Sonntag, 19. Januar 2025

Eine "große Liebende in Schmerz, Seligkeit und Hingabe ..."

In unserem jüngsten Video (Yt) und in dem dazu gehörigen Blogartikel (Stg25) ist auf die frühe Liebeserfahrung der Dichterin Agnes Miegel (1879-1964) Bezug genommen worden und auf ihre bis ans Lebensende frische, unverbrauchte Schaffenskraft. Dazu hat der Verfasser dieser Zeilen schon um 2002 einen Aufsatz verfaßt, der bislang noch nie veröffentlicht worden ist. Er soll hier erstmals in leicht überarbeiteter Form zugänglich gemacht werden. Voran gestellt seien die beiden Endzeilen eines Gedichtes von Agnes Miegel aus dem Jahr 1903 (s. FüK21):

"Ich weiß, daß der Herr meine Sünden vergibt,
Denn ich liebte, wie nur eine Stuart liebt!"


Abb. 1: Agnes Miegel, 1902 (Bildarchiv Ostpreußen)

Im Jahr 1936 brachte die Dichterin Agnes Miegel eine Ausgabe „Gesammelte Gedichte“ heraus. Die Abfolge der darin zusammen gestellten Dichtungen kann wie eine Lebensbeschreibung der Dichterin gelesen werden. In der ungefähren Abfolge, in der „Lebensthemen“ im Leben der Dichterin selbst bedeutend geworden waren und dann wieder abgeklungen sind, klingen auch in dieser Ausgabe abschnittsweise jeweilige Lebensthemen in Gedichtform an.

„Aggressive Bitterkeit gegen sich selbst“

Das Leben Agnes Miegels (1879-1964) - Neue Zeugnisse und Sichtweisen

Am Anfang stehen - wie auch ungefähr in ihrem Erwachsenenleben - die berühmten Balladen Agnes Miegels, die lange Zeit in jedes deutsche Schulbuch gehörten. Mit diesen war sie um 1900 herum bekannt geworden (S. 3-72). Als solche war sie bekannt geworden zusammen mit zwei ihrer bedeutendsten, lebenslangen Freunde, nämlich zusammen mit den beiden Balladendichtern Börries von Münchhausen (1874-1945) und Lulu von Strauss und Torney (1873-1956). Unter anderem wird in diesen Balladen die tiefe Grausamkeit der Kriemhild der Nibelungen-Sage dichterisch neu gefaßt. Zugleich auch der Schmerz der Kriemhild über ihre eigene Grausamkeit. Schon die Zeitgenossen haben empfunden, daß diese Ballade auch dem tieferen Wesensgehalt der Nibelungen-Sage selbst sehr nahe gekommen ist. Und dies galt und gilt für viele historische Themen, die Agnes Miegel in ihren Balladen und Gedichten aufgegriffen hat.

Es folgen in einem weiteren Abschnitt dann eher persönlich gehaltene Gedichte. Unter anderem sind diese an die eigenen Vorfahren gerichtet. Außerdem folgen Gedichte über die Kinderheimat und über die Lebenszeit als heranwachsendes Mädchen (S. 73-79). Es folgt dann ein Abschnitt mit elf Liebesgedichten. Alle elf sind sehr persönlich gehalten (S. 80-90). Wie sollte es da ausgeschlossen sein - und das soll im folgenden begründet werden -, daß diese elf Gedichte dem Inhalt nach aus dem ersten - und wohl einzigen - großen Liebeserleben im Leben der Dichterin heraus entstanden sind. Bei diesem handelt es sich um ihre stolze und heftige Zuneigung zu dem für damalige Zeiten sehr unkonventionell lebenden Dichter Börries von Münchhausen.

Börries von Münchhausen (1874-1945)

Agnes Miegel blieb mit Börries von Münchhausen lebenslang befreundet. Ebenso bestand lebenslang ein herzliches, freundschaftliches Verhältnis zu seiner ganzen Familie, die in Niedersachsen beheimatet war. Nach ihrer Flucht aus Ostpreußen im Jahr 1945 siedelte sich Agnes Miegel deshalb in der Nähe dieses Familiensitzes an. Börries von Münchhausen selbst setzte sich immer wieder - sowohl im privaten Kreis wie öffentlich - für seine Dichterfreundin Agnes Miegel ein. Diese Umstände werden mit dazu beigetragen haben, daß Agnes Miegel sich zu ihren Lebzeiten niemals besonders deutlich über ihre frühe Leidenschaft für diesen Mann äußerte, ebenso wenig über die außerordentlich tiefe Verletzung, die dieselbe mit sich gebracht hat. 

Abb. 2: Agnes Miegel, 1902 (Bildarchiv Ostpreußen)
Die genannten elf Liebesgedichte lassen, würden sie tatsächlich aus der Zuneigung zu Börries von Münchhausen heraus entstanden sein, denselben auch keineswegs in einem guten Licht erscheinen. Zumindest soweit er nicht als Freund, sondern als Liebender angesprochen wäre. Wollte Agnes Miegel die bleibende Freundschaft zu ihm und seiner Familie nicht aufs Spiel setzen, durfte sie deshalb auch keine eindeutige Deutung dieser Gedichte für die Öffentlichkeit geben. Es fragt sich hinwiederum auch, warum ihr das überhaupt hätte wichtig erscheinen sollen. Diese Gedichte stehen auf eigenen Füßen, auch wenn man nicht um diese persönlichen Hintergründe rund um ihre Entstehung weiß.  

Agnes Miegel konnte über derartige Dinge zwar völlig freimütig sprechen - aber eher im vertrauten Kreis und nicht jedem Menschen, bzw. und „Philister“ gegenüber. Oftmals sprach sie nur verschlüsselt und in Andeutungen. So sagte sie einer guten Bekannten: „Man muß es für sich behalten, daß sich nicht freuen die Töchter der Philister!“

Selbst in der ausführlichen, detailreichen Biographie über Agnes Miegel, die nach ihrem Tod 1967 von ihrer nahestehenden Freundin Anni Piorreck heraus gebracht worden ist, wird ihre jugendliche Zuneigung - bzw. flammende Zuneigung - zu Börries von Münchhausen nur in wenigen Sätzen angedeutet. Dasselbe gilt von der 1990 heraus gekommenen, korrigierten Neuauflage derselben. Bei dieser Gelegenheit wird keinerlei Name genannt. Diese Biographie ist aus der Kenntnis vieler wesentlicher Einzelheiten im Leben von Agnes Miegel heraus geschrieben. Und sie ist, zumal sie bisher die einzige geblieben ist (Stand 2002), außerordentlich wichtig und verdienstvoll.

