Samstag, 23. November 2013

"Im ruhigen Ton der klassischen griechischen Tragödie ..."

In der antik-griechischen Kultur galt der Mord an Wehrlosen noch nicht per se als moralisch minderwertig

Woher kommt eigentlich der Gedanke, daß jenseits der Notwehr der Mord an anderen Menschen etwas per se moralisch Minderwertiges ist? Insbesondere auch der Mord an Mitgliedern anderer Ethnien und Religionsgesmeinschaften? Und insbesondere auch in Kriegszeiten? Dieser Gedanke ist weltgeschichtlich ein erstaunlich junger Gedanke. Er findet sich nicht nur nicht im blutrünstigen Alten Testament (und auch an vielen Stellen nicht im Neuen Testament), er findet sich auch nicht in der klassischen griechischen Kultur. Edward O. Wilson bringt in seinem neuesten Buch "Die soziale Eroberung der Erde" dafür ein eindrucksvolles, ja, ein geradezu erschütterndes Beispiel. Wie eine Kultur von - Philosophen, deren Gesandte quasi philosophisch argumentieren, eine benachbarte Stadt fast der gleichen Kultur grausam niedermetzelt und ausrottet. Wilson (1, S. 84f):
Thukydides berichtet, die Athener hätten das unabhängige Volk von Melos aufgefordert, im Peloponnesischen Krieg das Bündnis mit Sparta aufzukündigen und sich dem Attischen Seebund anzuschließen. Gesandte beider Städte diskutierten die Frage. Die Athener erklärten: "Doch das Mögliche der Überlegene durchsetzt, der Schwache hinnimmt." Die Melier erwiderten, sie würden sich niemals verskalven lassen und überließen sich der Gerechtigkeit der Götter. Daraufhin die Athener: "Wir glauben nämlich, vermutungsweise, daß das Göttliche, ganz gewiß aber, daß das Menschenwesen allezeit nach dem Zwang seiner Natur, soweit es Macht hat, herrscht. Wir haben dies Gesetz weder gegeben noch ein vorgegebenes zuerst befolgt, als gültig überkamen wir es, und zu ewiger Geltung werden wir es hinterlassen, und wenn wir uns daran halten, so wissen wir, daß auch ihr und jeder, der zu selben Macht wie wir gelangt, ebenso handeln würde. Vor den Göttern brauchen wir also darum nach der Wahrscheinlichkeit keinen Nachteil zu befürchten." Als die Melier sich weiterhin weigerten, rückten bald die attischen Streitkräfte an, um Melos gewaltsam zu erobern. Im ruhigen Ton der klassischen griechischen Tragödie berichtet Thukydides: "Die Athener richteten alle erwachsenen Melier hin, soweit sie in ihre Hand fielen, die Frauen und Kinder verkauften sie in die Sklaverei. Den Ort gründeten sie selbst neu, indem sie später 500 attische Bürger dort ansiedelten."
Was für ein Wahnsinn. So sagen wir aus heutiger Sicht. Ein wenig scheint den philosophisch gebildeten Athenern ihr Handeln auch der Rechtfertigung bedürftig zu sein. Ein wenig. Wenn es dann aber zum Handeln kommt, wird nicht mehr gezaudert und gezögert. Könnte man sich Sokrates unter den Soldaten der Athener vorstellen? Hat sich Sokrates über so etwas Gedanken gemacht?

Dieser kurze Bericht wirft einmal neu die Frage auf: Wo also stammt unsere heutige Moral der "Humanitas" eigentlich her? Wenn wir sie noch nicht einmal finden in der als über weite Strecken vorbildlich zu erachtenden, kulturell hochstehenden antik-griechischen Kultur? Gab es dafür Ansätze in der antiken Mittelmeerkultur? Ist wirklich die Bergpredigt des Neuen Testaments - und damit eine Geistestradition, die sicherlich auf wichtige Bestandteile des Buddhismus in Indien zurückgeht - der wesentlichste Ausgangspunkt gewesen für diese "Humanitas"?

Daß sich diese "Humanitas" dann mit Hilfe des Christentums erst auf merkwürdigen weltgeschichtlichen Umwegen Geltung verschafft - bis heute -, braucht ja nicht weiter erörtert zu werden. Es ging damit eine Heuchelei einher, die geradezu grenzenlos ist.

