eine solche "Vererbung erworbener Eigenschaften" - vom Prinzip her - Artbildung stattfinden kann (4, 5). Wir erfahren (Wiki):
Rupke rehabilitierte mehrere Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts, indem er ihre zeitgenössische Bedeutung rekonstruierte, darunter vor allem Richard Owen, der schon vor dem Erscheinen von Charles Darwins "The Origin of Species" eine naturalistische, wenn auch nicht-darwinistische Theorie der Evolution entwickelte.
Weiter heißt es über Rupke:
Gegenwärtig arbeitet er über eine Reihe nicht-darwinistischer Evolutionsbiologen des 19. und 20. Jahrhunderts - über die strukturalistische Tradition in der Biologie - beginnend mit dem Göttinger Medizinprofessor Johann Friedrich Blumenbach.
Abb. 2: Vorlesung von Richard Owen, 1850 |
In einer Rezension über die Erstausgabe des Buches von Rupke hieß es (3)*):
Unverdientermaßen ist Owen zu wenig bekannt, so zeigt Nicolaas Rupke auf. Wahr ist, daß Owen nicht anerkannte, daß neue Arten durch natürliche Selektion entstehen könnten. Aber Rupke macht klar, daß er darin mit Darwin übereinstimmte, daß Evolution selbst eine Tatsache ist. All seine Erfahrung lehrte ihn das.Original: Nicolaas Rupke shows that Owen’s reputation is undeserved. Owen, it is true, did not accept that new species arose by natural selection. But, as Rupke makes clear, he agreed with Darwin that evolution was a fact. All his experience told him so.
Und weiter (3):
Owen stimmte aber mit Darwin nicht auf allen Gebieten überein. (...) Wie Goethe und andere deutsche Naturphilosophen glaubte er, daß die Evolution dadurch voranschreitet, daß eine innere Kraft den Archetyp der Wirbeltiere zu höheren und immer perfekteren Formen vorantreibt. Auch seinen einflußreichen Freunden schien dies ein sehr attraktiver Gedanke zu sein. Er war aber ein Greuel für Darwin und insbesondere für Huxley.Yet Owen did not support Darwin fully. (...) Like Goethe and other German natural philosophers, Owen believed that evolution was progressive, an inner force pushing the vertebrate ‘archetype’ on towards higher and more perfect forms. This was an attractive idea too for his powerful friends, but anathema to Darwin and, in particular, Huxley.
Schon 1836 waren Owen und Darwin erstmals in persönlichen Austausch miteinander gekommen (Wiki):
In dieser Zeit sprach Owen von seinen Therorien, die von Johannes Peter Müller beeinflußt waren, daß lebende Materie eine "organisierende Energie" hätte, eine Lebenskraft, die dem Wachstum des Gewebes eine Richtung gäbe, und die die Lebensspanne des Individuums und der Art determinieren würde.
At this time, Owen talked of his theories, influenced by Johannes Peter Müller, that living matter had an "organising energy", a life-force that directed the growth of tissues and also determined the lifespan of the individual and of the species.