Eine unbefriedigende Biographie über Agnes Miegel (1967/1990)

Heute (2002) jedoch, vierzig Jahre nach dem Tod von Agnes Miegel und nach dem Hinwegsinken ihrer ganzen Zeitepoche spätestens in der Kulturrevolution von 1968, läßt die Biographie von Anni Piorreck den Leser unbefriedigt zurück. Die ganze Zeit- und Kulturepoche, in der Agnes Miegel gelebt und gewebt hat, wird letztlich doch nicht in einem „großen Wurf“ gezeichnet, wie es notwendig wäre, um ein kraftvolles Lebensbild zu geben. Es wird nicht ein mit vollen Pinselstrichen gemaltes Lebensbild gegeben, wie es einer so bedeutenden Dichterin wie Agnes Miegel angemessen wäre.

Der vorliegende Aufsatz möchte in Richtung einer neuen, zeitgemäßen Auffassung des Lebensbildes von Agnes Miegel hinwirken. Sie war und ist eben nicht nur die allseits verehrte „große Dichterin“ Ostpreußens - vor allem unter den ostpreußischen Vertriebenen. Sondern sie war vor allem ein Mensch mit seiner Freude und seinem Schmerz. Ein Mensch, den man viel besser versteht, wenn man über prägende Phasen, Erlebnisse seines Lebens nicht nur in Andeutungen erfährt. Und zwar in Andeutungen, die man fast überliest. Nein, sie müssen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestellt werden. Dann kommt uns ein solcher Mensch vielleicht in manchen Lebensinhalten auch viel „moderner“, „zeitgemäßer“ vor, als dies sonst der Fall sein mag.

Die Titel der genannten elf Liebesgedichte  lauten: „Liebe“ („Ich warf wie tote Muscheln / Liebe und Treu in den Sand ...“), „Wer ruft die Rose zurück“, „Flieder“, „Der es gegeben“ (entstanden 1927), „Der Garten“, „Johanni“, „Weit in der Fremde“, „Neumond“, „Frühling“ und „Dämmerung“ („Du sprichst -  ich höre schweigend hin / Wie fremd ist deiner Stimme Klang! / Und ich zermartre meinen Sinn / Was so an dir mein Herz bezwang. ...“).

Nach diesen elf Gedichten folgen in dem Gedichtband von 1936 noch weitere "Lebensthemen". Sozusagen das große Leid dieser Liebe ausklingen lassend und die Gedanken allmählich wieder auf andere Erlebnisinhalte richtend, folgen weniger persönliche Gedichte über das Erleben einer Witwe, einer späten Frauenliebe und ähnliches (S. 91-95).

Es folgt dann das berühmte Gedicht „Heimweh“, das schon im Jahr 1907 entstanden war („Ich hörte heute morgen / Am Klippenhang die Stare schon ...“). Ein Gedicht ist an eine gestorbene alte Frau gerichtet, möglicherweise die Mutter von Börries von Münchhausen, die, wovon noch die Rede sein wird, eine sehr enge Freundin von Agnes Miegel geworden war. Außerdem folgen Gedichte an Jugendfreundinnen und -freunde (etwa gefallen im Ersten Weltkrieg) und an Kinder in der Verwandtschaft, an deren Schicksal die kinderlose Agnes Miegel Anteil genommen hat.

Abb. 3: Agnes Miegel, Sommer 1901 (Bildarchiv Ostpreußen)

Dann folgt wieder fast eine Zäsur mit dem Gedicht „Aufschrei“ aus dem Jahr 1927 („Für dies verzettelte Leben, / Das wie Wasser durch meine Hände rann ...“). Dieses Gedicht gibt auch die Stimmung wieder, die sich in vielen brieflichen Äußerungen Agnes Miegels aus dieser Zeit widerspiegelt. Damals mußte sie - in der Blütezeit ihres Lebens - fast nur für und mit ihren beiden alten, kranken Eltern und in deren Alt-Königsberger „Bürgerlichkeit“ leben. Sie tat das in treuer Pflichterfüllung, zugleich aber auch immer wieder in „aggressiver Bitterkeit gegen sich selbst“. Über diesen bis heute wenig beachteten Charakterzug Agnes Miegels wird weiter unten ebenfalls noch zu handeln sein.

Immer wieder beschlich sie der ungeheure Verdacht, daß sie diesen Kindes-Pflichten letztlich ihre große Begabung als Dichterin aufopfern würde. Aus ähnlichen Stimmungen heraus entstand wohl das Gedicht „Ich“ (im Jahr 1920) („In dem Geschwätz und Gewühl / vor dem plätschernden Brunnen am Markte ...“). Dann folgt ein Gedicht, das man eigentlich nur anti-christlich nennen kann:  „Heimat“ (ebenfalls aus dem Jahr 1920) („Nicht in euren Himmel will ich kommen / Wo die weißen Engel Harfe spielen, / In die alte Heimat werd ich wandern ...“).

Und nun stehen da einige der großen, stolzen Gedichte auf die vielfältige Geschichte Ostpreußens und auf seine berühmten Gestalten (S. 109-141), um derentwillen sich Agnes Miegel in die Herzen ihrer Landsleute und der Deutschen eingeschrieben hat („Kynstudt“, „Hennig Schindekopf“ [entstanden schon 1901], „Heinrich von Plauen“ und andere). Dann folgen Gedichte auf die Zeitereignisse des Ersten Weltkrieges und die unmittelbare Nachkriegszeit, etwa: „Über der Weichsel drüben ...“ (aus dem Jahr 1927) („Über der Weichsel drüben, Vaterland höre uns an! / Wir sinken wie Pferd und Wagen versinken im mahlenden Sand ...“), „Die Fähre“ (entstanden an der Memel im Jahr 1920, kurz bevor das Memelland an Litauen abgetreten wurde).  Außerdem: „England 1918“ („Weißbrüstige Tochter Alfreds / die ihm die Keltin gebar ...“ ) (S. 142-168).

