Samstag, 31. Oktober 2020

Der Hund - Sein Weg durch die Geschichte der Völker

Neueste Erkenntnisse aus der Archäogenetik

Eine neue archäogenetische Studie zur Geschichte der domestizierten Hunde geht davon aus, daß am Ende der Eiszeit auf der Erde fünf genetisch unterscheidbare Hunde-Herkunftsgruppen existierten, repräsentiert durch Hunde-Funde in der neolithischen Levante, im mesolithischen Karelien, am mesolithischen Baikalsee, im vorkolumbianischen Amerika und repräsentiert durch die "singenden Hunde" Neuguineas, den Neuguinea-Dingo (Wiki, engl), der auch sonst in Asien verbreitet war (s. a. Abb. 1) (1):

.... Five ancestry lineages (Neolithic Levant, Mesolithic Karelia, Mesolithic Baikal, ancient America, and New Guinea singing dog) must have existed by 10.9 ka ago (the radiocarbon date of the Karelian dog) and thus most likely existed prior to the transition from the Pleistocene to the Holocene epoch ~11.6 ka ago.

Weiterhin wird davon ausgegangen, daß sich zwar Wölfe bis heute immer wieder einmal mit domestizierten Hunden vermischt haben, daß es aber so gut wie keine Hinweise darauf gibt, daß sich die Hunde nach der genetischen Trennung von den Wölfen noch einmal später mit Wölfen vermischt haben (1). Daraus wäre zu schließen, daß Hund-Wolf-Mischlinge zwar immer einmal wieder gerne als Paarungspartner von Wölfen akzeptiert worden sind und vielleicht werden, nicht aber umgekehrt von Hunden. Und wenn sie als solche von Hunden akzeptiert worden sein sollten, dann hätten sie - aufgrund welcher Umstände auch immer - keinen Fortpflanzungserfolg gehabt. Dieser Umstand ist vielleicht ein interessanter Aspekt, auch was die heutige Problematik der Wiederansiedlung von Wölfen in Mitteleuropa betrifft.

 

Abb. 1: Verwandtschaftsverhältnisse der archäogenetisch sequenzierten Hunde (graue Punkte) mit modernen Hunde-Populationen (aus: 1)

Das heißt also, die jeweils ursprünglicheren Hunde-Herkunftsgruppen haben sich vor Ort in die dortigen Wolfs-Populationen eingemischt, in Amerika in die dortigen Kojoten-Populationen, in Afrika in die dortigen Populationen des Afrikanischen Goldwolfes, aber nicht umgekehrt. Nur bei den tibetischen Hunden findet man genetische Anpassungen an größere Höhenlagen im Genom, die von den dortigen Wolfspopulationen übernommen worden sein können (1).

Weiterhin wird davon ausgegangen, daß alle domestizierten Hunde weltweit von einer einzigen, heute aber ausgestorbenen Wolfs-Population abstammen. Das könnte implizieren, daß es domestizierte Hunde schon vor der Besiedlung Neuguineas vor 60.000 Jahren gab. Es könnte das ein "Out-of-Africa"-, besser vielleicht "Out of Levante"-Szenario für die domestizierten Hunde nahelegen.

Insgesamt und grob gesehen, überlappte jede menschliche, archäogenetisch feststellbare mesolithische (also nacheiszeitliche) Herkunftsgruppe (Völkergruppe) (die hier auf dem Blog schon intensiv behandelt worden sind) nach Zeit und Raum mit einer genetisch eigenen Hunde-Herkunftsgruppe - wie sich das schon im einleitenden Zitat andeutete, und was wir auch schon - bezüglich der Dingo's - für das vorgeschichtliche China hier auf dem Blog behandelt hatten (2). Deshalb sind vor allem die Ausnahmen von dieser "Gesetzlichkeit" von besonderem Interesse. Zu ihnen gehört der Umstand, daß bei den iranisch-neolithischen Bauern - nach dieser Studie - genetisch gesehen dieselbe domestizierte Hunde-Vorfahrengruppe gelebt hat wie bei den anatolisch-neolithischen Bauern (1).

Die Hunde im europäischen Neolithikum

Eine weitere Ausnahme sind die Bandkeramiker in Mitteleuropa, deren menschliche Genetik fast ausschließlich anatolisch-neolithischer Herkunft ist, deren neolithisch-levantinische Hunde sich aber genetisch in unterschiedlichen Anteilen mit den Hunden der vormaligen nordeuropäischen Jäger und Sammler vermischt haben (1). Man sehe sich Abbildung 1 an: "Sweden 4k" (also ein Hund, der in Schweden 2.000 v. Ztr. gelebt hat) steht den levantinischen Hunden genetisch nahe, andere archäogenetisch untersuchte Hunde unterschiedlicher Zeitstellung in Schweden und Deutschland stehen der einheimischen europäischen Vorfahrengruppe der Hunde genetisch näher.

In der Formierungsphase der Bandkeramik im Wiener Becken und darüber hinaus kam also nicht nur 7 % einheimische osteuropäische, menschliche Jäger- und Sammler-Genetik in das neu entstehende Volk - vornehmlich über die männliche Linie - hinein, sondern auch in die mitgebrachten Haushunde mischte sich in unterschiedlichen Anteilen Genetik der einheimischen Jäger-Sammler-Hunde hinein.

Dieselben Umstände waren ja auch schon für die in der Bandkeramik sehr beliebten Hausschweine (3) und Hausrinder festgestellt worden. Schon auf dem Balkan hatten die sich dorthin ausbreitenden anatolisch-neolithischen Bauern die in Europa einheimischen Auerochsen domestiziert (4).

Aber so wie sich die einheimische menschliche Jäger-Sammler-Genetik im Ostsee-Raum noch bis zur Zuwanderung der Indogermanen um 2.900 v. Ztr. hielt, so hielt sich auch die Genetik ihrer Hunde dort gerne auch unvermischt (siehe Abb. 1 graue Punkte "Sweden" in verschiedenen Datierungen, also aus neolithischen und mesolithischen Kontexten). 

Die Hunde der Indogermanen

Soweit das der Grafik 5 der Studie zu entnehmen ist (1), gehört die heutige Tibetdogge (Wiki) zu den heutigen Hunderassen, die noch am meisten indogermanische Hunde-Herkunftsanteile aufweisen. Auch während der indogermanischen Zuwanderung im Spätneolithikum ab 2.900 v. Ztr. konnten sich die von den Indogermanen mitgebrachten Hunde insgesamt gesehen nicht gegenüber den einheimischen europäischen Hunden durchsetzen (1). Über die von den Indogermanen mitgebrachten Hunde heißt es (1):

Wir haben einen Hund sequenziert, der 1.800 v. Ztr. in der osteuropäischen Steppe lebte in der bronzezeitlichen Srubnaya-Kultur. Obwohl seine Herkunft der westeuropäischer Hunde ähnelt, fällt er aus der sonstigen Verteilung heraus. Ein Hund der Schnurkeramiker aus der Zeit 2.700 v. Ztr. in Deutschland, von dem angenommen worden war, daß er Steppen-Genetik in sich trug, kann in seinen Herkunftsanteilen modelliert werden als ein Hund, der 51 % seiner Herkunft auf eine Herkunftsgruppe zurückführen kann, die dem Srubnaya-Hund nahe stand und den Rest von einer europäisch-neolithischen Herkunft. Ähnliche Ergebnisse bekommen wir für einen bronzezeitlichen schwedischen Hund, der 1.100 v. Ztr. gelebt hat.

We analyzed a 3.8-ka-old dog from the eastern European steppe associated with the Bronze Age Srubnaya culture. Although its ancestry resembles that of western European dogs (Fig. 1C and fig. S10), it is an outlier in the center of PC1–PC2 space (Fig. 1B). A Corded Ware-associated dog (4.7 ka ago) from Germany, hypothesized to have steppe ancestry (14), can be modeled as deriving 51% of its ancestry from a source related to the Srubnaya steppe dog and the rest from a Neolithic European source (data file S1) (30). We obtain similar results for a Bronze Age Swedish dog (45%; 3.1 ka ago).

Das hieße nun wiederum, daß sich die Hunde der Indogermanen mit den einheimischen europäischen Hunden zunächst etwa zu 50/50 gemischt haben, um die nordeuorpäischen Hunde der Bronzezeit hervorzubringen. Die meisten späteren europäischen Hunde zeigen aber keine genetische Nähe mehr zu dem Srubnaya-Hund, der "indogermanische" Herkunftsanteil der Hunde ist also nach der Bronzezeit in Europa - aufgrund ungeklärter Umstände - wieder verloren gegangen.

