Montag, 16. Dezember 2024

Notre Dame - Kunstwerke von Weltrang entdeckt

Bislang unbekannte mittelalterliche Skulpturen entdeckt (1230/1260)
- Der Lettner von Notre Dame und sein Figurenschmuck - Eine Wiederentdeckung

Sie sind weltberühmt - die Stifterfiguren des Naumburger Meisters im Naumburger Dom (Wiki). Erst wenn man sie sich vor Ort anschaut, wird einem bewußt, daß derselbe Künstler, der um 1250 herum diese Stifterfiguren als reifes Werk geschaffen hat, im Naumburger Dom auch den Figurenschmuck des sogenannten "Westlettners" geschaffen hat (WikiCom, GAj2010). 

Abb. 1: Figur des um 1230 geschaffenen und 1699 abgebrochenen Lettners in Notre Dame (Foto von Denis Gliksman im Auftrag von Inrap)

Der Westlettner ist - unberechtigterweise - viel weniger bekannt. Stifterfiguren und Westlettner bilden aber innerhalb des Naumburger Domes sozusagen ein "Gesamtkunstwerk".

Der Naumburger Meister (1200-1270) (Wiki) hat um 1240 auch den Westlettner des Mainzer Domes geschaffen. Dieser war dem Heiligen Martin gewidmet. Der Mainzer Westlettner ist 1683 abgebrochen worden. Dabei wurden wichtige Kunstwerke des Naumburger Meisters gerettet: So "Die Verdammten in Ketten" (Wiki), der "Mainzer Kopf mit der Binde" (DDB, Rev, Fli) und "Der Heilige Martin teilt seinen Mantel mit einem Bettler" ("Bassenheimer Reiter") (Wiki).

Wir können uns alle noch erinnern: Im April 2019 brannte in Paris der Dachstuhl von Notre Dame - lichterloh (Wiki). Das Feuer war nur schwer einzudämmen und drohte, den gesamten Dom zu zerstören. Die Bilder gingen um die Welt. Ein Wahrzeichen des Abendlandes stand in Brand. Entsetzt schaute die Welt auf solche Bilder. Sie lösten unmittelbar Trauer aus. Oder war es Untergangsstimmung? Man bekam ein Gefühl für die Verletzlichkeit unserer Kultur. Und es wurde zugleich sichtbar, wie sehr wir Menschen doch alle in Liebe verbunden sind mit dem Großen in dem, was wir "Kultur" und "kulturelle Vergangenheit", "Überlieferung" nennen. Eine Verbundenheit, die im Grunde auf einer ganz vorrationalen Ebene angesiedelt ist. Eine Verbundenheit, die gar nicht einmal besonders viel Wissen voraussetzt. 

Es mag daran erinnert werden, wie es beispielsweise dem deutschen Schriftsteller Gerhard Hauptmann erging, als er den Untergang Dresdens 1945 erlebte. Die Worte, die er dabei nieder schrieb, sind damals im Rundfunk verlesen worden. "Ich weine. Man stoße sich nicht an dem Wort weinen ..." (1, 2) 

Aber der Brand von Notre Dame hatte ungeahnte Folgen. Bevor die schweren Baugerüste für den geplanten Wiederaufbau aufgestellt wurden, mußte - routinemäßig - der Fußboden unter der Vierung des Querschiffes archäologisch erforscht werden. Im April 2022 berichtete die nationale Archäologiebehörde Frankreichs (Wiki), die Grabung sei vom 2. Februar bis 8. April 2022 durchgeführt worden. Es seien gefunden worden (Inrap04/22), ...

... zahlreiche Elemente des mittelalterlichen Lettners (zerstört während der Herrschaft Ludwigs XIV.). (Sie) befanden sich in einem außergewöhnlichen Erhaltungszustand.