Das sind Anklagen an die Ereignisse der Zeit und an die Mißhandlung ihrer Heimat, die Abtrennung des Memellandes und Westpreußens an fremde Staaten - während die kalte, „weißbrüstige Tochter Alfreds“ „am Pool von London“ sitzt und große Völker und Volksgruppen durcheinanderschüttelt wie bunte Perlen in ihrer Hand. - - - 

„Von da an haben wir uns zwei Jahre lang sehr lieb gehabt“ (1898)

Doch zurück zu dem Eingangsthema: Wer war Börries von Münchhausen, den Agnes Miegel mit 19 Jahren kennenlernte? Dazu muß eine Literaturhistorikerin angehört werden, deren Veröffentlichung die Anregung zur Erarbeitung des vorliegenden Aufsatzes gegeben hat. Über diesen Mann berichtet sie folgendes (Poschmann, S. 8): „Zu Beginn seiner Göttinger“ (Studien-) „Zeit hatte er seinen ersten Gedichtband veröffentlicht, der enthusiastische Besprechungen auslöste und außer seinem ohnehin sehr ausgeprägten Selbstbewußtsein bei ihm das Gefühl dichterischer Berufung unabweisbar bestätigte. Man gab sich als Bohemien und verachtete alles Bürgerliche und Konservative, vor allem die hannoversche adlige Gesellschaft. Diese Lebenshaltung steigerte sich noch, als Münchhausen mit einigen seiner Dichterfreunden im Wintersemester 1897 nach Berlin übersiedelte mit dem Vorsatz, sein Jurastudium abzuschließen. Doch ehe es soweit war, stürzte er sich in ein - nach seinen eigenen Worten - ‚ausbordendes Kunstzigeunertum‘, wurde Sozialdemokrat, trat aus der Hannoverschen Landeskirche aus und trug in ‚frechster Herausforderung einen Rosenkranz als Pfeifenschnur‘. Nächte hindurch saß er in den Kriminellenkellern im Norden Berlins mit üblem Volk zusammen, in der Hoffnung, ‚bei ihnen Güte und Edelsinn ..., Selbstlosigkeit und Hingabe an irgendeinen Gedanken‘ zu finden. Er ließ sich als Chefredakteur für die ‚Münchhausen‘ benannte satirische Zeitschrift gewinnen und brachte alttestamentarische Balladen unter dem Titel ‚Juda‘ heraus - beides Provokationen für die Familie und für die hannoversche Gesellschaft, vor allem, als er aus dem Büchlein ‚Juda‘ noch Dichterlesungen in dem Zionistischen Verein in Hannover hielt.“ 

Auch noch weitere, ähnliche Schilderungen zeigen insgesamt einen Mann, der in seiner lässigen Nonchalance auf ein ähnlich oberflächlich gesinntes, aber ebenfalls doch auch begabtes Mädchen von 19 Jahren Eindruck machen konnte. Das geschah, als die junge Agnes zusammen mit ihrem Vater auf der Reise nach Paris nach Berlin kam, um mit Börries von Münchhausen über die Veröffentlichung ihrer Gedichte persönlich zu sprechen.

Abb. 4: Börries von Münchhausen (wohl um 1899 herum)

Im kulturellen Gedächtnis blieb Agnes Miegel als alte, verehrte Dichterin der Stadt Königsberg und des Landes Ostpreußen, sowie der ostpreußischen Vertriebenen in Erinnerung. Obwohl sie ihre heftige Leidenschaft für den exzentrischen Dichter um die Jahrhundertwende niemals völlig geheim gehalten hat, ist dieselbe bis heute in ihren Lebensbeschreibungen höchstens vage angedeutet worden.

Und doch klingt auch durch ihre starke Heimatverbundenheit bis an ihr Lebensende jene Verachtung für alle Bürgerlichkeit hindurch, jene „Bohemienhaftigkeit“, von der auch die Leidenschaft für Börries von Münchhausen bestimmt gewesen sein muß. Wenn es um ihre Heimatliebe ging, konnte sie noch an ihrem Lebensende sprechen von „Spießerseelen und ihren kleinen Seelenwehwehs“ - als wäre sie immer noch eine 19-Jährige.

„Sie sagte einfach ‚Wie du willst‘ “

In seinen eigenen, autobiographischen Aufzeichnungen aus den 1930er Jahren hat Börries von Münchhausen über seine Liebe zu Agnes Miegel das folgende geschrieben (zit. n. Poschmann, S. 10f): „Im Jahre 1898 hatte ich von einem jungen Mädchen aus Königsberg Gedichte zugeschickt bekommen, die mich mehr als begeistert hatten. Ich sah auf den ersten Blick: Eines der ganz seltenen weiblichen Genies legte diese Verse und die Worte dieser Briefe aufs Papier. Wundervolle hell-dunkle Stimmungen klangen auf, wunderlicher Aberglauben rankte um einen kindisch-kindlichen Glauben.“ In dieser, gegenüber dem weiblichen Geschlecht natürlich kraß überheblichen Art schreibt Börries von Münchhausen weiter. Er berichtet dann:

„Unser Briefwechsel nahm in wenigen Wochen sehr herzliche Formen an. Im August kam sie mit ihrem Vater, der sie in eine Pariser Pension brachte, durch Berlin und blieb drei Tage hier.“ Münchhausen berichtet wie er - nachdem eine erste Verabredung nicht zustande gekommen sei -, seiner selbst unbewußt wie ein Blinder durch die Großstadt und das Menschengedränge Berlins geradewegs zu ihr „hingeführt“ worden sei - in einen vollgedrängten Bierkeller Unter den Linden. Dieses „blinde“ Hinfinden paßt durchaus zu manchen Inhalten von Gedichten Agnes Miegels und der darin enthaltenen „Ahnungen“ und „Gesichte“. Börries von Münchhausen schreibt: „Als ich den Kopf hob, da wußte ich, daß dieses dunkelhaarige Mädchen, das mit seinem Vater am Tisch saß, meine Briefschreiberin sei. Und ich streckte ihr die Hand hin und sagte: ‚Guten Tag, Agnes Miegel!‘ Und sie sagte in ganz selbstverständlichem Tone: ‚Börries von Münchhausen.‘ Ihre Stimme war weich, tief und voll, gar nicht so wie ihre 19 Jahre.

Sie war sehr schön.

Dann begleitete ich sie in ihr Gasthaus. Im Gewühl der Friedrichstraße wurde sie einen einzigen Augenblick von ihrem Vater abgedrängt, und in dieser einzigen Sekunde sagte ich: ‚Morgen um 10 am Theater des Westens‘.