Die diesbezüglichen Gedanken von Johannes Peter Müller (1801-1858) (Wiki, engl) finden wir nur auf dem englischsprachigen Wikipedia behandelt (4):
He begins with a discussion of why organic matter differs fundamentally from inorganic but then proceeds to chemical analyses of the blood and lymph. He describes in detail the circulatory, lymphatic, respiratory, digestive, endocrine, nervous, and sensory systems in a wide variety of animals but explains that the presence of a soul makes each organism an indivisible whole. The same work that examines the behavior of light and sound waves proposes that living organisms possess a life-energy for which physical laws can never fully account.Auf Wikipedia können wir dann noch das folgende über die Inhalte der Biographie von Rupke erfahren (Wiki):
Während der 1840er Jahre kam Owen zu dem Schluß, daß die Arten als Ergebnis einer Art evolutionären Prozesses entstehen. Er nahm sechs mögliche Mechanismen hierfür an: Parthenogenese, verlängerte Entwicklung, Frühgeburten, angeborene Mißbildungen, Lamarck'schen Gewebeschwund, Lamarck'sche Gewebevergrößerung und Transmutation, wobei er von letzterer annahm, daß sie am wenigsten wahrscheinlich eine Rolle spielen würde. (...) Am Ende seines Buches "Über die Natur der Gliedmaßen" von 1849 äußerte Owen die Vermutung, daß die Menschen letztlich von den Fischen her aufwärts evoluiert seien als das Ergebnis von Naturgesetzen. Im Manchester Spectator wurde er dafür kritisiert, da er leugnen würde, daß Arten wie der Mensch durch Gott geschaffen seien. Owen sympathisierte deshalb zwar mit Entwicklungstheorien der Evolution, schreckte aber davor zurück, öffentlich darüber zu reden, nachdem schon ein anonym publiziertes Evolutionsbuch "Vestiges of Natural History of Creation" 1844 kritische Reaktionen hervorgerufen hatte.
Sometime during the 1840s Owen came to the conclusion that species arise as the result of some sort of evolutionary process. He believed that there was a total of six possible mechanisms: parthenogenesis, prolonged development, premature birth, congenital malformations, Lamarckian atrophy (Gewebeschwund), Lamarckian hypertrophy (Gewebevergrößerung) and transmutation, of which he thought transmutation was the least likely. The historian of science Evelleen Richards has argued that Owen was likely sympathetic to developmental theories of evolution, but backed away from publicly proclaiming them after the critical reaction that had greeted the anonymously published evolutionary book "Vestiges of the Natural History of Creation" in 1844 (...). Owen had been criticized for his own evolutionary remarks in his "Nature of the Limbs" in 1849, At the end of "On the Nature of Limbs" Owen had suggested that humans ultimately evolved from fish as the result of natural laws, which resulted in his being criticized in the Manchester Spectator for denying that species such as humans were created by God.
Über das hier erwähnte, anonym publizierte Buch ist zu erfahren (Wiki):
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*) Von uns gefunden im Nachlaß des deutschen Biophysikers Gerold Adam (1933-1996) (Wiki), der als Zellphysiologe und Alternsforscher ebenfalls an einer naturalistischen, nicht-darwinistischen Theorie der Evolution arbeitete. In einer Kopie dieser Rezension hat er 1994, zwei Jahre vor seinem Tod, die im folgenden zitierten Passagen gelb markiert.
"Vestiges of the Natural History of Creation" (dt.: Spuren der Naturgeschichte der Schöpfung) war ein in London im Jahr 1844 anonym publiziertes populärwissenschaftliches Buch. In ihm wurde die Idee einer deistischen, d. h. ohne direkte göttliche Eingriffe verlaufenden kosmischen, geologischen und biologischen Evolution vertreten. Es fand weite Verbreitung und wurde wegen seiner unorthodoxen und spekulativen Vorstellungen kontrovers in der damaligen viktorianischen Gesellschaft rezipiert. Der Autor, der 1871 verstorbene schottische Verleger Robert Chambers, wurde erst in der 1884 posthum erschienenen 12. Auflage des Buches offenbart. Die erste deutsche Übersetzung (...) erschien 1851.Und weiter zu Owen (Wiki):
In 1854, gave a British Association talk on the impossibility of bestial apes, such as the recently discovered gorilla, standing erect and being transmuted into men, but Owen did not rule out the possibility that humans had evolved from other extinct animals by evolutionary mechanisms other than transmutation. (...)1860 veröffentlichte Owen eine Rezension zu Darwin's Buch:
On the publication of Darwin's theory, in "On The Origin of Species", he sent a complimentary copy to Owen, saying "it will seem 'an abomination'" (eine Abscheulichkeit). Owen was the first to respond, courteously claiming that he had long believed that "existing influences" were responsible for the "ordained" (vorbestimmte) birth of species. Darwin now had long talks with him and Owen said that the book offered the best explanation "ever published of the manner of formation of species". (...) It appears that Darwin had assured Owen that he was looking at everything as resulting from designed laws, which Owen interpreted as showing a shared belief in "Creative Power".
