Freitag, 30. Oktober 2020

Die Urindogermanen - "Allem Anfang wohnt ein Zauber inne"

Neue Schlaglichter aus der Forschung zur Ethnogenese der Indogermanen

Zusammenfassung: 1. Das Urvolk der Indogermanen weist einen Nord-Süd-Gradienten in dem Anteil der iranisch-neolithischen Herkunftskomponente auf, der sich erst nach dem Übergang zur Yamnaya-Stufe verwischt. 2. Die anatolisch-neolithische Herkunftskomponente der westlichen Indogermanen könnte auf unterschiedliche Vermischungsereignisse zurück gehen. 3. Neue Details aus dem komplexen Zusammenspiel mit den Königreichen der Tripolye-Kultur.

Eine neue Studie des führenden Archäologen zur Ethnogenese der Indogermanen, David W. Anthony (Wiki), ist erschienen (1). Anthony ist übrigens seit letztem Jahr emeritiert. Im letzten halben Jahr war auf Google Bücher nur die Einleitung dieser Studie einsehbar, weshalb unser vorhergehender Blogartikel mit Bezug auf diesen Artikel sich nur auf indirekte Inhaltswiedergaben auf Wikipedia und anderwärts beziehen konnte (St. gen. 07/2020). Jetzt ist aber auch der vollständige Text einsehbar (1). Deshalb können wir hier unseren Blogartikel vom Sommer nun viel konkreter und authentischer umschreiben und vervollständigen. Wir stellen ihn deshalb hiermit ganz neu ein, da wir auch auf völlig neue Erkenntnisse dabei stoßen. 

Abb. 1: Ethnogenese der Indogermanen - Grafik von David W. Anthony (Herkunft: Twitter)

David Anthony berichtet über die Genetik der vom David Reich-Labor in Harvard untersuchten Skelette des Urvolkes der Indogermanen, der Chwalynsk-Kultur, die von der Mittleren Wolga (Fundort Ekaterinovka) bis zum Nordrand des Kaukasus (Fundort Progress-2) reichte. Anstelle des Begriffes "Volk" benutzt Anthony den Begriff "mating network". Das ist aber völlig zweitrangig. Er schreibt (1, S. 35):
Die Skelette weisen eine dominante osteuropäische Jäger-Sammler-Herkunfts-Komponente (EHG) auf, die typisch ist für dieses Volk, zusammen mit einer Kaukasus-Jäger-Sammler-Herkunfts-Komponente (CHG). Der prozentuale Anteil der CHG-Herkunfts-Komponente nimmt von Süden nach Norden hin ab, vom Fundort Progress-2, wo die CHG-Komponente 30 bis 50 % beträgt, über den Fundort Khwalynsk (CHG 20 bis 30 %) bis Ekaterinovka (vielleicht 5 %, aber noch nicht veröffentlicht). (...) Die (aus der Khwalynsk-Kultur hervorgegangene spätere) Yamnaya-Kultur war (dann) genetisch homogener als die spätneolithischen Grabstätten, insbesondere hinsichtlich der männlichen genetischen Marker auf dem Y-Chromosom.
Original: They exhibit dominant EHG ancestry, typical oft this mating network, with CHG. The percentage of CHG ancestry declines south-to-north, from Progress-2, where CHG ist 30-50 %, to Khvalynsk (CHG 20-30%) to Ekaterinovka (perhaps 5 %, but not yet published). (...) Yamnaya was more homogeneous genetically than the Eneoloithic cemetries, particularly in male genetic traits on the Y-Chromosome.
Wenn wir jetzt berücksichtigen, daß der Ursprungsort der Chwalynsk-Kultur die Mittlere Wolga ist und sie sich von dort erst nach Süden und Westen ausgebreitet hat, wäre zu schlußfolgern, daß diese Ethnogenese schrittweise erfolgte, und zwar zunächst mit einem kleineren Herkunftsanteil der Kaukasus-Bauern, der sich aber vielleicht, scheinbar während der Ausbreitung nach Süden noch bis 50 % erhöht hat. Im Verlauf der Geschichte der Khwalynsk-Kultur und insbesondere dann im Übergang zur nachfolgenden Yamnaja-Kultur scheint es dann zu einer gleichmäßigeren Durchmischung der beiden Herkunftsanteile innerhalb des ganzen Volkes gekommen zu sein.
 