Ein zauberhafter, farbiger Kopf fand sich unter dem entdeckten Abraumschutt des Lettners (Abb. 1, 2) (Tw). Ein Kunstwerk aus der Zeit zwischen 1230 und 1260, genau aus derselben Schaffensperiode wie der des berühmten Naumburger Meisters (Wiki) in Deutschland. Die gezeigten Bilder erregten nicht nur in der Kunstwelt höchstes Erstaunen, sondern auch unter sonstigen Kulturinteressierten. Letztere mögen auf Facebook über solche Fotos gestolpert sein (so wie der Verfasser dieser Zeilen). Und sie mögen danach fragen lassen, worum es sich hier eigentlich handelt (s.a. FSSPX). Um die historischen Zusammenhänge zu verstehen, sei noch einmal genauer über die Geschichte von Notre Dame de Paris nachgelesen (Wiki):

Im Jahr 1699 wurden auf Wunsch Ludwigs  XIV. und seines Vaters Ludwig  XIII. tiefgreifende Veränderungen an der Innenausstattung der Kathedrale, insbesondere am Chor, vorgenommen. Der Architekt Robert de Cotte ließ den Lettner (der durch ein vergoldetes schmiedeeisernes Tor mit Goldfalzen ersetzt wurde) und einen Teil der Hochreliefs der Zäune abreißen, um den Chor zum Chorumgang hin zu öffnen, indem er sie durch Gitter ersetzte, um die vollständige Neugestaltung des Chores im Stil der damaligen Zeit zu ermöglichen - so wie dies bei vielen anderen gotischen Kathedralen in ganz Europa im 17. und 18. Jahrhundert geschah. ...

Wir hörten schon davon, daß ähnliches zuvor auch schon im Mainzer Dom geschehen war. 

Abb. 2: Figur des um 1230 geschaffenen und 1699 abgebrochenen Lettners in Notre Dame (Foto von Hamid Azmoun im Auftrag von Inrap)

Die Frage stellt sich nun auch: Was eigentlich sind "Lettner"? Welche Funktion haben sie? Seit dem 6. Jahrhundert entstand in der christlichen Priesterschaft das Bedürfnis, in großen Kirchen den eigentlichen Chor und Altarraum einer Kirche und die dort dem Gott ergeben dienenden Priester von der sündigen Welt der Nichtpriester zu trennen. Diese Trennung war im Mittelalter in kleinen Dorfkirchen oft schon dadurch erreicht, daß das sündige Volk von außerhalb der Kirche dem Gottesdienst im Innern folgte (Wiki). Man bedenke doch auch, daß der Blick in das schöne Gesicht einer weltlichen Dame einen Kleriker während des Gottesdienstes völlig aus der alleinigen Besinnung auf das Göttliche hin reißen kann. Also, solche Lettner sind schon notwendig (Wiki):

Bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts war der Lettner eines der Hauptelemente des liturgischen Lebens der Gläubigen. Er stellt eine Trennung vom Klerus dar und bildet mit der Chorumfassung eine Art Kirche in der Kirche (...). Der Chorraum bleibt den Gläubigen durch einen Lettner verborgen, doch bleibt er ihnen zugleich durch das Singen von Hymnen und Prosa zugänglich.

Vielleicht wurde so auch der Eindruck des "Geheimnisvollen", "Außerweltlichen" der Zeremonien der Priester hinter dem Lettner erhöht. Das sündige Volk der Laien konnte auf diese Weise noch stärker erschauern über das Geheimnisvolle, Erhabene jenseits des Lettners im "Allerheiligsten" der Kirche, dort, von wo aus nur noch Gesang zu hören war. Der Gesang erscholl quasi schon vom "Jenseits" her, vom erhofften Paradies her, natürlich einem Priester-Paradies.

Die Reformation brachte auch innerhalb der katholischen Kirche eine Änderung bezüglich solcher Dinge. Die bis dahin abgehobene für sich wirkende Priesterschaft mußte sich fortan mehr als bisher ins Handwerk schauen lassen, wenn ihnen die Gläubigen nicht gänzlich davon laufen sollten. Nach der vom Konzil von Trient in der Mitte des 16. Jahrhunderts eingeführten Liturgiereform (Wiki) ...

