Auf vielen zentralen Gebieten der europäischen Geschichte, auch dem der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, wurden im Frühmittelalter jene Grundlagen gelegt, die noch bis in unsere Zeit hinein nachwirken. Im Frühmittelalter entstand mit der Landnahme der germanischen Stämme in Süddeutschland und im heutigen Frankreich, sowie in England jenes ländliche Siedlungsmuster, das sich in den Grundzügen bis heute erhalten hat. Ein großer Teil der deutschen, der fränkischen, alemannischen und bayerischen Dörfer und Dorfnamen geht auf Gründungen im Frühmittelalter zurück. Diese Dörfer sind in der Landnahmezeit zunächst als kleine Weiler, als kleine Häusergruppen (um einen Adelshof herum) entstanden und wuchsen in späterer Zeit, besonders im Hoch- und Spätmittelalter, durch Landteilungen und Rodungen zu der Größe der heutigen Dörfer an mit ihren Vollbauernhöfen, Halbbauern und Kätnerhäusern.*)
In römischer Zeit hat es in Süddeutschland, in Frankreich und in Britannien ein ganz anderes Agrarsystem gegeben, als dann mit der germanischen Landnahme etabliert worden ist. Es ist sehr erstaunlich zu erleben und zu erforschen, wie die germanischen Landnahme-Stämme mit diesem von ihnen vorgefundenen Siedlungsmuster und Agrarsystem umgegangen sind. Dazu ist ein neuer Überblicks-Artikel erschienen (1) (Early Medieval Europe, frei herunterladbar).
Die römische "Villa rustica" ...
Das römische Agrarsystem war in der Spätantike über das ganze Römische Reich hinweg jeweils zentriert um die sogenannte "Villa rustica", die die umfangreichen städtischen Bevölkerungen im Römischen Reich versorgten, und auf denen auch nicht unerhebliche Steuerlasten ruhten. (Wiki) Diese ländlichen Villen, bzw. Landgüter waren oft sehr luxeriös ausgestattet. Mit den bekannten Mosaikfußböden und Wandmalereien. Sie wurden von der römischen Oberschicht bewohnt, die auf ihren Villen Sklaven und Freigelassene wirtschaften ließen.
Die Villen waren zum Teil auch nach ästhetischen Aspekten, das heißt in landschaftlich schöner Lage angelegt worden. So die heute so genannte Villa Hasselburg im Odenwald (Wiki). Sie wurden von Menschen angelegt, die Sinn für landschaftliche Schönheiten hatten. Es geht dies auch aus vielen anderen Zeugnissen hervor. So aus überkommenen spätantiken, lateinischen Dichtungen, die - etwa - zum Preis der landschaftlichen Schönheiten des Moseltales verfaßt worden sind.
... und ihre Nachnutzung durch die germanischen "Barbaren"
Nach dem derzeitigen Stand der archäologischen Forschungen muß man sich die Germanen als von ganz anderem kulturellen "Kaliber" beschaffen vorstellen. Keineswegs brachten sie etwa ein zivilisatorisch "verfeinertes" Kulturbewußtsein mit sich. Sie waren wirtschaftlich auch mehr auf den lokalen Markt hin orientiert, nicht auf reichsweite Absatzmärkte, wie die römische Villenwirtschaft. Die Forscherin Tamara Lewit schreibt in ihrem Artikel über die germanische Nachnutzung der römischen Villen (1, S. 83):
... Residential zones were used for agricultural or industrial purposes, and oil presses, storage jars, hearths, pottery kilns, iron-working furnaces, fish-processing tanks and cisterns were installed in the formerly decorative rooms, even at what had been the most luxurious villas. Often these utilitarian features were cut into rich mosaic floors, implanted in the monumental reception rooms, or constructed from converted bathhouse features. There appear to have been considerably fewer imported luxury goods, and a completely different construction style was used, employing ephemeral materials (usually wood, earth and stucco), post-hole structures (often large) and sunken buildings, and rougher building techniques. Sometimes stone buildings were even deliberately demolished to make way for new timber structures. At other sites, rooms were converted into private oratories or baptisteries. Often, burials were placed within or around villa buildings.Unprätentiöse Nachnutzung
Oft wurden die Villen auch "links liegen" gelassen, sie verfielen. So daß erst in den letzten Jahrzehnten in Wäldern und auf heute waldfreiem Gebiet ihre Grundmauern wieder zum Vorschein gekommen sind. Tamara Lewit schreibt über die eigenen, weilerartigen Ansiedlungen der Germanen:
... Such wood-built rural settlement, in which habitation, burial and utilitarian uses were more closely clustered than in Roman practice, is perhaps better seen as the start of early medieval patterns than as the sad and sorry tail-end of first-to fourth-century settlement forms. Recent archaeological work suggests that the characteristic settlement type of the fifth to seventh centuries was the small wooden hamlet of a few houses and work buildings. A wellexplored example is El Val in Spain, where the luxurious Roman period habitation was replaced by a 14 × 19 m wooden structure, with evidence of different zones used for habitation, cooking, sleeping and the care of animals. Such arrangements seem similar to early medieval highstatus farmsteads such as Cowdery’s Down in Britain, a sixth-century elite habitation consisting of a 194 qm wooden structure and several other houses and sunken buildings; or the late seventh-century wooden farmstead at Lauchheim, which was surrounded by supplementary buildings and a large enclosed yard where six exceptionally rich graves were placed. Socio-cultural changes among the aristocratic elite – including a change in its composition – may have played an important role in the transformation. The radically new inclusion of burials within the villa building, and the careless destruction of elements essential to the classical lifestyle, like bathhouses, seem particularly indicative of cultural changes such as the militarization of the elite.Pollendiagramm-Untersuchungen lassen es keineswegs nahegelegen erscheinen, daß nach der germanischen Landnahme in Nordwesteuropa etwas das Land weniger intensiv genutzt worden wäre als zuvor. Lewit betont nur, daß es anders genutzt wurde. Mit anderen, vielfältigeren Anbau-Sorten. Und die Herdenhaltung, sowie die Waldweide spielten nun wieder eine größere Rolle.