Die Hunde der Indogermanen in China

Ganz anders in China und Asien. Die ursprünglichen chinesischen Hunde standen den Dingo's Neuguineas nahe (1, 2). Über die bronzezeitlichen chinesischen Hunde heißt es nun in dieser Studie (1):

Das am besten zu den genetischen Daten passende Modell beinhaltet nicht nur Herkunft von modernen europäischen Hunderassen, sondern ebenso beträchtliche Beisteuerungen des Srubnaya-Hundetyps wie er aus der Zeit 1.800 v. Ztr. in der Steppe bislang bekannt ist. (...) Unsere Ergebnisse legen somit die Möglichkeit nahe, daß die Ostwanderungen der (indogermanischen) Steppenhirten einen größeren Einfluß auf die Herkunft der (heutigen) chinesischen Hunde hatte als der damals Richtung China zugewanderten Menschen im heutigen Ostasien.

The best-fitting models involve not only ancestry from modern European breeds but also substantial contributions from the 3.8-ka-old Srubnaya steppe dog. (...) Our results thus raise the possibility that the eastward migrations of steppe pastoralists had a more substantial impact on the ancestry of dogs than humans in East Asia.

Es muß zugeben werden, daß es einem noch schwer fällt, diese in Worte gefaßten Ergebnisse alle so in den Grafiken wieder zu finden. Aber lassen wir das alles einmal so stehen. Vielleicht wird das alles künftig noch einmal von kundigeren Leuten irgendwo erläutert. 

Europäische Hunde ohne "Indogermanen-Anteil" werden zu allen heutigen modernen europäischen Hunderassen

Von den mesolithischen Hunderassen Europas hätten sich bis heute kaum noch unvermischt Herkunftsanteile in den heutigen Hunden Europas gehalten, sondern (1):

Wir machen die Feststellung, daß ein einzelner Hund aus einem neolithischen Megalith-Kontext aus der Zeit 3.000 v. Ztr. in Frälsegården im südwestlichen Schweden als alleinige Quelle der Herkunft von 90 bis 100 % der meisten europäischen Hunderassen modelliert werden kann unter Ausschluß aller anderen vorgeschichtlichen Hunde-Herkunftsgruppen.

We found that a single dog from a Neolithic megalithic context dated to 5 ka ago at the Frälsegården site in southwestern Sweden can be modeled as a single-source proxy for 90 to 100% of the ancestry of most modern European dogs, to the exclusion of all other ancient dogs.

Und weiter (1):

Und das legt nahe, daß eine Population mit einer Herkunft ähnlich wie dieses Individuum, die aber nicht notwendigerweise in Skandinavien ihren Ursprung hatte, alle anderen Hunde-Populationen ersetzt hat und den bis dahin existierenden Kontinent-weiten genetischen Gradienten "ausradiert" hätte. Die heutigen europäischen Hunde wären dann zu modellieren als solche, die zu gleichen Anteilen von der karelischen und der levantinischen Herkunftsgruppe abstammten (54 und 46 % jeweils für den Deutschen Schäferhund). Der Frälsegården-Hund kann ebenso favorisiert werden als Repräsentant der Teil-Herkunftsgruppe eines bronzezeitlichen Hundes in Italien (2.000 v. Ztr.) und eines Hundes aus der byzantinischen und mittelalterlichen Türkei (500 n. Ztr.), was aber nicht für frühere Hunde in der Levante gilt, womit der Zeitrahmen eingegrenzt werden kann für die Ausbreitung dieser (modernen europäischen) Hunde-Herkunft. Allerdings bleiben die Umstände unbekannt, die die Homogenisierung dieser Hunde-Herkunft in Europa initiierten und erleichterten, ausgehend von einer kleinen Untergruppe aller im europäischen Neolithikum in Europa verbreiteten Hunde, einschließlich der Entstehung ihrer phänomenalen phänotypischen Vielfalt und genetischen Differenzierung in moderene Rassen.

This implies that a population with ancestry similar to this individual, but not necessarily originating in Scandinavia, replaced other populations and erased the continent-wide genetic cline (Fig. 5B). This ancestry was in the middle of the cline (Fig. 1C), and so present-day European dogs can be modeled as having about-equal proportions of Karelian- and Levantine-related ancestries [54 and 46%, respectively, for German shepherd on the basis of the admixture graph (Fig. 1E)].  The Frälsegården dog is also favored as a partial ancestry source for a 4-ka-old Bronze Age dog from Italy, a 1.5-ka-old dog from Turkey and Byzantine and Medieval, but not earlier dogs in the Levant (data file S1), providing some constraints on the timing of this ancestry expansion. However, the circumstances that initiated or facilitated the homogenization of dog ancestry in Europe from a narrow subset of that present in the European Neolithic, including the phenomenal phenotypic diversity and genetic differentiation of modern breeds (12, 19, 20) (Fig. 1C), remain unknown.

Man fühlt sich an die Verbreitung der heutigen europäischen Pferderassen ausgehend von den Araber-Pferden der Eisenzeit und des Frühmittelalters erinnert, die schon in einer früheren Studie angeommen worden war (5). Jedenfalls hieße das, daß sich der indogermanische Hunde-Herkunftsanteil in China und Asien bis heute gehalten hat, in Europa aber nicht. Immerhin interessant.

Überhaupt weisen die heutigen Hunde Asiens noch eine viel größere Vielfalt an Herkunftsanteilen auf als die heutigen Hunde Europas und jener Hunde, die von Europa aus in den letzten 500 Jahren in alle Teile der Welt exportiert worden sind (s. 1, Abb. 5).

Jedenfalls haben sich diese europäischen, nachbronzezeitlichen Hundrassen inzwischen weltweit verbreitet und nur noch geringe Herkunftsanteile ursprünglicherer Hunde-Herkunftsgruppen haben sich - zum Beispiel - in Amerika gehalten (1). In der Studie heißt es abschließend, daß man ältere archäogenetische Daten von Hunden bräuchte, um den Ort der - angeommenerweise singulären - Domestikation des Hundes insgesamt noch näher eingrenzen zu können. Da die domestizierten Hunde südlich der Sahara aus dem Levanteraum zu stammen scheinen, könnte man mutmaßen, daß der Hund am ehsten vor mehr als 60.000 Jahren eben in diesem Levante-Raum domestiziert worden ist und von dort nach Neuguinea und Asien und Europa "mitgenommen" worden ist und sich dann jeweils vor Ort genetisch isoliert von den anderen weiter evoluiert hat.

Auch findet die Studie, daß alle Hunde-Vorfahrengruppen auf der Nordhalbkugel in Amerika, Asien und Europa sich untereinander einander genetisch ähnlicher sind im Vergleich zu den Hunden auf Neuguinea. Auch dies würde gut zu einem "Out-of-Levante"-Szenario vor 65.000 Jahren für die domestizierten Hunde passen. Über die heutigen domestizierten Hunde in Afrika heißt es nämlich (1):

Unsere Ergebnisse legen einen singulären Ursprung aller afrikanischen Hunde südlich der Sahara von einem levantinischen Ausgangspunkt aus nahe mit nur wenig genetischen Zufluß von außerhalb des Koninents bis vor wenige hundert Jahre.

Our results suggest a single origin of sub-Saharan African dogs from a Levant-related source (Fig. 5B), with limited gene flow from outside the continent until the past few hundred years.

Im Levanteraum sind allerdings die ursprünglich dort einheimischen levantinischen Hunde heute so gut wie ausgestorben und durch iranische und europäische Hunde-Genetik ersetzt worden. So die Studie, die - insgesamt gesehen - wohl noch mehr Fragen offen läßt und aufwirft als sie abschließend klären kann.

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  1. Origins and genetic legacy of prehistoric dogs  By Anders Bergström, Laurent Frantz, Ryan Schmidt (....) Pontus Skoglund. Science30 Oct 2020 : 557-564, https://science.sciencemag.org/content/370/6516/557
  2. Bading, Ingo: Dingos in China, März 2020, https://studgendeutsch.blogspot.com/2020/03/die-ethnogenese-des-chinesischen-volkes.html 
  3. Bading, Ingo: Hausschweine, 2019, https://studgendeutsch.blogspot.com/2019/08/unsere-hausschweine-stammen-nicht-aus.html
  4. Bading, Ingo: Unsere Kühe - Sie waren schon immer bei uns einheimisch - Sie stammen NICHT (!) aus dem Vorderen Orient, 18. Juli 2019, https://studgendeutsch.blogspot.com/2019/07/unsere-kuhe-schon-immer-waren-sie-bei.html  
  5. Bading, Ingo: Unsere Pferde - Sie stammen aus dem Vorderen Orient Unsere modernen Pferderassen stammen von den Araber-Pferden ab - sogar die Islandpony's, 30. August 2019 , https://studgendeutsch.blogspot.com/2019/08/unsere-pferde-sie-stammen-aus-dem.html
  6. https://idw-online.de/de/news756839

Freitag, 30. Oktober 2020

Die Urindogermanen - "Allem Anfang wohnt ein Zauber inne"

Neue Schlaglichter aus der Forschung zur Ethnogenese der Indogermanen

Zusammenfassung: 1. Das Urvolk der Indogermanen weist einen Nord-Süd-Gradienten in dem Anteil der iranisch-neolithischen Herkunftskomponente auf, der sich erst nach dem Übergang zur Jamnaja-Stufe verwischt. 2. Die anatolisch-neolithische Herkunftskomponente der westlichen Indogermanen könnte auf unterschiedliche Vermischungsereignisse zurück gehen. 3. Neue Details aus dem komplexen Zusammenspiel mit den Königreichen der Tripolye-Kultur.