Sie sagte einfach: ‚Wie du willst‘. Von da ab haben wir uns zwei Jahre lang sehr lieb gehabt. Wir haben uns freilich nur selten gesehen. Als sie aus Paris kam, holte ich sie in Köln ab, und wir machten eine kleine Rheinreise.“ - Und auf diese Rheinreise - als Unverheiratete - wird sich noch eine viel spätere Äußerung oder Andeutung von Agnes Miegel bezogen haben, die weiter unten gebracht werden wird. - „Und dann, als sie in Berlin Pflegerin im Friedrich-Kinder-Krankenhaus war. Aber die kargen Stunden wurden uns zu Jahren, und ein täglicher Briefwechsel vertiefte unser Verhältnis.“ Börries von Münchhausen behauptet dann:

„Wir haben alles miteinander geteilt, am innigsten unsere künstlerische Arbeit. In meinen Gedichten stecken viele Verse, die sie mir sagte, in ihren Büchern viele von mir, und wir haben oft gelacht, wenn wir dachten, ob die Gelehrten des Schrifttums wohl die Anteile auseinandertrennen könnten. In einzelnen Fällen ging die Arbeit des anderen fast an die Hälfte heran.“ - Und weiter schreibt er:

Abb. 5: Agnes Miegel, 1902

„Schließlich haben wir uns getrennt, wie wir uns zusammengefunden hatten: Als freie Menschen, aus freien Stücken. Und nicht ein Tropfen Bitterkeit ist in den Kelch der Freundschaft gefallen, die uns seither brieflich verbindet.“ 

Wenn man diese Aussage vergleicht mit den Briefen von Agnes Miegel an ihre Freundinnen oder auch mit ihren Gedichten zu diesem Thema, wird deutlich, wie unterschiedlich diese Trennung „aus freien Stücken“ von beiden Seiten aufgefaßt worden ist - und wie wenig Börries von Münchhausen sich das bewußt gemacht hat. Er schreibt: „Wir haben es vom ersten Tag an gewußt und haben es wiederholt besprochen, daß diese Trennung einmal kommen müsse. Und trotzdem haben wir getan, als ob jene Monate ewig wären.“

Nach allem, was erkennbar wird, hat Agnes Miegel dieses Verhältnis und sein Ende - ganz für sich - noch in einer ganz anderen Weise empfunden.

Diese autobiographischen Aufzeichnungen von Börries von Münchhausen sind erstmals 1990 veröffentlicht worden (Poschmann, S. 10f) und geben - wohl bei mancher Beschönigung des eigenen Verhaltens von Seiten Börries’ von Münchhausen - eine ganz neue und andere Sicht vor allem auf die junge Agnes Miegel frei.

Lebenslang unverheiratet - „An mir hat es nicht gelegen.“

Eine Freundin berichtet über ein Gespräch, das sie mit Agnes Miegel irgendwann in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg geführt hatte  (Ilse Reicke-von Hülsen in: Wagner, S. 63): „ ‚Man muß es für sich behalten, daß sich nicht freuen die Töchter der Philister!‘ Mit leisem Lachen klingt die Stimme Agnes Miegels durch das vertraute Zimmer. Wir haben davon gesprochen, daß heut so überraschend oft Brautleute miteinander auf Reisen gehen. Heut, nach Jahren, stellt sich die Erinnerung an ein anderes Gespräch daneben; damals sagte Agnes Miegel: ‚Meine Ahnen haben sich nicht noch einmal verkörpern wollen. An mir hat es nicht gelegen ...‘ “ Hier ist sehr behutsam das angedeutet, was Börries von Münchhausen in seinen Aufzeichnungen deutlich ausspricht. Einerseits - wohl - die gemeinsame Rheinreise, andererseits die spätere Trennung.

Und auch Anni Piorreck, die Königsberger Freundin und erste Biographin Agnes Miegels, deutet sehr zurückhaltend - aber doch wohl treffend - diese Geschehnisse an (Piorreck, S. 46): „Ihre Schönheit und Anmut verschaffen ihr zwar manche Bewunderer, doch es scheint gerade bei diesen ersten frühen Begegnungen, als ob von vornherein jede Partnerschaft, die bei den anderen bald zur Verlobung und Ehe führt, ausgeschaltet sein müsse. Sie hat später oft darüber berichtet, und ihr Gedicht ‚Der Schatten‘ aus dem zweiten Gedichtband“ (von 1907) „hat dies verschlüsselt ausgesprochen.“

Weiter schreibt Anni Piorreck (Piorreck, S. 48f) von der „jungen Agnes als der großen Liebenden in Schmerz, Seligkeit und Hingabe. Der Mann aber, dem diese Liebe gehörte, war zwar künstlerisch hochbegabt, menschlich jedoch unzuverlässig - eine Don-Juan-Natur von verwöhnter Überlegenheit und Arroganz. Er war nicht der ebenbürtige Gefährte für das schwerblütige Mädchen, das er ständig betrog. ‚Herz, das mich immer verriet!‘ Obwohl Agnes bald seine menschlichen Schwächen erkannte, hat es fast anderthalb Jahrzehnte gedauert, bis sie sich von dieser Liebe hat lösen können. Dann aber schrieb sie (an Lulu von Strauß und Torney am 2. 3. 1914): ‚Ich habe mich mit einer Enttäuschung nach der andern abgefunden. Jetzt am Ende bin ich nur über eines erstaunt: wie unbedeutend, wie nebensächlich in meiner geistigen Entwicklung das war, was man Liebe nennt ...‘ “

Vermutlich wäre es aber ein großes Mißverständnis, wenn man zu der Einschätzung neigen würde, daß hier ein „Herz, das nie gelernt hat zu entsagen“, schon die letzte und vollständige Wahrheit über sein Leben ausgesprochen hätte. Im Jahr 1914 war Agnes Miegel erst 35 Jahre alt. Lulu von Strauss und Torney (1873-1956), das muß hier ergänzt werden, war die gemeinsame Freundin von Börries und Agnes, die dritte damals bekannte Balladendichterin in ihrer Runde. Auch sie hatte zeitweilig ein Verhältnis mit Börries gehabt, das noch sehr viel später (in den 1930er Jahren) zu sehr tiefgreifenden Auseinandersetzungen mit dessen auch sonst noch oft betrogener Ehefrau Anlaß geben sollte.

An Reaktionen Agnes Miegels zu der hier behandelten Thematik sind etwa auch bekannt (Margarete Haslinger, in: Wagner, S. 31; dazu auch: Piorreck, S. 47f): „Einmal fragte ich sie in den letzten Jahren, weshalb sie ein frühes Liebesgedicht, das ich sehr liebte, nicht in ihre Gesammelten Werke aufgenommen habe. Mit einer abwehrenden Handbewegung sagte sie: ‚Nachempfunden! Es gibt Verse, die man nur in der Jugend schreibt. Aus Mangel an eigenem Erleben gibt man dann nur von anderen gehörte Worte und Gefühle wieder, hingerissen von ihrer Magie ...‘ “

„Daß sich nicht freuen die Töchter der Philister ...“

Konkreter ist von der Literaturhistorikerin zusammenfassend zu erfahren (Poschmann, S. 11.13): „Bis über beide Ohren verliebt, lernte sie auf der Rückreise von Paris in Berlin sein“ (Börries‘) „Leben und seine Lebensverhältnisse kennen. Und das kann nur ein Schock für sie gewesen sein: An jedem Finger eine Freundin, von denen die eine oder andere zeitweise seine Wohnung teilte, eine andere Dichterin, Anna Richter, die ihn anbetete und deren Gedichte er in der Zeitschrift ‚Münchhausen‘ veröffentlichte. Sein flottes Leben spiegelt sich in dem Briefwechsel mit seinen Eltern, in dem sich Karten wie diese befinden:

‚Komme Freitag 15 Uhr 24 in Hannover an. Bringe Anna mit.‘ Darauf antwortete der Vater: ‚Anna Ritter wird uns natürlich hier als Gast sehr willkommen sein, ebenso wie Agnes Miegel.‘ Dann die postwendende Karte des Sohnes: ‚Ei herrje - nee, alter Herr, nicht Anna Richter, sondern Anna Sahlis!‘

Agnes Miegel blieb nichts anderes übrig, als sich zurückzunehmen, ihre Gefühle auf ein freundschaftliches Verhältnis zu reduzieren, um das künstlerische Miteinander zu retten. (...) Dennoch gibt es einige Verse, die ihre unglückliche Situation gegenüber Börries von Münchhausen so konkret widerzuspiegeln scheinen, daß man darin eine Umsetzung des eigenen Erlebens vermuten darf, so das Gedicht:

Liebe
Ich warf wie tote Muscheln
Liebe und Treu in den Sand,
Vergaß wie welke Blumen
Vater und Vaterland.

Dachte an Leid und Reue
Fluch und Segen nicht,
Dachte nur an dein schönes
Hochmütiges Gesicht.

Und all meine Liebe
Achtest du so gering
Wie einen blinden schmalen
Unechten Krämerring!“

Von Seiten der Literaturhistorikerin ist über Börries zu erfahren: „Seinem Vater, der ihn drängte, endlich Examen zu machen und standesgemäß zu heiraten, schrieb er“ (Börries) „1899, er halte nichts von der ‚durch das beständige Dienen veredelten christlichen Frau ... Diese Frauen sind immer Sklaven oder Tyrannen ... Mein Ideal als Frau ist in vielem die Tante Frieda Lipperheide. Daneben Agnes Miegel.‘ “ Die genannte Tante war eine Freundin der Mutter von Börries v. M. und Herausgeberin einer modernen Frauenzeitung. Es sei noch ein anderes Gedicht Agnes Miegels aufgeführt, das wohl als Ausdruck des Erlebens der Liebe zu Börries von Münchhausen aufgefaßt werden kann:

Der es gegeben

Der es gegeben
Daß ich so jung dich fand,
Gott hielt dein und mein Leben
Wie Blumen in seiner Hand.

Daß er die eine
Verwarf und zertrat,
Er weiß alleine
Warum er es tat.

Der nimmt und der gibt
Weiß, warum er uns schied - 
Herz, das mich immer geliebt,
Herz, das mich immer verriet.

So kurz nur gegeben
Die Frist, die uns band -
Gott hielt dein und mein Leben
Wie Blumen in seiner Hand!

Börries von Münchhausen hingegen schrieb ein Gedicht ganz anderer Art und ganz anderen Inhalts über sein Verhältnis zu Agnes Miegel (zit. n. Poschmann, S. 18):

Meiner Freundin (A. M.)

Wohl brach ich oft die Treue,
Die ich so fest versprach,
Und gab den Schwur aufs neue,
Bis wieder ich ihn brach.

Dir hab ich nicht gegeben
Das oft gebrochne Wort,
Und weiß: mich hält fürs Leben
Das ungesprochne Wort.

Wenn man aus der Perspektive von Agnes Miegel auf diesen Börries von Münchhausen schaut, dann erscheint er als ein durch und durch unsympathischer Mann. Wohl ein nicht ganz leicht zu durchschauender Charakter, dieser Börries von Münchhausen.

Der Brief- und Besuchkontakt zwischen Agnes Miegel und Börries von Münchhausen hielt bis zu dem Freitod des letzteren nach Kriegsende 1945 an. Und auch noch die Wahl des Alterswohnsitzes von Agnes Miegel in Bad Nenndorf ist von der Nähe zu dem Stammsitz Apelern der Familie von Münchhausen und von dem engen Verhältnis, das Agnes Miegel Zeit ihres Lebens zu dieser Familie unterhielt, bestimmt.

„Als wir uns fanden, Schwester, wie waren wir jung ...“

Das Leben Agnes Miegels (1879-1964) - Neue Zeugnisse und Sichtweisen - 2. Teil

„Was seid ihr beiden für verständige Leute“

Abb. 6: Agnes Miegel, 1906 (Bildarchiv Ostpreußen)
Im ersten Teil dieser Aufsatzreihe ist von der Jugendliebe Agnes Miegels zu Börries von Münchhausen berichtet worden. In diesem zweiten Teil wird durch lose Anführung wenig bekannter Lebenszeugnisse aus den weiteren Lebensjahrzehnten sowohl eine Charakterisierung des weiteren Lebensganges und der inneren Entwicklung von Agnes Miegel gegeben wie auch eine Charakterisierung der Art des „Nachzitterns“ dieser großen Jugendliebe durch die weiteren Lebensjahrzehnte.

Nebenbei sei erwähnt: Die Bebilderung dieser Aufsatzreihe profitiert von jenen Funden, die man auf dem Bildarchiv Ostpreußen machen kann.

Von Seiten der Literaturwissenschaft wird zu der Trennung von Börries von Münchhausen noch einmal die Reaktion der Mutter von Börries berichtet (Poschmann, S. 14-16): „Trotz aller Boheme, trotz aller nach außen demonstrierten Ablehnung der bürgerlichen und erst recht adligen Konvention war Börries von Münchhausen sich in seiner jugendlich-genialischen Schizophrenie“ (oder einfacher: seiner egoistischen Arroganz) „immer bewußt, daß ihm als Angehörigen des niedersächsischen Uradels nur eine standesgemäße Heirat anstand. Das hatte er in ehrlicher und unbarmherziger Offenheit seiner verliebten Freundin wohl von Anfang an zu verstehen gegeben. (...)

Als die Begeisterung des Berliner Studenten für seine Freundin im fernen Königsberg immer höhere Wellen schlug, fragte seine Mutter schließlich an, was er mit dem Mädchen vorhabe, und Börries klärte sie - unterstützt durch beiderseitige Briefe - darüber auf, daß er von vornherein klare Verhältnisse geschaffen hätte und Agnes Miegel das genauso sähe.