Das läßt im ersten Blick vermuten, daß Ehen in diesem Volk gerne auch einmal über 1000 Kilometer Distanz zwischen Süd und Nord hatten geschlossen werden können. Denn so groß war ja der Verbreitungsraum am Ende. Und dann würde es sich - was die Heiratsnetzwerke betrifft - um eine ähnliche Erscheinung handeln wie wir sie dann später noch für die indogermanischen Kulturen Mitteleuropas während der Bronzezeit beobachten, wo inzwischen auch Heiratskontakte zwischen Bayern, Böhmen und Sachsen-Anhalt nachgewiesen sind, also zwischen der süddeutschen Bronzezeit, der Aunjetitzer Kultur und anderen zeitgleichen archäologischen Kulturen.
 
Es könnte gemutmaßt werden, daß diese Heiratskontakte auf einer Art Beamtenadel beruhten, der auf Erbhöfen - wie im Lechtal nachgewiesen - über Generationen in der männlichen Linie residierte, der aber in politischem, kulturellem und Heirats-Austausch auch mit entfernteren Königreichen stand. Vielleicht lassen sich ähnliche Umstände damit auch schon für das Urvolk der Indogermanen nachweisen. Aber sehr spannend sind auch die weiteren Ausführungen von Anthony über die Herkunft und das Schicksal der Y-chromosomalen Haplotypen im Urvolk der Indogermanen (1, S. 36):
Die meisten Khwalynsk-Männer gehörten zur Y-chromosomalen Haplogruppe R1b1a - ebenso wie fast alle Yamnaya-Männer. Aber mindestens fünf Khwalynsk-Männer, einschließlich einiger mit sehr reichen Beigaben waren Q1a1b. Einzelne Männer waren R1a1, J1 und I2a2a. Die Q1a1b-Männer sind wahrscheinlich in Verbindung zu bringen mit Populationen im Norden, wo diese Haplogruppe in alten Skeletten in Sibirien, im Altai-Gebirge und über die ganze Waldzone hinweg bis zur Ostsee verbreitet gewesen ist. Der J1-Mann aus Khwalynsk ist wahrscheinlich in Verbindung zu bringen mit dem Süden, denn er gehört zur selben Y-chromosomalen Haplogruppe wie das CHG-Skelett in der Satsurblia-Höhle in Georgien, was eine eine Nähe der Khwalynsk-Population zu Bevölkerungen bestätigt, die kaukasische Jäger-Sammler-Herkunft aufweisen. Der I2a2a-Mann stammte von einer Haplogruppe ab, die sehr verbreitet war bei mesolithischen westeuropäischen Jägern und Sammlern des Donautals. Und der R1a1-Mann gehörte zu einem Minderheiten-Typ innerhalb der osteuropäischen Jäger und Sammler. Aber Yamnaya-Individuen, die unter Kurganen bestattet wurden, scheinen von einer weniger vielfältigen Auswahl dieser Haplotypen abzustammen, fast alle sind R1b1a, was nahelegt, daß jene, die unter Kurganen in der pontisch-kaspischen Steppe begraben lagen, zu einer eingeschränkten patrilinealen Gruppe gehörten -  wahrscheinlich einem Clan oder mehreren Clans, die miteinander verwandt waren.
Original: Most Khvalynsk males belonged to Y-chromosome haplogroup R1b1a, like almost all Yamnaya males, but at least five Khvalynsk males, including some very richly endowed, were Q1a1b. Single males were R1a1, J1, and I2a2a. The Q1a1b males probably were linked to the north, where this haplogroup is found in ancient samples from Siberia, the Altai Mountains, and across the forest zone to the Baltic. The J1 male at Khvalynsk probably was linked to the south, since he belonged to the same Y-haplogroup as the CHG type speciment from Satsurblia Cave in Georgia, confirming affinity with CHG in the Khvalynsk population. The I2a2a male was descended from a haplogroup common among Mesolithic WHG's in the Danube valley, and the R1a1 male belonged to a minority type within the EHG. But Yamnaya individuals chosen for kurgan burial seem to have been drawn from a narrower subset of these, almost all oft them R1b1a, suggesting that those buried under Yamnaya kurgans in the Pontic-Caspian steppes belonged to a restricted patrilineal group of some kind - probably a clan or releated set of clans.
Das heißt, in der Ursprungsregion der Chwalynsk-Kultur finden sich zwar auch Männer kaukasisch-neolithischer Herkunft, die sich vereinzelt in dieses Volk eingemischt hatten (!), womöglich insbesondere anfangs. Bis zum Übergang der Khwalynsk-Kultur aber zur Yamnaya-Kultur scheint ihr genetisches Erbe innerhalb des Volkes der Indogermanen schon wieder verloren gegangen zu sein, ebenso wie das genetische Erbe anderer Männer, die dem Urvolk ursprünglich angehört hatten. Hier sind also deutliche Hinweise auf (schon zuvor angenommene) starke Selektion zu erkennen, die mit dem - sich womöglich über Jahrhunderte erstreckenden - Prozeß der Ethnogenese einhergingen.
 