Eine neue Studie des führenden Archäologen zur Ethnogenese der Indogermanen, David W. Anthony (Wiki), ist erschienen (1). Anthony ist übrigens seit letztem Jahr emeritiert. Im letzten halben Jahr war auf Google Bücher nur die Einleitung dieser Studie einsehbar, weshalb unser vorhergehender Blogartikel mit Bezug auf diesen Artikel sich nur auf indirekte Inhaltswiedergaben auf Wikipedia und anderwärts beziehen konnte (St. gen. 07/2020). Jetzt ist aber auch der vollständige Text einsehbar (1). Deshalb können wir hier unseren Blogartikel vom Sommer nun viel konkreter und authentischer umschreiben und vervollständigen. Wir stellen ihn deshalb hiermit ganz neu ein, da wir auch auf völlig neue Erkenntnisse dabei stoßen. 

Abb. 1: Ethnogenese der Indogermanen - Grafik von David W. Anthony (Herkunft: Twitter)

David Anthony berichtet über die Genetik der vom David Reich-Labor in Harvard untersuchten Skelette des Urvolkes der Indogermanen, der Chwalynsk-Kultur, die von der Mittleren Wolga (Fundort Ekaterinovka) bis zum Nordrand des Kaukasus (Fundort Progress-2) reichte. Anstelle eines Begriffes wie "Volk" oder "Ethnie" benutzt Anthony den Begriff "mating network" (1, S. 35):

Die Skelette weisen eine dominante osteuropäische Jäger-Sammler-Herkunfts-Komponente (EHG) auf, die typisch ist für dieses Volk, zusammen mit einer Kaukasus-Jäger-Sammler-Herkunfts-Komponente (CHG). Der prozentuale Anteil der CHG-Herkunfts-Komponente nimmt von Süden nach Norden hin ab, vom Fundort Progress-2, wo die CHG-Komponente 30 bis 50 % beträgt, über den Fundort Khwalynsk (CHG 20 bis 30 %) bis Ekaterinovka (vielleicht 5 %, aber noch nicht veröffentlicht). (...) Die (aus der Chwalynsk-Kultur hervorgegangene spätere) Jamnaja-Kultur war (dann) genetisch homogener als die spätneolithischen Grabstätten, insbesondere hinsichtlich der männlichen genetischen Marker auf dem Y-Chromosom.
Original: They exhibit dominant EHG ancestry, typical oft this mating network, with CHG. The percentage of CHG ancestry declines south-to-north, from Progress-2, where CHG ist 30-50 %, to Khvalynsk (CHG 20-30%) to Ekaterinovka (perhaps 5 %, but not yet published). (...) Yamnaya was more homogeneous genetically than the Eneoloithic cemetries, particularly in male genetic traits on the Y-Chromosome.

Wenn wir jetzt berücksichtigen, daß der Ursprungsort der Chwalynsk-Kultur die Mittlere Wolga ist und sie sich von dort erst nach Süden und Westen ausgebreitet hat, wäre zu schlußfolgern, daß diese Ethnogenese schrittweise erfolgte, und zwar zunächst mit einem kleineren Herkunftsanteil der Kaukasus-Bauern, der sich aber vielleicht, scheinbar während der Ausbreitung osteuropäischer Jäger-Sammler nach Süden noch bis 50 % erhöht hat. Im Verlauf der Geschichte der Khwalynsk-Kultur und insbesondere dann im Übergang zur nachfolgenden Jamnaja-Kultur scheint es dann zu einer gleichmäßigeren Durchmischung der beiden Herkunftsanteile innerhalb des ganzen Volkes gekommen zu sein.

Das läßt im ersten Blick vermuten, daß Ehen in diesem Volk gerne auch einmal über 1000 Kilometer Distanz zwischen Süd und Nord hatten geschlossen werden können. Denn so groß war ja der Verbreitungsraum am Ende. Und dann würde es sich - was die Heiratsnetzwerke betrifft - um eine ähnliche Erscheinung handeln wie wir sie dann später noch für die indogermanischen Kulturen Mitteleuropas während der Bronzezeit beobachten, wo inzwischen auch Heiratskontakte zwischen Bayern, Böhmen und Sachsen-Anhalt nachgewiesen sind, also zwischen der süddeutschen Bronzezeit, der Aunjetitzer Kultur und anderen zeitgleichen archäologischen Kulturen.

Es könnte gemutmaßt werden, daß diese Heiratskontakte auf einer Art Beamtenadel beruhten, der auf Erbhöfen - wie im Lechtal nachgewiesen - über Generationen in der männlichen Linie residierte, der aber in politischem, kulturellem und Heirats-Austausch auch mit entfernteren Königreichen stand. Vielleicht lassen sich ähnliche Umstände damit auch schon für das Urvolk der Indogermanen nachweisen. Aber sehr spannend sind auch die weiteren Ausführungen von Anthony über die Herkunft und das Schicksal der Y-chromosomalen Haplotypen im Urvolk der Indogermanen (1, S. 36):

Die meisten Chwalynsk-Männer gehörten zur Y-chromosomalen Haplogruppe R1b1a - ebenso wie fast alle Jamnaja-Männer. Aber mindestens fünf Chwalynsk-Männer, einschließlich einiger mit sehr reichen Beigaben waren Q1a1b. Einzelne Männer waren R1a1, J1 und I2a2a. Die Q1a1b-Männer sind wahrscheinlich in Verbindung zu bringen mit Populationen im Norden, wo diese Haplogruppe in alten Skeletten in Sibirien, im Altai-Gebirge und über die ganze Waldzone hinweg bis zur Ostsee verbreitet gewesen ist. Der J1-Mann aus Khwalynsk ist wahrscheinlich in Verbindung zu bringen mit dem Süden, denn er gehört zur selben Y-chromosomalen Haplogruppe wie das CHG-Skelett in der Satsurblia-Höhle in Georgien, was eine eine Nähe der Khwalynsk-Population zu Bevölkerungen bestätigt, die kaukasische Jäger-Sammler-Herkunft aufweisen. Der I2a2a-Mann stammte von einer Haplogruppe ab, die sehr verbreitet war bei mesolithischen westeuropäischen Jägern und Sammlern des Donautals. Und der R1a1-Mann gehörte zu einem Minderheiten-Typ innerhalb der osteuropäischen Jäger und Sammler. Aber Jamnaja-Individuen, die unter Kurganen bestattet wurden, scheinen von einer weniger vielfältigen Auswahl dieser Haplotypen abzustammen, fast alle sind R1b1a, was nahelegt, daß jene, die unter Kurganen in der pontisch-kaspischen Steppe begraben lagen, zu einer eingeschränkten patrilinealen Gruppe gehörten -  wahrscheinlich einem Clan oder mehreren Clans, die miteinander verwandt waren.
Original: Most Khvalynsk males belonged to Y-chromosome haplogroup R1b1a, like almost all Yamnaya males, but at least five Khvalynsk males, including some very richly endowed, were Q1a1b. Single males were R1a1, J1, and I2a2a. The Q1a1b males probably were linked to the north, where this haplogroup is found in ancient samples from Siberia, the Altai Mountains, and across the forest zone to the Baltic. The J1 male at Khvalynsk probably was linked to the south, since he belonged to the same Y-haplogroup as the CHG type speciment from Satsurblia Cave in Georgia, confirming affinity with CHG in the Khvalynsk population. The I2a2a male was descended from a haplogroup common among Mesolithic WHG's in the Danube valley, and the R1a1 male belonged to a minority type within the EHG. But Yamnaya individuals chosen for kurgan burial seem to have been drawn from a narrower subset of these, almost all oft them R1b1a, suggesting that those buried under Yamnaya kurgans in the Pontic-Caspian steppes belonged to a restricted patrilineal group of some kind - probably a clan or releated set of clans.

Das heißt, in der Ursprungsregion der Chwalynsk-Kultur finden sich zwar auch Männer kaukasisch-neolithischer Herkunft, die sich vereinzelt in dieses Volk eingemischt hatten (!), womöglich insbesondere anfangs. Bis zum Übergang der Chwalynsk-Kultur aber zur Jamnaja-Kultur scheint ihr genetisches Erbe innerhalb des Volkes der Indogermanen schon wieder verloren gegangen zu sein, ebenso wie das genetische Erbe anderer Männer, die dem Urvolk ursprünglich angehört hatten. Hier sind also deutliche Hinweise auf (schon zuvor angenommene) starke Selektion zu erkennen, die mit dem - sich womöglich über Jahrhunderte erstreckenden - Prozeß der Ethnogenese einhergingen.