In ihr zeigte Owen seinen Unmut über das, was er als Darwin's Karrikatur der kreationistischen Position ansah, und daß er ignorieren würde Owen's "Axiom von dem kontinuierlich geschehenden, vorgesehenen Werden der lebenden Dinge".Owen war der Begründer des Museums für Naturgeschichte in London und im Jahr 1860 forderte er - nachdem das Museum immer größere Popularität erhalten hatte infolge des Buches von Darwin - eine räumliche Erweiterung desselben, denn zur Zeit könne er den Besuchern gar nicht all jene Fossilien zeigen, für die sie sich nun durch das Buch von Darwin angefangen hätten zu interessieren (Wiki):
In it Owen showed his anger at what he saw as Darwin's caricature of the creationist position, and his ignoring Owen's "axiom of the continuous operation of the ordained becoming of living things".
As head of the Natural History Collections at the British Museum, Owen received numerous inquiries and complaints about the Origin. His own views remained unknown: when emphasising to a Parliamentary committee the need for a new Natural History museum, he pointed out that "The whole intellectual world this year has been excited by a book on the origin of species; and what is the consequence? Visitors come to the British Museum, and they say, 'Let us see all these varieties of pigeons: where is the tumbler, where is the pouter?' and I am obliged with shame to say, I can show you none of them" .... "As to showing you the varieties of those species, or of any of those phenomena that would aid one in getting at that mystery of mysteries, the origin of species, our space does not permit; but surely there ought to be a space somewhere, and, if not in the British Museum, where is it to be obtained?"Die Erweiterung des Museums wäre dringend notwendig, damit die Öffentlichkeit sich besser auseinandersetzen könne mit dem "Geheimnis aller Geheimnisse, dem Ursprung der Arten", so Owen. - Insgesamt haben wir es hier mit einer biologischen Denktradition des 19. Jahrhunderts zu tun, die am Anfang des 21. Jahrhunderts wieder wachsende Attraktivität für Biologen besitzt.
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*) Von uns gefunden im Nachlaß des deutschen Biophysikers Gerold Adam (1933-1996) (Wiki), der als Zellphysiologe und Alternsforscher ebenfalls an einer naturalistischen, nicht-darwinistischen Theorie der Evolution arbeitete. In einer Kopie dieser Rezension hat er 1994, zwei Jahre vor seinem Tod, die im folgenden zitierten Passagen gelb markiert.
/ Erster Entwurf:
20.7.2019 /
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- Rupke, Nicolaas Adrianus: Richard Owen - Victorian Naturalist. Yale, New Haven/ London 1994
- Rupke, Nicolaas Adrianus: Richard Owen - Biology without Darwin. University of Chicago Press, Chicago/ London 2009 (bearbeitete Neuauflage der Ausgabe von 1994)
- Webster, Stephen: Review: The truth about Darwin's old foe. New Scientist, 3. September 1994, https://www.newscientist.com/article/mg14319414-600-review-the-truth-about-darwins-old-foe/.
- Bading, Ingo: Was geschieht im heranreifenden Embryo mit der Epigenetik? Neueste Erkenntnisse zur epigentischen Vererbung an nachfolgende Generationen, 30. März 2020, https://studgendeutsch.blogspot.com/2020/03/was-geschieht-im-heranreifenden-embryo.html.
- Bauer, Joachim: Das kooperative Gen - Abschied vom Darwinismus. Hoffmann und Campe, Hamburg 2008
- Otis, Laura: Johannes Müller. The Virtual Laboratory. 2004. (ISSN 1866-4784), http://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/references?id=enc22.
- Chambers, Robert: Natürliche Geschichte der Schöpfung des Weltalls, der Erde und der auf ihr befindlichen Organismen, begründet auf die durch die Wissenschaft errungenen Thatsachen. Friedrich Vieweg und Sohn, Braunschweig 1851 (GB)
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