... muß der Chorraum nun für die Gläubigen sichtbar sein, damit sie dem Amt leichter folgen können. Der Lettner muß dazu verschoben werden (oft auf die Rückseite der Westfassade, wo er als Orgelempore dient) oder er muß ganz verschwinden, eine Bewegung, die der französische Abt Thiers (1636-1703), genannt der Kanzelprediger, förderte. Während die Kanzel den Lettner ersetzte, wurde letzterer in den folgenden Jahrhunderten verlegt oder zerstört, manchmal sogar noch im 19. Jahrhundert.

Das letztere Schicksal erfuhr also 1683 nicht nur der Westlettner im Mainzer Dom, sondern 1699 auch der Lettner von Notre Dame in Paris. Interessanterweise blieben Lettner in anglikanischen und protestantischen Kirchen viel häufiger erhalten. Sie wurden dazu genutzt, um hier eine Orgel einzubauen oder auch zur Aufstellung des Kirchenchores. Vielleicht gab es hier auch eine größere Scheu, ein so wertvolles Kunstwerk einfach abzureißen? Vielleicht sah man einfach gar nicht die Notwendigkeit, da die protestantischen Pfarrer sowieso verheiratet waren und dem Volk damit viel näher standen. 

Abb. 3: Der Westlettner im Naumburger Dom, Gesamtansicht (Wiki) (dahinter stehen die Stifterfiguren)

Über den Lettner in Notre Dame de Paris wurde dann 2022 noch weiter ausgeführt (Inrap04/22):

Die um 1230 erbaute monumentale Chorschranke, die den Chor (den Geistlichen vorbehalten) vom Kirchenschiff (den Gläubigen vorbehaltener Raum) trennte, wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts abgerissen, um neuen liturgischen Erfordernissen gerecht zu werden. Unter Ludwig XIV. wurde der Lettner, der das Querschiff vom Chor trennte, abgerissen. Heute sind nur noch Teile des Lettners entlang der Seitenwände des Chores erhalten, im Norden (datiert aus dem 13. Jahrhundert ) und im Süden (datiert aus dem 14. Jahrhundert ), heute "Chorumfriedung" genannt.
Von der verzierten und mit Skulpturen versehenen Wand sind nur noch wenige Elemente erhalten, die während der Arbeit des Architekten Viollet-le-Duc (1814-1879) ans Licht gekommen waren, und die im Louvre aufbewahrt werden, sowie einige Blöcke in den Lapidarium-Reservaten der Kathedrale. Dank der Ausgrabungen wurden nun mehrere hundert Lapidarelemente mit einem Gewicht von mehreren hundert Gramm bis fast 400 kg gefunden, die im östlichen Bereich des Querschiffs vergraben waren. (...)
Im Gegensatz zu den im Louvre aufbewahrten Fragmenten fallen die (neuen) Fragmente durch ihre Polychromie auf, wobei die Farben manchmal durch Ergänzungen, Reparaturen, das Aufbringen von Blattgold usw. überlagert werden.

Diese Entdeckungen geben einen ganz neuen Blick frei auf die Kunstgeschichte des Hochmittelalters und des 13. Jahrhunderts. Es wird deutlicher als jemals zuvor, daß der Naumburger Meister Anregungen zu seiner Kunst aus Frankreich bekommen hat, bzw. im gleichen Sinne tätig war wie die zeitgleichen Künstler in Frankreich. Außerdem fragt man sich angesichts solcher Funde, was unter dem Fußboden deutscher Kirchen und Dome alles noch an wertvollsten Kunstwerken begraben sein mag. Womöglich gar Kunstwerke des Naumburger Meisters oder des Bildhauers des Bamberger Reiters.