‚Tausend noch mal‘, entfuhr es seiner Mutter im Antwortschreiben, ‚was seid Ihr beiden für verständige Leute, Du und Agnes Miegel, nämlich Du für sie und sie für Dich. Aber weißt Du, daß das Mädel mir ganz leid tut? Wer so ideal empfindet, wie sie nach ihren Versen tun muß, und hat dabei so unbarmherzig klare Augen fürs Reale, dem muß das Leben manchmal schwer sein zu leben! Aber sie muß durchaus gesund sein - von innen heraus und im höheren Sinne gemeint - und so wird sie der Zwiespalt nicht brechen.‘ “

Einerseits scheint die Mutter hier doch viel über Agnes Miegel verstanden zu haben. Andererseits sind ihre Worte wohl nicht geeignet, die Leichtfertigkeit ihres Sohnes scharf und eindeutig genug zu charakterisieren. Die in Sprachen und manchem anderem hochbegabte Mutter von Börries von Münchhausen, Clementine (gestorben im Jahr 1913), die in Apelern wohnte, ist wenig später eine enge mütterliche Freundin Agnes Miegels geworden.

Clementine von Münchhausen (1901)

Diese Freundschaft ist durch Börries vermittelt worden, der seiner Mutter, so berichtet uns die Literaturwissenschaft (Poschmann, S. 26), „im Mai 1901 aus Sahlis“ (dem Wohnort seiner künftigen Frau Anna) „schrieb, daß er seiner zukünftigen Frau Gedichte von  ‚Bulck und Miegel vorgelesen hatte, die beide in diesen Tagen erschienen‘  sind.  ‚Mutti, willst Du vielleicht der Tutt‘ - das war der Kosename der Dichterin - ‚mal ein paar Worte über ihr Buch schreiben? Sie hat doch eigentlich so recht keine Mutter, und da möchte ich sie an meine mal anbeißen lassen.‘

Clementine packte ein Paket voll Lavendel und Gartenblumen und schrieb einen Brief dazu, der das Mädchen beglückte ob der ‚Freude und des Interesses an meinem Talent‘. Schon dieser erste Brief der jungen Dichterin an die Unbekannte ist von einer entwaffnenden Offenheit, und sie erklärte das so:  ‚Weil Sie mir so gar nicht fremd waren. Der Brief sieht mich so freundlich an. Ich habe solche Angst vor Ihnen gehabt. Börries und Lange und Hans von der Gabelentz sagten, Sie seien so schrecklich klug. Aber die 3fache Großmutterschaft beruhigten mich.‘ Sie entschuldigt ihr Herzausschütten: ‚Wem soll ich alles sagen, was mir durch den Kopf geht und im Herzen steht: - ich hab keinen. - Und es schreibt sich sehr schön.‘ “

Abb. 7: Agnes Miegel "und Lise", zwischen 1900 und 1905

Börries von Münchhausen ging also seine „standesgemäße“ Ehe ein. Er lebte fortan auf der Burg Windischleuba in Thüringen. Aber auch seine standesgemäß angetraute Ehefrau hatte ihr ganzes Leben über unter den vielen „Nebenfrauen“ ihres Mannes zu leiden. Zu diesen „Nebenfrauen“ gehörte letztlich auch - aber wohl in distanzierterem Sinne als gute Freundin - weiterhin Agnes Miegel. Mit ihr blieb er in stetigem Briefwechsel und beriet sie auf ihren Wunsch hin auch in geschäftlichen und Verleger-Fragen.

Im April 1901 versucht Agnes Miegel in einem Brief an ihre Freundin Lulu, ihr eigenes sich andeutendes Lebensschicksal von der heiteren Seite zu nehmen (Inge Diederichs, S. 250): „Komm und erzähle mir mehr von der Lou Salome und ihren Ansichten über die Ehe. Ich schwanke seit vorgestern, ob ich später ins Kloster gehen soll oder meinem Jugendfreund Carl Bulcke einen Heiratsantrag machen. Ich verstehe ihn so gut. - Ich weiß noch nicht recht, was von beidem ich tun werde. Ich denke zuerst das zweite, da kann ich mich immer noch mal anders besinnen.“ Lou Andreas Salome war die Freundin Friedrich Nietzsches und Rainer Maria Rilkes gewesen, später auch von Sigmund Freud. Carl Bulcke, ein Königsberger, hatte 1900 seinen ersten Roman und 1901 einen Gedichtband herausgegeben.

„In diesem Augenblick gingst Du für immer ganz in mein Leben ein.“

Lulu von Strauss und Torney-Diederichs - seit 1916 war sie mit dem Verleger Eugen Diederichs verheiratet und 1930 Witwe geworden - veröffentlichte im Jahr 1939 zum 60. Geburtstag Agnes Miegels das folgendes Gedicht (St. d. Fr.):

Als wir uns fanden, Schwester, wie waren wir jung!
Denkst Du der Stunde? Die Großstadt dröhnte von ferne -
Zögernd in fremder Tür, fragendes Lächeln im Auge,
Bräunlichdunkel und schmal, immer noch seh‘ ich Dich stehn!
...
Als wir uns fanden, Schwester, wie waren wir jung!
Wo beginnt und wo endet strömend Geben und Nehmen
Zwischen denen, die früh Wahl und Schicksal verband?
Ferne ist nicht mehr Ferne, Eins weiß tief um das Andre,
Auch getrennt auf dem Weg Eins des Andern Geleiter:
Immer lauschend tief innen der schwestervertrauten Stimme,
Grüßend im Auge des Andern unvergangene Jugend,
Grüßend in Werk und Gesang schwestervertrautes Herz.

An einem solchen Gedicht wird deutlich, daß auch - oder gerade? - jene für Deutschland im Nachhinein nur als „Schreckenszeit“ charakterisierte Zeit - ein Jahr wie das von 1939 - eine ganze Fülle von hochwertigem kulturellem Schaffen hervorbrachte, das wohl, soweit dies Literatur betrifft, von der Zeit nach 1945 nicht mehr erreicht worden ist. Es war dies auch eben jene Zeit, in der Lulu von Strauss und Torney für die sogenannten „Deutschen Christen“ eine „deutsche“ Bibel ganz neu dichtete.

Aber zurück in die Anfangszeit dieser Freundschaft kurz nach der Jahrhundertwende. Agnes Miegel berichtete zum 60. Geburtstag ihrer Freundin im Jahr 1933 über eine ihrer frühen Begegnungen im August 1901 in einer Försterei bei Nienstedt am Deister, wo Agnes Miegel auf einem Genesungsurlaub weilte (Ulf Diederichs, S. 18): „Du hattest Dich angekündigt, es kam ein heftiges Gewitter nach heißem Tag und so konnte ich Dir erst entgegengehen, als es zu spät war, Dich noch auf der weit abgelegenen kleinen Bahnhaltestelle zu erreichen. Ich dachte, eins der Dorfwägelchen würde Dich mitbringen (…). Da standest Du auf einmal oben vor mir, so als ob Du mitten aus dem grünen Wald tratest, triefend naß in einem bläulichen Kleid und heiß vom raschen Lauf mit einem frohen, überraschten Willkommsruf, lachend und voller Wiedersehensfreude - während der warme silberne Sommerregen in großen Tropfen wie Tränen über Dein Gesicht strömte. - Immer, wenn ich fühle, daß auf mein Suchen Deine Gedanken mir antworten, sehe ich Dich so wieder vor mir, - in dem rauschenden grünen Wald des Landes, das für mich DEIN Land ist und bleibt, in dem silbernen Schein und quellenden Duft von trinkender Erde und gesättigtem Laub, ein einziger Gruß Dein ganzes Wesen und Dein Gesicht so froh und blühend unter diesem strömenden sommerwarmen Schauer.