Auch solche Vorgänge des Verlustes des männlichen genetischen Erbes ganzer, zuvor einheimischer mittelneolithischer Völker - etwa in England oder in Spanien oder anderwärts - wird ja dann noch sehr häufig in Zusammenhang mit dem Auftreten der Indogermanen im Spätneolithikum Europas und des Mittelmeerraumes (Schnurkeramiker- und Glockenbecher-Leute) zu beobachten sein. Auch hier scheint also schon im Prozeß der Ethnogenese der Indogermanen vieles von dem aufzuscheinen, was dann auch weitere Epochen der Geschichte der Indogermanen kennzeichnet. 

4.000 v. Ztr. - Das Urvolk der zweiten Welle der Indogermanen formiert sich in der östlichen Ukraine

Interessant ist dann auch, was Anthony über einen Angehörigen der Sredni Stog-Kultur schreibt (1, S. 36):

Schlußendlich ist noch ein Individuum einer Grabstätte der Sredni Stog-Kultur am Fluß Donez bei Aleksandriya in der östlichen Ukraine auf 4000 v. Ztr. datiert. Es weist zwischen 70 bis 80 Prozent CHG/EHG-Herkunft auf wie Chwalynsk und Progress-2 aber ebenso etwa 20 % anatolisch-neolithische Herkunft. Sein Y-chromosomaler Haplotyp war R1a-Z93 - ähnlich denen in der späteren Sintashta-Kultur und  bei den südasiatischen Indo-Ariern. (...) Seit vielen Jahrzehnten ist die Sredni-Stog-Kultur als eine Vorgänger-Kultur der Jamnaja-Kultur in der Ukraine angesehen worden, die auch Verbindungen einerseits mit der Chwalynsk-Kultur in den russischen Steppen aufwies (ähnliche Grabrituale) wie mit europäischen Bauernkulturen im Westen  andererseits (Kupfer-Handel). Dieses Sredni Stog-Individuum war viel mehr mit europäischer (anatolisch-neolithischer) Bauernherkunft vermischt als jedes ältere Skelett in den Steppen. Sein Hauptherkunfts-Anteil zeigt die westliche Ausdehnung des Volkes der Indogermanen in die nordpontischen Steppen auf.

(Anmerkung 29.4.24: Inzwischen hat sich herausgestellt, daß der anatolisch-neolithische Herkunftsanteil nach Aleksandria grob aus der Nordkaukaus-Region heraus in die Donez-Region gekommen ist.) Damit deutet sich gleich noch die Klärung einer weiteren, bisher ungeklärten Frage an. Nämlich wo und wie der anatolisch-neolithische Herkunftsanteil in das Urvolk der (westlichen) Indogermanen hinein gekommen ist. Offenbar zum ersten Mal schon um 4.000 v. Ztr. in der Sredni-Stog-Kultur, aus der dann die Jamnaja-Kultur hervorgegangen ist (Wiki):

Auf die Sredny-Stog-Kultur folgt die Jamnaja-Kultur.

Nach derzeitigem Kenntnisstand besaß die Sredny-Stog-Kultur zwar einerseits Rinder und Rinder-Wagen, lebte aber zugleich von umfangreicher Jagd auf wilde Pferde. Die Pferde dieser Kultur, die ausgegraben wurden, wiesen noch keine Anzeichen von Domestizierung auf. Aber diese Frage ist noch nicht vollständig geklärt. Auf dem englischen Wikipedia sind die neuen Erkenntnisse, die David Anthony übermittelte, schon eingepflegt (Wiki).

In aller Vorläufigkeit wird also gesagt werden können: Die Ethnogenese zumindest eines Teils der europäischen Indogermanen könnte sich schon in der Ukraine um 4000 v. Ztr. vollzogen haben. Es müssen das aber noch nicht zwangsläufig jene Indogermanen gewesen sein, die sich als erste Generation der Schnurkeramiker in Norddeutschland ausbreiteten, da diese ja die anatolisch-neolithische Herkunftskomponente noch nicht aufgewiesen haben sollen. (Anmerkung 29.4.24: Auch das dürfte sich inzwischen als Irrtum heraus gestellt haben.)

Dennoch könnten ja Teile der europäischen indogermanischen Völker von ihnen abstammen und auch der zweiten Welle der nach Asien sich ausbreitenden indogermanischen Völker (siehe zu letzteren früheren Blogbeiträge: Afanasijewo- und Andronowo-Kultur in Sibirien). Anthony schreibt, was wir hier auf dem Blog schon behandelt hatten (1, S. 38):

Wir wissen immer noch nicht, wann oder wo Menschen mit kaukasischer Jäger- und Sammler-Genetik zuerst das Steppenland betreten haben. Es war aber bestimmt vor 4.500 v. Ztr..

Merkwürdigerweise glaubt Anthony, daß es sich dabei um Jäger-Sammler-Populationen gehandelt habe, nicht um Ackerbauern oder Herdenhalter. Das ist etwas merkwürdig, wo doch zu jener Zeit südlich des Hauptkamms des Kaukasus schon Wein angebaut wurde und in großen Keramik-Bottichen verarbeitet und bevorratet wurde von Angehörigen dieser Völkergruppe. Es scheint mir doch weiterhin am ehesten denkbar, daß sich die Menschen mit kaukausisch-neolithischer Genetik entlang beider Ufer des Unterlaufs der Wolga nach Norden ausgebreitet haben.

Über die Dnjepr-Donez-Kultur, eine archaische Fischer-, Jäger- und Sammler-Kultur, die westlich der Chwalynsk-Kultur und östlich des Ostrandes des Verbreitungsgebietes der anatolisch-neolithischen Völkergruppe, der Bandkeramiker, an den Dnjepr-Fällen lebte, schreibt Anthony (1, S 39):

Die Dnjepr-Region scheint einen Zustrom der westeuropäischen Jäger-Sammler-Komponente (WHG) zwischen dem Mesolithikum und dem Neolithikum erfahren zu haben, vielleicht als die europäischen Bauern (Bandkeramiker) frühere WHG-Gebiete in Moldavien und Rumänien besiedelten. (...) Alle 32 getesteten DDII-Individuen waren Mischlinge mit (vornehmlich) EHG-Herkunft und (unterschiedlicher geringerer) WHG-Herkunft, aber mit keinerlei CHG-Herkunft. (...) Die Dereivka-Männer waren vornehmlich R1b1a mit wenigen I2a2a, ähnlich zu Chwalynsk - aber ohne das Q1a2-Element, die eine bedeutende Minderheit in der Chwalynsk-Kultur ausmachten; und ohne J1-Individuen, die Chwalynsk mit dem Kaukasus verbanden.

(Anmerkung 29.4.24: Die rot gefärbte Aussage hat sich inzwischen bestätigt.) Eine weitere getestete Gruppe bestand nur aus WHG-Männern, so daß die Vermutung aufkommt, daß sich dort die WHG-Männer genetisch vollständig gegenüber den EHG-Männern durchgesetzt hatten. Diese Kultur hielt schon domestizierte Rinder, die sie auch opferte. Immerhin wurde dort auch ein einzelner, genetisch 100%iger Bandkeramiker bestattet, vielleicht auch erst in der Endzeit der Dnjepr-Donez-Kultur. Da er am Ende einer Reihe einheimischer Männer bestattet wurde, kann vermutet werden, daß es sich um einen Gefangenen handelte (1, S. 40). Um 3.500 v. Ztr. fand sich dort ein einzelnes Frauenskelett, das zu 20 % Nachkomme der Bandkeramiker war, außerdem der Jäger-Sammler-Populationen vor Ort. Sie lebte in der Zeit kurz bevor diese Gegend von der Jamnaja-Kultur "übernommen" wurde. (Anmerkung 29.4.24: Vermutlich war hier noch vieles falsch interpretiert und zugeordnet worden, was die eigentlichen Herkunftsverhältnisse betrifft.)

Ausgriff bis auf den Balkan (4.500 bis 3.500 v. Ztr.)

Auch über die frühe Expansion der Chwalynsk-Kultur (der "Steppen-Genetik") bis nach Warna in Bulgarien macht Anthony bedeutsame Ausführungen (1, S. 41f). Nach ihnen hatte sogar die älteste der dortigen, mit reichen Beigaben versehenen Bestattungen (zwischen 4.700 und 4.550 v. Ztr.), vielleicht 200 Jahre älter als das jüngste, prächtigste Grab - ein vier bis sechs Jahre altes Mädchen - 20 % EHG/CHG-Erbgut. Ihre mütterliche Herkunft war einheimisch, ihre väterliche Herkunft zu einem Viertel oder Achtel aus der Steppe nördlich des Kaukasus. Anthony schreibt (1, S. 41):

Steppen-Herkunft scheint also Menschen in Warna nicht davon ausgeschlossen zu haben, hohen Status zu erlangen.