Abb. 4: Adelheid von Burgund (932-973), Kaiserin des Deutschen Reiches, Stifterfigur im Meißner Dom, geschaffen 1250/60 vom "Naumburger Meister" (Wiki)

Es gab dann noch weitere Berichte zu den Ausgrabungen und Restaurierungs-Arbeiten in Notre Dame (s. Inrap). Anfang Dezember 2024, in der Zeit der Wiedereröffnung des Domes von Notre Dame mit Staatsgästen aus aller Welt, brachte "Arte" dann eine ausführliche Dokumentation über die Ausgrabungen und Forschungen zu Notre Dame und seinem Lettner (3) (Yt). Wir haben diese auch in unseren Blogartikel eingebunden. Die Forscher glauben, daß sich unter weiteren Teilen des Fußbodens von Notre Dame noch andere Teile des einstigen Lettners werden finden lassen. Zu dem ausgegrabenen Kopf (Abb. 1, 2) wurde auch der dazu gehörige Körper gefunden, wie in der Dokumentation dargestellt ist.

Seit Anfang Dezember 2024 werden auch im Kloster Cluny (Wiki) in Burgund die Skulpturenfunde erstmals ausgestellt, allerdings, soweit übersehbar, noch in ganz vorläufiger Form (FineArt). Die Ausstellung ist benannt "Die Steine zum Sprechen bringen - Mittelalterliche Skulpturen aus Notre Dame". "National Geographic" hat über die Ausstellung berichtet (NG11/24), das Titelbild, das auf Facebook geteilt wurde, war es, das so viel Staunen erwecken konnte und neugierig machen konnte (Abb. 1): eine gotische Skulptur, noch ganz von Schutt bedeckt. Man erkennt aber blonde Haare, blaue Augen - auf der Skulptur hat sich also die Farbe erhalten.*)

___________

*) Möchte man weitere Bild-Eindrücke von dieser Ausstellung gewinnen, macht es Sinn, nach dem französischen Titel der Ausstellung zu suchen: "Faire parler les pierres". Sinnvoll könnten auch die Suchworte sein: "sculptures médiévales à notre dame polychrome". Wichtige Fotografen des neuen Fundes sind Didier Rykner (LaTrib) (LaTrib), Hamid Azmoun für Inrap (Inrap), Denis Gliksman für Inrap (Arch) (LeJourn) (NG11/24), s.a.: die Social-Media-Seiten vom Kloster Cluny (Fb) (Tw). Wir hoffen, daß das Einbinden der Fotos der genannten Fotografen ok ist, werden sie aber sofort löschen, wenn erwünscht. Ohne die beiden eingestellten Fotos würde man aber gar nicht sinnvoll über diese aufregenden Forschungen berichten können.

_______________

  1. Die Untat von Dresden. Gerhart Hauptmann klagt an. In: Deutsche Allgemeine Zeitung, 6.4.1945 (s. Lesen
  2. Wolfgang Leppmann: Gerhart Hauptmann: Leben, Werk und Zeitbooks. 2016 (GB)
  3. Die verborgenen Schätze von Notre-Dame. Doku Arte 1.12.2024 (Yt)

Keine Kommentare:

Related Posts Plugin for WordPress, Blogger...

Beliebte Posts (*darunter finden sich leider selten neuere Beiträge*)

Registriert unter Wissenschafts-Blogs

bloggerei.de - deutsches Blogverzeichnis

Haftungsausschluß

Urheber- und Kennzeichenrecht

1. Der Autor ist bestrebt, in allen Publikationen die Urheberrechte der verwendeten Bilder, Grafiken, Tondokumente, Videosequenzen und Texte zu beachten, von ihm selbst erstellte Bilder, Grafiken, Tondokumente, Videosequenzen und Texte zu nutzen oder auf lizenzfreie Grafiken, Tondokumente, Videosequenzen und Texte zurückzugreifen.

2. Keine Abmahnung ohne sich vorher mit mir in Verbindung zu setzen.

Wenn der Inhalt oder die Aufmachung meiner Seiten gegen fremde Rechte Dritter oder gesetzliche Bestimmungen verstößt, so wünschen wir eine entsprechende Nachricht ohne Kostennote. Wir werden die entsprechenden Grafiken, Tondokumente, Videosequenzen und Texte sofort löschen, falls zu Recht beanstandet.