Aber schon im 18. Jahrhundert wurden wohl Soldaten, die Kriegsgefangene oder sonstige wehrlose Bevölkerung einfach niedermetzelten und mißhandelten, als minderwertig erachtet. Da bildete sich ein neuer Ethos der Ritterlichkeit und des "anständigen Soldaten" heraus. Ohne Frage. Ein Ethos, gegen den dann insbesondere im Zwanzigsten Jahrhundert in geradezu lächerlich umfangreicher Weise wieder verstoßen worden ist. Es stammt wohl aus dem Ethos des christlichen Ritters, des Schützers der Witwen und Waisen, des Rächers der Enterbten. Insgesamt scheint dabei doch der Geist des Christentums, der nicht der Geist des Alten Testaments ist, einen nicht unwesentlichen Zivilisationsbeitrag geleistet zu haben.

Aber den Einzelheiten wird bei Gelegenheit noch einmal genauer nachzugehen sein.

Abb 1: Krieger im Zweikampf, angefeuert von Athena und Hermes. Rotfigurige Vasenmalerei, um 530 v.C. Amphore im Louvre, Paris
Einerseits wäre zu sagen, daß es in der Zeit vor dem mörderischen Peloponnesischen Krieg durchaus Kräfte und Tendenzen gab, die diese Selbstzerfleischung der antik-griechischen Kultur als eine Gefahr sahen. So haben die Spartaner beispielsweise über viele Jahrzehnte hinweg ihre militärische Überlegenheit allen anderen grieichischen Stadtstaaten, ja, noch nicht einmal Persien gegenüber ausgespielt. Sie wurden diesbezüglich nicht zu "überschwenglich", wohl nicht zuletzt auch aus der Ahnung heraus, daß das langfristig keine guten Folgen haben könnte für das innergriechische politische Gleichgewicht. Und so verhielt sich auch der Stadtstaat Athen über lange Zeit hinweg.

Erst der Sieg der Athener bei Marathon und im Krieg gegen die Perser, die Verwirklichung der attischen Demokratie, der Aufschwung in Kunst, Dichtung und Philosophie in Athen bewirkten jene "Überschwenglichkeit" Athens auch auf politischem Gebiet, die das politische Gleichgewicht der Kultur der griechischen Stadtstaaten so nachhaltig aus dem Gleichgewicht brachten.

Einhegung menschlicher Gewalttätigkeit nach dem Dreißigjährigen Krieg

Doch erklärt das nicht das grundlegendere Problem, daß Mord an Kriegsgefangenen per se nicht als moralisch minderwertig erachtet worden ist. Die antik-griechische Kultur - wie überhaupt viele vormittelalterliche Kulturen in Europa und im Vorderen Orient -, so wird man womöglich mutmaßen können, lebten noch aus einem Geist seelischen Reichtums und seelischer Überschwenglichkeit heraus, bei dem es auf eine ausgerottete Stadt mehr oder weniger nicht ankam. Wobei auch der Erschütterung über den Untergang einer solchen Stadt oder eines ganzen Reiches, Volkes (siehe die "Ilias", siehe die Tragödie "Die Perser", oder siehe den "Sterbenden Gallier" etc.) ja keineswegs unbeachtet blieb. Sondern sogar Antrieb wurde zu weltgeschichtlich bedeutsamstem kulturellem Schaffen.

Aber zur Herausbildung der spezifisch modernen Humanitas wird beigetragen haben, daß die christlichen, abendländischen Völker und Kulturen aus einem solchen seelischen Reichtum, einer solchen seelischen Überschwenglichkeit, Überfluß heraus nicht mehr lebten. Und daß womöglich aus dieser allgemeinen seelischen Armut heraus das Bedürfnis als dringender empfunden worden ist- zumal etwa nach Ereignissen wie dem Dreißigjährigen Krieg - wenigstens im menschlichen Verhaltensbereich des Mordens und Tötens, des Völkermordes einem solchen disharmonischen Unfrieden nach und nach mehr Einhalt zu gebieten, diesen Verhaltesnbereich "einzuhegen", "einzugrenzen", zu "zivilsieren". 
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  1. Wilson, Edward O.: Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen. C. H. Beck 2013
  2. Pinker, Steven: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. Fischer, Frankfurt am Main 2011
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