Und er schreibt - vielleicht wiederum plausibel (1, S. 42):

Einige hoch angesehene alteuropäische Familien in Nordost-Bulgarien könnte eine kleine Zahl von Männern aus der Steppe als Heiratspartner akzeptiert haben, um ein friedliches Zusammenleben und Handelsaustausch unter dem Schirm der Verwandtschaft sicherzustellen.

Diese Heiratsverbindung bestand sogar, so Anthony, räumlich über die noch bestehende Dnjepr-Donez-Kultur hinweg. Über die weitere Geschichte schreibt Anthony (1, S. 44):

Steppen-Völker der Suvorovo-Kultur (einer Gräbergruppe am Donau-Delta, die wahrscheinlich von der Sredni-Stog-Kultur in der Ukraine abzuleiten ist) breiteten sich im Donau-Tal um 4.400 bis 4.200 v. Ztr. aus in Übereinstimmung mit der Vermischung mit europäischen Bauern in Aleksandriya um 4.000 v. Ztr.. Zusätzlich zu den Suvorovo-Gräbern in den Steppen nördlich des Donau-Tals breiteten sich offensichtlich einige Steppen-Bewohner in den Balkan aus, in das östliche Karpatenbecken und nach Transylvanien. (...) Eines der Markzeichen der Suvorovo- oder Skelya-Epoche war das Auftreten einer neuen Art von polierten Steinaxt-Köpfen, angefertigt in einem spezifischen Wolga-Kaspische Steppe-Stil, unterschiedlich vom Dnjepr-Steinaxtkopf-Stil, der sowohl in den Cucuteni-Tripolye-Städten wie in den Tell-Städten an der unteren Donau und auf dem Balkan zu finden ist. Diese Ausbreitung von Wolga-Kaspischen polierten Steinaxtköpfen begleitete eine Ausbreitung von Wolga-Kaukasus-Genen in die führenden Familien von Nordost-Bulgarien. 

Zur gleichen Zeit strömten hunderte von Kupferschmuck-Stücken vom Balkan aus in die Steppen am Dnjepr und an der Wolga. Es gab also einen Austausch von Menschen, Symbol- und Schmuckgegenständen zwischen Warna, Chwalynsk und Svobodnoe (1, S. 45):

Auf diese Epoche des Austauschs, des Verkehrs und der Ausbreitungsbewegungen folgte ein katastrophaler Kulturwechsel, der die Aufgabe aller Tell-Siedlungen im unteren Donau-Tal und auf dem Balkan begleitete, und das Ende ihrer materiellen kulturellen Traditionen um 4.300 bis 4.200 v. Ztr.. In den folgenden Jahrhunderten scheinen die Einwanderer aus den Steppen sich mit den übrig gebliebenen Bewohnern der Tell-Siedlungen vermischt zu haben, um die von der Steppe beeinflußte, aber gemischte Cernavoda I-Kultur zu bilden. (Wiederum haben wir von dieser wichtigen Bevölkerung bislang keine archäogenetischen Daten.)

Die Schnurkeramiker (3.000 v. Ztr.)

Über die Schnurkeramiker sagt Anthony, daß gerade vor den ersten archäogenetischen Daten im Jahr 2015 von Seiten der Archäologie her sehr definitiv vermutet worden war, sie wären einheimisch entstanden. Die Archäogenetik zeigte aber noch im selben Jahr das Gegenteil auf (1, S. 46):

Ihre entfernte Herkunft wurde verdeckt durch den Wechsel in der materiellen Kultur von der Jamnaja- zur Schnurkeramik-Kultur, vielleicht innerhalb eines Jahrhunderts (3000 bis 2.900 v. Ztr.) am Beginn ihrer großen Ausbreitung. Die materielle Kultur der Schnurkeramik beinhaltete spezifische Artefakt-Typen (Kugelamphoren, polierte Steinhammer-Äxte), die von den einheimischen mittelneolithischen Kulturen im nördlichen Europa übernommen worden waren. Es könnte angesehen werden als ein materielles Erkennungszeichen der Schnurkeramiker gegenüber ihren Yamnaya-Eltern und -Großeltern (...), ein aktives materielles Statement der politischen Abtrennung, das betonte Referenzen gegenüber neuen Verbündeten beinhaltete. 

Fast an jedem Satz von Anthony ist spürbar, daß er viele archäologische Zusammenhänge dichter und konkreter zu Ende gedacht zu haben scheint als die meisten seiner Fachkollegen. Deshalb haben wir ihn hier so ausführlich zitiert. (Wobei wir schon in früheren Beiträgen hier auf dem Blog auch deutlich genug gemacht haben, daß wir Anthony nicht für unfehlbar halten. Das betrifft etwa sein lange aufrecht erhaltenes Infragestellen von Kontakten zwischen den archäologischen Kulturen über den Kaukasus hinweg wie auch seine Hypothese von "Geheimbünden" bei den Indogermanen, abgelesen an angeblichen Hunde-"Opfern" bei ihnen. Aber das nur am Rande.)

Von dieser Arbeit von Anthony wird derzeit auf Google Scholar angezeigt, daß sie erst ein einziges mal zitiert worden ist. Sie wird also den Forschungsstand darstellen, der der aktuellste verfügbare ist.

Noch einmal in indirekter Wiedergabe auf Wikipedia

Ein Teil des Inhalts der Studie fand sich auch schon auf dem Wikipedia-Artikel zum Urvolk der Indogermanen ("Western Step Herders" = WSH) referiert (Wiki). Aber das war nur sehr unscharf und keineswegs vollständig wiedergegeben.

Bevor dieses sehr vorläufige Zitat gebracht werden soll, muß aber vorausgeschickt werden, daß die darin erwähnte Dnjepr-Donez-Kultur  (Wiki) ursprünglich ein Jäger-Sammler-Volk war, das ab 5.200 v. Ztr. begonnen hat, Haustiere zu halten, ohne sich aber mit zuwandernden Bauernvölkern zu vermischen (wie wir gleich sehen werden). Das östlich von ihm lebende Volk der Chwalynsk-Kultur (das Urvolk der Indogermanen), war - so referierten wir hier auf dem Blog schon früher (2) - ab 4.700 v. Ztr. zur Haustierhaltung übergegangen, und zwar parallel zu Vermischung mit Frauen der aus dem Kaukasus zugewanderten Bauern. Wir lesen jedenfalls (Wiki):

"Anthony stellt fest, daß die 'Westlichen Steppenhirten' (Urindogermanen) eine genetische Kontinuität ihrer väterlichen Linien aufweisen zwischen der Dnjepr-Donez-Kultur und der Jamnaya-Kultur. Denn die Männer beider Kulturen waren zumeist Träger des Y-chromosomalen Hapoltyps R1B, sowie zu einem geringen Anteil des Y-chromosomalen Haplotyps I2. Während nun die mitochondriale DNA der Dnjepr-Donez-Kultur ausschließlich aus U-Haplotypen bestand, die von ost- und westeuropäischen Jägern und Sammlern stammen, schließt die mitochondriale DNA der Jamnaya auch Haplotypen mit ein, die bei kaukasischen sowie anatolisch-neolithischen Bauern zu finden sind. Anthony stellt fest, daß die 'Westlichen Steppenhirten' zuvor schon sowohl in der Sredny Stog-Kultur wie in der Chwalynsk-Kultur anzutreffen waren, die der Yamnaya-Kultur in der pontisch-kaukasischen Steppe vorausgegangen waren. Die Sredny Stog-Kultur war im wesentlichen von 'Westlichen Steppenhirten' getragen, die ein wenig mit anatolisch-neolithischen Bauern vermischt war, während die Chwalynsk-Kultur, die weiter östlich lebte, ausschließlich 'Westliche Steppenhirten'-Genetik aufwies. Anthony stellt ebenfalls fest, daß anders als ihre Chwalynsk-Vorfahren die Y-DNA der Yamnaya ausschließlich ost- und westeuropäische Jäger-Sammler-Herkunft aufweist. Dies legt nahe, daß die führenden Geschlechter der Yamnaya ost- und westeuropäische Jäger-Sammler-Herkunft aufwiesen."
("Anthony notes that WSHs display genetic continuity between the paternal lineages of the Dnieper-Donets culture and the Yamnaya culture, as the males of both cultures have been found to have been mostly carriers of R1b, and to a lesser extent I2. While the mtDNA of the Dnieper-Donets people is exclusively types of U, which is associated with EHGs and WHGs, the mtDNA of the Yamnaya also includes types frequent among CHGs and EEFs. Anthony notes that WSH had earlier been found among the Sredny Stog culture and the Khvalynsk culture, who preceded the Yamnaya culture on the Pontic-Caspian steppe. The Sredny Stog were mostly WSH with slight EEF admixture, while the Khvalynsk living further east were purely WSH. Anthony also notes that unlike their Khvalynsk predecessors, the Y-DNA of the Yamnaya is exclusively EHG and WHG. This implies that the leading clans of the Yamnaya were of EHG and WHG origin.")

