In den letzten 2000 Jahren
1885/86 malte der damals 22-jährige norwegische Maler Edvard Munch das berühmte Gemälde "Das kranke Kind" (Abb. 1). Dargestellt ist seine Mutter am Bett seiner kranken Schwester.
Abb. 1: Edvard Munch, "Das kranke Kind" |
Seine Schwester starb an
Tuberkulose (Wiki),
ebenso die Mutter. Solche Gemälde machen bewußt, daß der Tod im Leben
früherer Generationen eine viel größere Rolle spielte als heute. Zur
gleichen Zeit malte Cristóbal Rojas in Venezuela das Gemälde "Das Elend"
(Wiki), auf dem er sich selbst an Tuberkulose erkrankt dargestellt hat.
Im menschlichen Genom ist eine Genvariante gefunden worden - benannt "P1104A"-Polymorphismus des TYK2-Gens, die, wenn sie in monozygoter Form vorliegt, mit einer erhöhten Sterblichkeit einhergeht, und zwar dann, wenn der Träger dieser Variante an Tuberkulose erkrankt. An Tuberkulose sterben noch heute weltweit über eine Million Menschen. Die meisten davon in Indien und im südlichen Afrika. Aber auch in Deutschland ist sie nicht ausgerottet. Tuberkulose wurde in früheren Zeiten "Schwindsucht" genannt. Robert Koch wurde berühmt dadurch, daß er den Tuberkulose-Erreger entdeckte. Schon von Hippokrates ist die Schwindsucht im antiken Griechenland des 5. Jahrhunderts v. Ztr. sehr genau beschrieben worden. Die größte Tuberkulose-Welle der europäischen Geschichte fällt aber offenbar erst ins 17. und 18. Jahrhundert (Wiki).
Nun hatten französische Genetiker die Idee zu schauen, in welcher Häufigkeit sich dieser Polymorphismus in vorgeschichtlichen Bevölkerungen Europas vorgefunden hat, um daraus womöglich etwas über die Geschichte der Tuberkulose in Europa herauszulesen. Und tatsächlich wurden sie fündig (1):
Bei der Durchsicht eines großen Datensatzes von 1.013 vorgeschichtlichen menschlichen Genomen (...) fand sich, daß die P1104A-Variante ihren Ursprung in einem gemeinsamen Vorfahren aller West-Eurasier hat, der vor 30.000 Jahren lebte. Weiterhin können wir zeigen, daß im Gefolge der umfangreichen Bevölkerungsbewegungen der anatolisch-neolithischen Bauern und der eurasischen Steppen-Herdenhalter (Indogermanen) nach Europa hinein die Häufigkeit von P1104A über die letzten 10.000 Jahre der europäischen Geschichte auffallend schwankt, wobei es aber zu einem dramatischen Rückgang in der Häufigkeit nach der Bronzezeit kommt. Unsere Analysen legen nahe, daß solch ein Häufigkeits-Rückgang einer starken Negativ-Selektion zuzuschreiben ist, die vor 2000 Jahren begonnen hat und daß die hier vorliegende Fitness-Reduktion (Reduktion der Überlebenswahrscheinlichkeit) der Homozygoten um 20 % zu den höchsten zählt, die im menschlichen Genom bislang gefunden werden konnte. ...Leveraging a large dataset of 1,013 ancient human genomes (...) we find that the P1104A variant originated in the common ancestors of West Eurasians 30,000 years ago. Furthermore, we show that, following large-scale population movements of Anatolian Neolithic farmers and Eurasian steppeherders into Europe, P1104A has markedly fluctuated in frequency over the last 10,000 years of European history, with a dramatic decrease in frequency after the Bronze Age. Our analyses indicate that such a frequency drop is attributable to strong negative selection starting 2,000 years ago, with a relative fitness reduction on homozygotes of 20%, among the highest in the human genome. Together, our results provide genetic evidence that TB has imposed a heavy burden on European health over the last two millennia.
Diese Gen-Variante bietet einen Schutz vor bestimmten Autoimmunkrankheiten. Womöglich hat also die Ausbreitung der Tuberkulose dazu geführt, daß dieser Schutz heute in der Bevölkerung weniger häufig vorhanden ist (2).
Die Genvariante fand sich bei einem Bauern anatolisch-neolithischer Herkunft, jene Herkunftsgruppe, mit der sie sich in Europa vor allem verbreitet haben wird. Sie nahm bis in die Mittlere Bronzezeit allmählich zu und erreichte damals eine Häufigkeit von etwa 10 % (3). In den letzten 2000 Jahren fiel sie hingegen auf knapp 3 % zurück (3). Also waren es womöglich der Anstieg der Besiedlungsdichte durch die Römer und später durch die mittelalterlichen Städte, durch die sich die Tuberkulose leichter ausbreiten konnte und diese Selektion bewirken konnte.
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- Human ancient DNA analyses reveal the high burden of tuberculosis in Europeans over the last 2,000 years. Gaspard Kerner, G Laval, E Patin, S Boisson-Dupuis, L Abel… - American Journal of Human genetics, 4. März 2021, https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0002929721000513
- https://www.diepresse.com/5946467/wie-die-tuberkulose-unser-immunsystem-geformt-hat
- Glaubrecht, Mathias: Tagesspiegel, April 2021, https://www.tagesspiegel.de/wissen/menschen-keime-mutationen-krankheitserreger-die-unsichtbaren-geschichtsschreiber/27133128.html
- https://www.newscientist.com/article/2270136-people-of-european-descent-evolved-resistance-to-tb-over-10000-years/
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