In diesem Augenblick, wie Du den Waldweg herunter gingst, gingst Du für immer ganz in mein Leben ein.“ 

„ ... ein Hauch der großen Geschichte, fern wie Meerwind“ (um 1902)

Am 17. Februar 1902 schreibt Agnes Miegel an ihre Freundin Lulu über den Vortrag einer gefeierten Schriftstellerin (Gertrud Prellwitz) in Königsberg (Inge Diederichs, S. 251): „Die Königsberger sind ihre begeisterten Anhänger und hören mit Wonne ihre Vorträge. Für die ist das auch gerade die richtige geistige Sonntagsschule. Ich hör zu - wie ich immer zuhöre (darauf ist man heutzutage dressiert), aber es stört mich weiter nicht, es ist keine geistige Massage für mich. H. G. sagt nämlich: Der Philister ist da, um Kinder zu zeugen und das viele Bier auszutrinken, das gebraut wird - den Künstler braucht der Philister als Masseur, wenn er zu fett wird.“ - Sie war sich bewußt, daß auch sie manchmal einen solchen „Masseur“ brauchte, schreibt sie doch über ihre alten Eltern, deren einzige Tochter sie ist, in dem gleichen Brief: „Es gibt eine schöne Rede von der unsterblichen Seele. Meine Angehörigen, glaub ich, haben noch nie daran gedacht, daß ich auch so eine habe. Mutter versorgt meinen Küchenschrank, Vater meinen Geldbeutel - und dadurch mein Bücherspind, aber die sogenannte Seele, die etwas ganz für sich ist, unabhängig von Klugheit oder Küchenodeur - nein, die ist ihnen ganz fremd an mir.“

Abb. 8: Die junge Agnes Miegel
Und nach weiteren Ausschweifungen über die Königsberger, zu denen sie selbstverständlich zum Teil auch ihre Eltern zählt: „Und hinter diesem kleinen Gekribbel - so klein sind sie, daß sie es nicht sehn - groß, grau und lastend, die blutdunkle Geschichte des Koloniallandes - der ewige Kampf zwischen schwarzem und dem weißen Adler, ein Hauch der großen Geschichte fern wie Meerwind.“

Was für Worte. Im Dezember 1902 schreibt Agnes Miegel aus Berlin, wo sie an einem Kinderkrankenhaus arbeitet, an ihre Freundin Lulu von Strauß und Torney (Poschmann, S. 18f): „Ja, Kleines, es geht mir polizeiwidrig gut ... Ich lebe entschieden intensiv, verjünge mich mal wieder - für mich hat die Welt immer einen Jungbrunnen irgendwo ... Die Misere zu Hause, der Herr von Münchhausen auf Windischleuba, das Kinderkrankenhaus - alles ist in einem tiefen schwarzen Brunnen versenkt, dessen Stein ich schnell herunterdrücke, wenn er sich mal heben will. Das meiste ist oublie ...“ „oublie“ ist Französisch und heißt „vergessen“.

In den weiteren Jahren machte Agnes Miegel oft Besuch in Apelern. In das dortige Gästebuch ist sie eingetragen am 3. September 1901, am 18. September 1902 und für einen Aufenthalt vom 8. Juli bis 8. August 1904. Ein weiterer Aufenthalt ist durch Briefe für das Jahr 1903 belegt. Und was waren die Inhalte der Gespräche in Apelern? Etwa auch die mangelnde Erziehung, die Clementine ihrem Sohn hat angedeihen lassen - zumal was Frauen betrifft? Darüber ist wenig bekannt.

Wir hören über den Briefwechsel von Agnes Miegel mit Clementine von Münchhausen (Poschmann, S. 30): „Einen breiten Raum nimmt in der Korrespondenz auch die Situation der Frau in der damaligen Gesellschaft ein, an der beide litten, vor allem an der Arroganz der adligen und bürgerlichen männlichen Führungsschicht und der Professoren. Schon in ihrem ersten Brief an Agnes Miegel, in dem die Baronin den ersten Gedichtband begeistert begrüßte, erzählte sie eine Episode, die sie gerade bei einem literarischen Abend in Göttingen erlebt hatte, dessen Thema eben dieser kleine Gedichtband der unbekannten jungen Frau war. Als man sich über das ‚Entartete‘ eines Gedichtes wie ‚Das ungeborene Leben‘ erregte, konnte die Baronin nicht umhin, einzuwerfen, gerade diese Verse seien ihr ‚besonders lieb‘, woraufhin Professor Ehrenberg ihr folgendermaßen assistierte: ‚Wir müssen ja das Weib erst kennenlernen. Erst die moderne Frauenbewegung hat uns Frauen erstehen lassen, die einmal zu sagen wagen und wissen, wie ein Weib empfindet.‘ - ‚Ich dachte im Stillen‘, bemerkte die Baronin abschließend, ‚das hättet ihr auch früher erfahren können, wenn es einem von euch einmal eingefallen wäre, nachzufragen.‘ “

Eine Erzählung über das Lachen von Agnes Miegel handelt in dieser Zeit auf einem ostpreußischen Gut (Erna Siebert: Die Linde von Corben. In: Wagner, S. 21): „Einmal, es war noch im Anfang des Jahrhunderts, kamen wir wieder von der alten Linde, die so viel zu erzählen wußte, daß Agnes ihr immer zuhören mußte. Da kam uns ein junger Verwandter entgegen. Als er hörte, wer unser Gast war, sagte er ehrerbietig: ‚Gnädiges Fräulein, Ihr erstes Buch war gerade erschienen, als ich mich verlobte, es war auch das erste Geschenk für meine Braut.‘ Mit ihrem schönen offenen Lachen (wir sagten immer, sie konnte Fanfaren lachen), meinte sie schlagfertig: ‚Da habe ich ja 1,50 Mark an Ihnen verdient! Danke!“ So also versuchte Agnes Miegel also, schnell alle falsche, gestelzte, männliche „Ehrerbietigkeit“ auszuhebeln.