Das ist am also noch einmal etwas unschärfer das, was oben anhand der Originalzitate nur schärfer gefaßt werden konnte. Hier wird also vorausgesetzt, daß sich diese "führenden Geschlechter" über überdurchschnittlich hohen Fortpflanzungserfolg gegenüber Y-DNA nicht-ost- oder westeuropäischer Jäger-Sammler-Herkunft in den frühen Jahrhunderten der Geschichte dieses Urvolkes der Indogermanen durchgesetzt hat, bzw. sie "ersetzten". 

"Anthony vermutet, daß die Vermischung zwischen osteuropäischen Jägern und Sammlern und kaukasischen Jägern und Sammlern zuerst in der östlichen pontisch-kaukasischen Steppe um 5.000 v. Ztr. stattfand, ...

Bislang war ein Zeitpunkt um 4.700 v. Ztr. genannt worden. Dieser war uns aber auch schon als etwas zu spät datiert erschienen. 5.000 v. Ztr. hieße nun, daß dieser Zeitpunkt vollgültig in den Zerfall der einheitlichen Bandkeramik weiter im Westen fällt und ihre Aufgliederung in Regional-Kulturen. Weiter im Text: 

... während die Vermischung mit anatolisch-neolithischen Bauern erst etwas später in den südlichen Teilen der pontisch-kaspischen Steppe stattfand. Da Jamnaja-Y-DNA ausschließlich Haplotypen ost- und westeuropäischer Jäger und Sammler aufweist, stellt Anthony fest, daß diese Vermischung zwischen ost- und westeuropäischen Jäger-Sammler-Männern und kaukasisch- und anatolisch-neolithischen Frauen stattgefunden hat. Anthony führt dies als zusätzlichen Beleg dafür an, daß die indoeuropäische Sprache ursprünglich von osteuropäischen Jägern und Sammlern gesprochen wurde, die in Osteuropa lebten. Auf dieser Grundlage folgert Anthony dann, daß die indoeuropäischen Sprachen ursprünglich das Ergebnis 'einer dominanten Sprache waren, die von den osteuropäischen Jägern und Sammlern gesprochen wurde, die kaukasus-neolithische Elemente in der Phonologie, Morphologie und im Wortschatz absorbiert hat' (wie sie von den kaukasischen Bauern gesprochen wurde).
("Anthony suggests that admixture between EHGs and CHGs first occurred on the eastern Pontic-Caspian steppe around 5,000 BC, while admixture with EEFs happened in the southern parts of the Pontic-Caspian steppe sometime later. As Yamnaya Y-DNA is exclusively of the EHG and WHG type, Anthony notes that the admixture must have occurred between EHG and WHG males, and CHG and EEF females. Anthony cites this as additional evidence that the Indo-European languages were initially spoken among EHGs living in Eastern Europe. On this basis, Anthony concludes that the Indo-European languages whom the WSHs brought with them were initially the result of "a dominant language spoken by EHGs that absorbed Caucasus-like elements in phonology, morphology, and lexicon" (spoken by CHGs).")

In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, sich an die Sichtweise zu erinnern, die wir schon 2017 hier auf dem Blog zitierten (Zitat Andreas Vonderach nach: 3):

"In der Ukraine zeigt sich mit der wahrscheinlich aus östlicheren Gebieten eingewanderten Kurgan-Bevölkerung ein völliger Bruch zur Vorbevölkerung der Dnepr-Donez-Kultur, die durch extreme Größenmaße und Robustizität, lange Schädel, breite Gesichter und Nasen und noch niedrigere Orbitae (Augenhöhlen) charakterisiert war. Der extreme, eher jungpaläolithische oder mesolithisch anmutende Typus der Dnepr-Donez-Kultur verschwindet gegen Ende des Neolithikums ohne erkennbare Spuren zu hinterlassen."

Die hier genannte Dnjepr-Donez-Kultur (Wiki) (5.000-4.200 v. Ztr.) blieb also sehr konservativ, hat anfangs keine oder nur geringe Vermischung mit zuwandernden Bauernfrauen betrieben und wurde schließlich von der östlicheren, indogermanischen Jamna-Kultur (Wiki) (4.000-2.300 v. Ztr.) abgelöst, bzw. wohl "ersetzt". Diese war aus der Chwalynsk-Kultur (5.000-4.500 v. Ztr.) (Wiki) an der Mittleren Wolga hervorgegangen. Soweit noch einmal dieser Einschub.

Neue kulturelle Orientierungen und Formen der Sozialdisziplinierung ermöglichen neue kulturelle und seelische Verwurzelung

Genetisch unterschieden sich die iranisch-neolithischen (und anatolisch-neolithischen) Bauernvölker, die sich nach Norden über den Kaukasus (und über den Balkan) ausbreiteten, von den in Europa einheimischen Jäger-Sammler-Völkern so stark wie wir heutigen Europäer uns genetisch von den Ostasiaten unterschieden. So führte es der Archäogenetiker David Reich in verschiedenen Vorträgen der letzten Jahre wiederholt aus. Also nicht nur kulturell, sondern auch genetisch stießen hier ungeheuer gegensätzliche "Welten" aufeinander. Dieser Umstand sollte nicht unter den Tisch gekehrt werden.

Es begann dabei ein Prozeß von kultureller Anziehung und Abstoßung. Die bisherige Lebensweise in Europa als Jäger, Fischer und Sammler war infrage gestellt, die neue Lebensweise als Ackerbauer oder Rinderhirte wies sowohl anziehende wie abstoßende Aspekte auf. Es kam zum friedlichen kulturellen Austausch wie auch zu "völkermörderischen" kriegerischen Auseinandersetzungen (inzwischen  zumindest gut nachgewiesen für die Spätphase der Bandkeramik).

Dieser Prozeß mündete in der Ethnogenese neuer Völker. An der Mittleren Wolga entstand im Rahmen der Chwalynsk-Kultur um 4.800 v. Ztr. das Urvolk der Indogermanen, im Wiener Becken entstand um 5.500 v. Ztr. das Urvolk der Bandkeramiker, im Verlauf des Auflösungsprozesses der Bandkeramik um 4.900 v. Ztr. entstanden in Mitteleuropa die dortigen mittelneolithischen Völker, die bis 2.900 v. Ztr. eindrucksvolle Königreiche mit Fernhandel und Rinderwagen errichteten.

Die gegensätzlichen seelischen Strukturen, die bei diesem "Kampf der Kulturen" aufeinander trafen, mögen bewirkt haben, daß beide jeweils ursprünglicheren Volksteile partiell aus ihrer bisherigen Art zu leben "entwurzelt" wurden. Neue  kulturelle Gemeinsamkeiten mögen nun geschaffen worden sein, um in der Erfahrung dieser seelischen Entwurzelung eine neue kulturelle Orientierung und emotionale Einbettung zu gewinnen. Aus solchen psychologischen Vorgängen heraus mag es sich erklären, daß neue kulturelle Formen entstanden wie in der Bandkeramik und im Mittelneolithikum etwa das eindrucksvolle "Langhaus" und weitere, stark vereinheitlichende kulturelle Praktiken, die in Richtung Sozialdisziplinierung gewirkt haben möchten, im Urvolk der Indogermanen etwa das eindrucksvolle "Hügelgrab" und weitere kulturelle Praktiken, die in Richtung auf Sozialdisziplinierung gewirkt haben mochten. Etwa bei den Indogermanen eine "patriarchale" Lebensweise, die im Verlauf der Ethnogenese stärker betont worden sein mag als das notwendigerweise in den beiden Ausgangspopulationen der Fall gewesen sein muß.

______________
  1. Anthony, David W. (2019b). "Ancient DNA, Mating Networks, and the Anatolian Split". In Serangeli, Matilde; Olander, Thomas (eds.). Dispersals and Diversification: Linguistic and Archaeological Perspectives on the Early Stages of Indo-European. BRILL. pp. 21–54 (GB)
  2. Bading, Ingo ( Studgen2019 )
  3. Bading, Ingo ( Studgen2017 )

Montag, 26. Oktober 2020

Indogermanische Steppengenetik im Vorderen Orient

... Am meisten haben die Kurden
Aber selbst die heutigen Beduinen und Araber stammen in kleinen Anteilen von indogermanischen Völkern ab 

Die Beduinen auf der arabischen Halbinsel stehen - genetisch gesehen - jenen Bevölkerungen am nächsten, die vor 12.000 Jahren im fruchtbaren Halbmond zum Ackerbau übergegangen sind, also den Angehörigen der Kultur des "Natufiums". Das waren ursprünglich halbseßhafte Erntevölker, die in runden Häusern lebten und auch das Bergheiligtum vom Göbekli Tepe errichteten. Sie lebten von der Jagd auf wilde Ganzellenherden. Ihre genetische Verwandtschaft mit den heutigen Beduinen und Arabern wird sehr gut in einer neuen genetischen Studie deutlich gemacht (1) (Abb. 1).