Prosperierender östlicher Mittelmeer-Raum
Im Vergleich der nachantiken Siedlungs- und Wirtschaftsformen Nordwesteuropas mit denen Italiens und mit jenen des östlichen Mittelmeerraumes stellt Lewit fest, daß der östliche Mittelmeerraum noch über lange Zeiträume des Frühmittelalters hinweg wirtschaftlich - und überraschenderweise sogar: demographisch (etwa in Griechenland) - prosperierte. Diesen Umstand hat man sich als wirtschaftliche und demographische Grundlage des politischen und kulturellen Aufblühens der oströmischen, byzantinischen Kultur im Mittelalter hinzudenken.
Um so weiter man in den Jahrhunderten voranschreitet, um so mehr wird man sowohl im nördlichen Europa wie im Mittelmeerraum von religionsdemographischen Verhältnissen zu sprechen haben, die durch die christliche Religion sehr stark mitbeeinflußt und stabilisiert worden sind und immer weniger von nachwirkenden, antiken demographischen Bedingungsfaktoren ("Bevölkerungsweisen" in der Begrifflichkeit von Gerhard Mackenroth).
In der hier behandelten Übergangszeit ist der Einfluß des Christentums auf die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ebenso wie auf die Demographie sicherlich noch nicht so sicher zu bestimmen, wie das Religionswissenschaftler Michael Blume möglicherweise gerne voraussetzen würde (siehe "Natur des Glaubens" und dortige Diskussionen).
Reiche, prächtige Adelsgräber der Germanen
Für Spanien und Nordafrika, die Getreideversorgungsländer der Spätantike, zeichnet Lewit im übrigen noch einmal ein leicht anderes Bild. Hier siedelten zwar die germanischen Stäme der Wandalen und Westgoten. Aber sie siedelten dort keineswegs so nachhaltig und dicht wie im nördlichen Europa.
Und festzuhalten wäre außerdem, daß die Stämme der germanischen Landnahmezeit über viele Jahrhunderte hinweg - zumindest in den Adelskreisen - keineswegs als wirtschaftlich "verarmt" bezeichnet werden kann - etwa im Vergleich zur vorausgehenden römischen Oberschicht. Die reich ausgestatteten Adelsgräber, die reiche Ausstattung von Klöstern wie auf der Insel Reichenau (im Bodensee) schon in dieser frühen Zeit, ebenso wie die riesigen Reihengräberfelder zeichnen ein Bild, dem wirtschaftshistorisch die richtigen Bedingungsfaktoren zugeordnet werden müssen.
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*) Nebenbei sei bemerkt, daß die Siedlungsdichte des Frühmittelalters im mitteleuropäischen Raum zuvor schon annähernd von der bandkeramischen Kultur erreicht worden war - aber nur von dieser. Nach dem Untergang der Bandkeramik (4.700 v. Ztr.) hat erst das Frühmittelalter (600 n. Ztr.), noch nicht einmal die keltische Kultur, wieder eine vergleichbare Siedlungsdichte erreicht (abgeleitet aus der archäologischen Fundort-Dichte der vielen aufeinander folgenden archäologischen Kulturen). Dieser Umstand stellt besonders die exzeptionelle Rolle heraus, die die bandkeramischen Kultur für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Europas, bzw. ihre Grundlegung gespielt hat. (Siehe dazu --> Folgeartikel.)
Literatur:
1. Tamara Lewit (2009). Pigs, presses and pastoralism: farming in the fifth to sixth centuries AD Early Medieval Europe, 17 (1), 77-91
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