„Die Leute haben hier alle den Bildungsstand von S. M.“ (1907-1909)

Auch noch später (1907) schreibt Agnes Miegel nach Apelern (Poschmann, S. 28f): „Königsberg ist eine Hochburg des Dilettantismus, so außerhalb, so kulturlos. Die Leute haben hier alle den Bildungsstand von S. M..“ Mit „S.M.“ (Abkürzung für „Seine Majestät“) war damals immer - sehr respektlos - der deutsche Kaiser gemeint. Es handelte sich hier um eine „Majestätsbeleidigung“, die die Familie Münchhausen in Apelern recht vergnügt zur Kenntnis nahm. Denn die Münchhausens waren - als Angehörige des niedersächsischen Uradels - hohenzollern- und preußenfeindliche Anhänger des (hannoverschen) Welfen-Hauses, das 1866 von Bismarck entmachtet worden war.

Im übrigen aber hat Agnes Miegel gegenüber der Familie Münchhausen die Hohenzollern verteidigt. So schrieb im August 1909 Emmy Lange, die Erzieherin der Münchhausen-Kinder, mit der Agnes Miegel auch Freundschaft geschlossen hatte (Poschmann, S. 28): „Mir kann schon Agnes leid tun – das arme Lamm! Wenn wir über ihre hochverehrten Hohenzollern mit vereinten Kräften herfallen.“ 

Und dann kam irgendwann der Erste Weltkrieg. Aber das soll einem weiteren Teil vorbehalten bleiben. 

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Benutzte Literatur:

  1. Miegel, Agnes: Spaziergänge einer Ostpreußin. Feuilletons aus den zwanziger Jahren. Hrsg. v. A. Piorreck. Eugen Diederichs Verlag, Köln 1985
  2. Miegel, Agnes: Wie ich zu meiner Heimat stehe. Ihre Beiträge in der „Königsberger Allgemeinen Zeitung“ (1926-1932). Hrsg. v. Helga und Manfred Neumann. Verlag Siegfried Bublies, Schnellbach 2000
  3. Miegel, Agnes: Gedichte. J.G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger (14. und 15. Tsd.) Stuttgart und Berlin 1927
  4. Miegel, Agnes: Herbstgesang. Neue Gedichte. Eugen Diederichs Verlag (9. - 18. Tsd.) Jena 1933
  5. Miegel, Agnes: Geschichten aus Alt-Preußen. Eugen Diederichs Verlag, Jena 1942 (1. Aufl. 1934) [enthält die Erzählungen „Landsleute“, „Die Fahrt der sieben Ordensbrüder“, „Engelkes Buße“, „Der Geburtstag“]
  6. Miegel, Agnes: Gesammelte Gedichte. Eugen Diederichs Verlag, (21.-25. Tsd.) Jena 1940 (1. Aufl.: 1936)
  7. Miegel, Agnes: Werden und Werk. Mit Beiträgen von Prof. Dr. Karl Plenzat. Hermann Eichblatt Verlag, Leipzig 1938 [„Durch Dichtung zum Dichten“, Bildnisse von 1905 u. 1938]
  8. Miegel, Agnes: Ostland. Gedichte. Eugen Diederichs Verlag, Jena 1940 [enthält Gedichte wie: „An den Führer“, „Hymne an Ostpreußen“ (1937), „Sonnwendreigen“ (Danzig 1939), „An Deutschlands Jugend“ (Herbst 1939)]
  9. Miegel, Agnes: Im Ostwind. Erzählungen. Eugen Diederichs Verlag, Jena 1940 [enthält die Erzählung „Lotte“]
  10. Miegel, Agnes: Und die geduldige Demut der treuesten Freunde ... Nächtliche Stunde mit Büchern. Verlag Wilhelm Langewiesche-Brandt, Ebenhausen bei München 1941
  11. Miegel, Agnes: Mein Bernsteinland und meine Stadt. (Mit 32 Farbtafeln.) Gräfe und Unzer Verlag, Königsberg/Pr. 1944 [eine große, lange, wenig bekannte Versdichtung]
  12. Miegel, Agnes: Gedichte und Prosa. Auswahl von Inge Diederichs. Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf, Köln 1977 [darin auch Briefe A. M.s]
  13. Miegel, Agnes: Gedichte aus dem Nachlaß. Hrsg. v. A. Piorreck. Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf, Köln 1979
  14. Miegel, Agnes: Es war ein Land. Gedichte und Geschichten aus Ostpreußen. (Redaktion: Ulf Diederichs und Christa Hinze) Eugen Diederichs Verlag, München 1983 (3. Aufl.: 1988)
  15. Agnes Miegel. Stimmen der Freunde zum 60. Geburtstage der Dichterin 9. März 1939. Jahresgabe der Agnes-Miegel-Gesellschaft, Bad Nenndorf 1984 (Eine Auswahl aus dem gleichnamigen Sonderdruck: Eugen Diederichs Verlag, Jena 1939)
  16. Wagner, Ruth Maria (Hrsg.): Leben, was war ich dir gut. Agnes Miegel zum Gedächtnis. Stimmen der Freundschaft. [Ostpreußisches Mosaik, Band X], Verlag Gerhard Rautenberg, Leer/Ostfriesland o. J. (Unveränd. Nachdruck der gleichnam. Ausgabe: Verlag Gräfe und Unzer, München 1965)
  17. Piorreck. Anni: Agnes Miegel. Ihr Leben und ihre Dichtung. Eugen Diederichs Verlag, Korrigierte Neuauflage, München 1990 (1. Aufl.: 1967)
  18. Seidel, Ina: Lebensbericht 1885-1923. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1970
  19. Starbatty, Ursula (Bearbeiterin): Begegnungen mit Agnes Miegel. Jahresgabe 1989/90 der Agnes-Miegel-Gesellschaft, Bad Nenndorf 1989
  20. Poschmann, Brigitte: Agnes Miegel und die Familie Münchhausen. Jahresgabe der Agnes-Miegel-Gesellschaft. Bad Nenndorf 1992
  21. Schücking, Beate E. (Hrsg.): „Deine Augen über jedem Verse, den ich schrieb“. Börries von Münchhausen - Levin Schücking - Briefwechsel 1897-1945. Igel Verlag Literatur, Oldenburg 2001
  22. Diederichs, Ulf: Agnes Miegel, Lulu von Strauß und Torney und das Haus Diederichs. Die Geschichte einer lebenslangen Freundschaft. Jahresgabe 2005 der Agnes-Miegel-Gesellschaft. Überarbeiteter Festvortrag zu Agnes Miegels 125. Geburtstag, gehalten am 6. März 2004 in Bad Nenndorf

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