Abb. 1: Herkunftsanteile der Völker des Mittleren Ostens - Der (sehr kleine) sehr dunkellila Anteil ist der Anteil "Steppen-Genetik" der Indogermanen, der spätestens ab dem Seevölkersturm in diesen Raum gekommen ist (aus: 1)

Allerdings muß gesagt werden, daß der Übergang zum Neolithikum schon im Fruchtbaren Halbmond, im Levanteraum - offenbar - einherging mit einer leichten Einmischung von anatolisch-(neolithischer) Genetik (Abb. 1: "Levant_N" = levantinisch-neolithisch). Auch die Archäologie weiß von einer Ausbreitung von Norden nach Süden zum Beispiel einer bestimmten Gruppe von "Helwan"-Pfeilspitzen am Anfang des PPNB. Über die heutigen Bewohner des Mittleren Ostens heißt es in der neuen Studie (1):

Die heutigen Bewohner des Mittleren Ostens stehen genetisch zwischen den Jäger-Sammlern des Levantinischen Natufiums (in Abb. 1 hellblau), den neolithischen Bevölkerungen des Levanteraumes, den bronzezeitlichen Europäern (dunkellila) und den iranisch-neolithischen Völkern (orange). Araber und Beduinen stehen (genetisch) den (levantinischen) Natufiern nahe, während heutige Bewohner des Levanteraumes sich genetisch von ihren Vorfahren unterscheiden durch einen geringen Anteil europäischer, bronzezeitlicher Genetik (!). Araber des Iraks, irakische Kurden und Assyrer stehen der iranisch-neolithischen Völkergruppe nahe ebenso wie den bronzezeitlichen Armeniern. (...) Wir sehen einen Kontrast zwischen dem Levanteraum und Arabien: Die heutigen Bewohner des Levanteraumes haben einen Anteil osteuropäischer Jäger-Sammler-Herkunft, der - wie wir in früheren Studien zeigten - den Levanteraum (erst) nach der Bronzezeit erreichte, und zwar zusammen mit Völkern, die bronzezeitliche südosteuropäische und anatolisch-neolithische Herkunft mit sich brachten.

Original: Present-day Middle Easterners are positioned between ancient Levantine hunter-gatherers (Natufians), Neolithic Levantines (Levant_N), Bronze Age Europeans and ancient Iranians. Arabians and Bedouins are positioned close to ancient Levantines, while present-day Levantines are drawn towards Bronze Age Europeans. Iraqi Arabs, Iraqi Kurds and Assyrians appear relatively closer to ancient Iranians and are positioned near Bronze Age Armenians. We find that most present-day Middle Easterners can be modelled as deriving their ancestry from four ancient populations (Table S1): Levant_N, Neolithic Iranians (Iran_N), Eastern Hunter Gatherers (EHG), and a ~4,500 year old East African (Mota). We observe a contrast between the Levant and Arabia: Levantines have excess EHG ancestry (Figure S4), which we showed previously had arrived in the Levant after the Bronze Age along with people carrying ancient south-east European and Anatolian ancestry (Haber et al.,2017, Haber et 112al.2020).

Die stärkste Herkunftskomponente osteuropäischer Jäger und Sammler (also höchstwahrscheinlich der Indogermanen) tragen von allen Völkern des Mittleren Ostens die Kurden in sich (1, Abb. 1C), gefolgt von Irakern, Syrern und Libanesen. Sogar Beduinen, Araber und Ägypter tragen kleine "indogermanische" genetische Komponenten in sich.

Laut dieser Studie tragen weiterhin 50 % der heutigen Araber eine genetische Komponente in sich, die sie befähigt, als Erwachsene Rohmilch zu verdauen. Es handelt sich aber um eine andere als die der Europäer. Ansonsten finden sich in den Genomen der Bewohner des Mittleren Ostens bislang wenig Hinweise auf stärkere Selektion in den letzten 2000 Jahren - auffälliger Weise - im Gegensatz zu den im letzten Jahr ausgewerteten Genomen der Wikinger, die aufzeigen, daß es seither noch in mancherlei Körpermerkmalen und einigen psychischen Merkmalen Selektion gegeben hat. Für den Mittleren Osten gilt stattdessen (1):

Für die meisten Merkmale finden wir keine oder unvollständige Belege für eine jüngste, gerichtete Selektion, das betrifft sowohl Körperhöhe wie Hautfarbe wie Body-Mass-Index.
For most traits, we find no, or inconclusive, evidence for recent directional selection, including height, skin colour, and BMI (Figure 4A).

Es könnte das ein Hinweis darauf sein, daß in den letzten 2000 Jahren im mittleren und nördlichen Europa mehr "Evolution", bzw. Selektion - mehr Gen-Kultur-Koevolution - stattgefunden hat als im Mittleren Osten. Aber diesbezüglich wird man noch weitere Forschungen abwarten müssen.

________

  1. The Genomic History of the Middle East. Mohamed A. Almarri, Marc Haber, Reem A. Lootah, Pille Hallast, Saeed Al Turki, Hilary C. Martin, Yali Xue, Chris Tyler-Smith. Als Preprint: bioRxiv, 18.10.2020, https://www.biorxiv.org/content/10.1101/2020.10.18.342816v1; endgültige Fassung online 4.8.2021 in: Cell, Volume 184, Issue 18, 2 September 2021, Pages 4612-4625.e14, https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0092867421008394
  2. Bading, Ingo: 2019, https://studgendeutsch.blogspot.com/2019/07/die-genetische-geschichte-der-alten.html

Sonntag, 25. Oktober 2020

Der Balkan und Mitteleuropa als Heimat der Seevölker ....

Zum Beispiel: Die Phryger

Eine neue steinerne Inschrift des späthethitischen Königs Hartapu (Wiki, engl) aus dem 8. Jahrhundert vor der Zeitreichung ist 2019 von einem türkischen Bauern gefunden worden (1, 2). Sie stammt also aus der Zeit als die "Ilias" des Homer entstand. Der König Hartapu eroberte das Land Muska (Wiki), damit ist Phrygien gemeint, das im Zentrum Kleinasiens lag, 80 Kilometer westlich des heutigen Ankara.

 

Abb. 1: Phrygische Krieger - Detail aus einer Rekonstruktion eines phrygischen Gebäudes in Pararli, Türkei, 7.  bis 6. Jhdt. v. Ztr. (Wiki)

Interessant ist, was schon alles auf Wikipedia über die Phryger verzeichnet ist. Danach stammen sie vielleicht sogar aus der Lausitz und sind im Zuge des Seevölkersturms um 1200 v. Ztr. über den Balkan nach Anatolien gewandert. In der Ilias des Homer sind die Phryger als Verbündete der Trojaner angeführt. Teile der Phryger seien - nach der Ilias - nach dem Fall Trojas nach Italien ausgewandert und hätten dort die Stadt Padua gegründet. Als Hauptstadt der Phryger in Anatolien gilt Gordion, eine zuvor von Hethitern bewohnte Stadt. Seit einigen Jahren sind die Phryger auch archäologisch besser faßbar und verstanden als das Jahrhunderte zuvor der Fall gewesen war. Wir erfahren (Wiki):

Die Muški/Muschki werden in den Annalen von Tiglat-Pileser I. (ca. 1114–1076 v. Chr.) genannt. Im ersten Jahr seiner Herrschaft kämpfte er gegen Muški, die unter dem Befehl von fünf Königen standen, am oberen Euphrat-Bogen. Seinen Berichten nach hatten sich die Muški bereits fünf Jahrzehnte zuvor in Ostanatolien niedergelassen. (...) Mindestens zwei antike Quellen berichten, daß die Phryger vor ihrer Auswanderung aus dem Balkan noch den Namen Bryger gehabt hätten. (...) Fakt ist, daß es intensive ionisch-thrakische Wechselwirkungen gab, in deren Folge europäische Stämme nach Anatolien eingewandert, aber auch umgekehrt anatolische Stämme nach Europa eingewandert sind. (...) Gordion ist wahrscheinlich bereits im 12. Jahrhundert v. Chr. - nur kurz nach der Aufgabe der hethitisch geprägten Stadt - wieder besiedelt worden. Die Keramik der neuen Bewohner weist teilweise starke Ähnlichkeiten zur ungefähr gleichzeitigen Buckelkeramik aus Troja, Schicht VIIb2 (12./11. Jahrhundert v. Chr.) auf. Vergleichbare Keramik findet sich häufig im Gebiet von Thrakien, Dakien, der mittleren Donau und sogar bis nach Mitteleuropa (z. B. Lausitz). Da die Hethiter bereits Keramik mit der Töpferscheibe herstellten, ist der Ursprung dieser Handgemachten Keramik vermutlich in Europa zu suchen.

Hier haben wir also erneut den Hinweis auf ein Volk, das im Zusammenhang mit dem Seevölkersturm um 1200 v. Ztr. von Mitteleuropa aus nach Kleinasien gelangt ist. Wir erfahren weiter (Wiki):

Nach griechischen und assyrischen Quellen muß das Phrygerreich in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. von großer Bedeutung gewesen sein. Legendär sind mehrere Könige mit den Namen Gordios und Midas in griechischen Schriften. Der historische Midas von Phrygien ist aus griechischen Quellen gut bekannt. Er heiratete eine Griechin und spendete in Delphi einen kostbaren Thron. In assyrischen Annalen taucht erstmals 738 v. Chr. ein gewisser Mita von Muschki auf. (...) In den Annalen Sargons (ca. 722–705) ist Mita an verschiedenen Stellen erwähnt. Zwar wurde er letztlich tributpflichtig, bemerkenswert ist jedoch die Tatsache, daß das Phrygerreich sowohl geographisch (Ostanatolien) in den Blickpunkt der Assyrer geriet, als auch, daß Mita als bedeutender Herrscher und Taktierer galt. Man kann daher berechtigterweise von einem phrygischen Großreich sprechen.

Nun weist die schon genannte, 2019 entdeckte, späthethitische Inschrift aus dem 8. Jahrhundert auch eine Weltauffassung auf, wie sie in der "Ilias" zu finden ist, nämlich daß die Götter eng mit den Menschen, bzw. Königen und Heerführern "zusammen arbeiten". Die Inschrift lautet, hier übersetzt nach der englischsprachigen Ausdeutung (1):

Als Großkönig Kartapu, Held und Sohn des Mursili, das Land Muška eroberte, kam der Feind in das Land herunter. Aber der Sturmgott des Himmels und alle die Götter gaben seine 13 Könige in die Hände seiner Majestät, des Großkönigs Hartapu. In einem einzigen Jahr unterwarf er die 13 Könige und alle ihre Waffenträger der Autorität von zehn stark befestigten Burgen. Und dort sind sie die Statthalter seiner Majestät ...

Englisch: When Great King Kartapu, Hero, son of Mursili, conquered the country of Muška, the enemy descended upon (his) territory (lit. came down into the land), but the Storm God of Heaven (and) all the gods delivered (its) 13 kings (to) His Majesty, Great King Hartapu. In a single year he placed the 13 kings, the(ir) weapons (= troops?), and wild beasts?? under (the authority of) ten strong-walled fortresses. And th[ey (?)] are there (as) His Maje[sty’s] Chiefs(?)-of-the ... 

"Der Sturmgott des Himmels und alle die Götter gaben seine 13 Könige" also "in die Hände seiner Majestät", so wie Adolf Hitler glaubte, von der Vorsehung geführt worden zu sein. Damals, vor 2.800 Jahren, stand eine solche Leitung durch die Vorsehung der Götter noch nicht so stark im Widerspruch mit einem wissenschaftlichen Weltbild wie das spätestens für die Zeit seit dem 18. Jahrhundert gelten muß ....

_______________________

  1. Goedegebuure, P., Van den Hout, T., Osborne, J., Massa, M., Bachhuber, C., & Şahin, F. (2020). TÜRKMEN-KARAHÖYÜK 1: A new Hieroglyphic Luwian inscription from Great King Hartapu, son of Mursili, conqueror of Phrygia. Anatolian Studies, 70, 29-43. doi:10.1017/S0066154620000022
  2. https://twitter.com/Sasseville20/status/1313841615837032448

Freitag, 16. Oktober 2020

Philippinen besiedeln die Marianen-Inseln (2.300 v. Ztr.)

Besiedelten zwei unterschiedliche Völker die südostpazifische Inselwelt, nämlich sowohl von den Philippinen aus, als auch - und womöglich sogar ein wenig später - von Südtaiwan aus?

In einer neuen archäogenetischen Studie (1) deutet sich an, daß die Völker der südostpazifischen Inselwelt nicht nur - wie bislang angenommen - von einer Ursprungsbevölkerung in Südtaiwan abstammen, sondern - wenigstens zum Teil - auf eine Ursprungsbevölkerung auf den Philippinen zurück gehen könnten. In der Zusammenfassung der Studie heißt es über die Lapita-Kultur, die sich als erste über die polynesische Inselwelt ausbreitete (1):

Archäogenetische Daten von zwei Skeletten aus einer Höhle im nördlichen Guam (einer Marianen-Insel), die auf 200 v. Ztr. datiert werden (...) bekräftigen die Annahme einer Herkunft von den Philippinen - in Übereinstimmung mit einigen Deutungen aufgrund sprachverwandtschaftlicher und archäologischer Hinweise, aber in Widerspruch zu Ergebnissen, die auf Computer-Simulationen der frühen Seefahrt beruhen. Wir finden eine enge Verwandtschaft zwischen den Guam-Skeletten und frühen Lapita-Individuen auf Vanuatu und Tonga, was nahelegt, daß die Marianen-Inseln und die polynesischen Inseln von der selben Ursprungsbevölkerung ausgehend besiedelt wurden, und was die Möglichkeit nahelegt, daß die Marianen-Inseln eine Rolle in der Besiedlung der polynesischen Inselwelt spielten.  
Original: We obtained ancient DNA data from two skeletons from the Ritidian Beach Cave site in northern Guam, dating to ~2200 years ago. Analyses of complete mtDNA genome sequences and genome-wide SNP data strongly support ancestry from the Philippines, in agreement with some interpretations of the linguistic and archaeological evidence, but in contradiction to results based on computer simulations of sea voyaging. We also find a close link between the ancient Guam skeletons and early Lapita individuals from Vanuatu and Tonga, suggesting that the Marianas and Polynesia were colonized from the same source population, and raising the possibility that the Marianas played a role in the eventual settlement of Polynesia.

Dieses neue Forschungsergebnis ist in der folgenden Grafik zusammen gefaßt (Abb. 1).

Abb. 1: Die früheste Besiedlung des Südostpazifik - Von zwei Ursprungsbevölkerungen ausgehend (Taiwan und Philippinen)? 

Die ältesten Hinweise auf menschliche Besiedlung der Marianen-Inseln (mit ihrer Hauptinsel Guam) datieren auf 2.300 v. Ztr. (1). Die frühesten Hinweise auf die Lapita-Kultur in Melanesien und Polynesien datieren auf 1.300 v. Ztr. (1). Die Marianen-Inseln sind aber nur über eine Entfernung von 2000 Kilometern offener See zu erreichen, eine Entfernung, die Angehörige der Lapita-Kultur (sonst) erst vor 1000 Jahren schafften zu überbrücken (1).

Viele Elemente der Lapita-Kultur - Schweine, Hunde, Hühner - fanden sich in der Archäologie der Marianen-Inseln bislang nicht, während sich dort aber Hinweise auf frühen Reisanbau fanden, die hinwiederum in der polynesischen Inselwelt nicht zu finden sind. In der Studie heißt es auch (1):

Die sprachliche Evidenz hinsichtlich von Chamooro würde einen Ursprung im westlichen Indonesien oder von den Philippinen nahelegen und die älteste dekorierte Keramik und andere Funde auf den Marianen, die auf 1.500 v. Ztr. datieren, passen gut zu Gegenstücken auf den Philippinen zur selben Zeit oder sogar früher.
The linguistic evidence for Chamorro would suggest an origin from western Indonesia or the Philippines, and the oldest decorated pottery and other artifacts of the Marianas, dating to around 3.5 kya, have been matched with counterparts in the Philippines at around the same time or even earlier.

Diese neue Studie wirft in vielen Aspekten zunächst einmal nur mehr Fragen auf, als sie wirklich abschließend klären kann. Aber es deutet sich die Möglichkeit an, daß einige Aspekte die Ethnogenese der Völker der polynesischen Inselwelt noch nicht vollständig verstanden sind.

Für andere Aspekte der Geschichte Austronesiens und die weitere Geschichte der polynesischen Inselwelt siehe schon ältere Blogbeiträge (2, 3).

___________
  1. Ancient DNA from Guam and the Peopling of the Pacific. Irina Pugach, Alexander Hubner, Hsiao-Chun Hung, Matthias Meyer, Mike T. Carson and Mark Stoneking, bioRxiv. posted 14 October 2020, 10.1101/2020.10.14.339135, http://biorxiv.org/content/early/2020/10/14/2020.10.14.339135?ct=ct  
  2. Bading, Ingo: 2018, https://ibading.blogspot.com/2018/02/warum-bevorzugten-die-frauen.html
  3. Bading, Ingo: 2015, https://ibading.blogspot.com/2015/03/der-glaube-strafende-geister-der.html
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