Auch solche Vorgänge des Verlustes des männlichen genetischen Erbes ganzer, zuvor einheimischer mittelneolithischer Völker - etwa in England oder in Spanien oder anderwärts - wird ja dann noch sehr häufig in Zusammenhang mit dem Auftreten der Indogermanen im Spätneolithikum Europas und des Mittelmeerraumes (Schnurkeramiker- und Glockenbecher-Leute) zu beobachten sein. Auch hier scheint also schon im Prozeß der Ethnogenese der Indogermanen vieles von dem aufzuscheinen, was dann auch weitere Epochen der Geschichte der Indogermanen kennzeichnet.
 

4.000 v. Ztr. - Das Urvolk der zweiten Welle der Indogermanen formiert sich in der östlichen Ukraine


Interessant ist dann auch, was Anthony über einen Angehörigen der Sredni Stog-Kultur schreibt (1, S. 36):
Schlußendlich ist noch ein Individuum einer Grabstätte der Sredni Stog-Kultur am Fluß Donez bei Aleksandriya in der östlichen Ukraine auf 4000 v. Ztr. datiert. Es weist zwischen 70 bis 80 Prozent CHG/EHG-Herkunft auf wie Chwalynsk und Progress-2 aber ebenso etwa 20 % anatolisch-neolithische Herkunft. Sein Y-chromosomaler Haplotyp war R1a-Z93 - ähnlich denen in der späteren Sintashta-Kultur und  bei den südasiatischen Indo-Ariern. (...) Seit vielen Jahrzehnten ist die Sredni-Stog-Kultur als eine Vorgänger-Kultur der Yamnaya-Kultur in der Ukraine angesehen worden, die auch Verbindungen einerseits mit der Chwalynsk-Kultur in den russischen Steppen aufwies (ähnliche Grabrituale) wie mit europäischen Bauernkulturen im Westen  andererseits (Kupfer-Handel). Dieses Sredni Stog-Individuum war viel mehr mit europäischer (anatolisch-neolithischer) Bauernherkunft vermischt als jedes ältere Skelett in den Steppen. Sein Hauptherkunfts-Anteil zeigt die westliche Ausdehnung des Volkes der Indogermanen in die nordpontischen Steppen auf.
Damit deutet sich gleich noch die Klärung einer weiteren, bisher ungeklärten Frage an. Nämlich wo und wie der anatolisch-neolithische Herkunftsanteil in das Urvolk der (westlichen) Indogermanen hinein gekommen ist. Offenbar zum ersten Mal schon um 4.000 v. Ztr. in der Sredni-Stog-Kultur, aus der dann die Jamnaja-Kultur hervorgegangen ist (Wiki):
Auf die Sredny-Stog-Kultur folgt die Jamnaja-Kultur.
Nach derzeitigem Kenntnisstand besaß die Sredny-Stog-Kultur zwar einerseits Rinder und Rinder-Wagen, lebte aber zugleich von umfangreicher Jagd auf wilde Pferde. Die Pferde dieser Kultur, die ausgegraben wurden, wiesen noch keine Anzeichen von Domestizierung auf. Aber diese Frage ist noch nicht vollständig geklärt. Auf dem englischen Wikipedia sind die neuen Erkenntnisse, die David Anthony übermittelte, schon eingepflegt (Wiki).

In aller Vorläufigkeit wird also gesagt werden können: Die Ethnogenese zumindest eines Teils der europäischen Indogermanen könnte sich schon in der Ukraine um 4000 v. Ztr. vollzogen haben. Es müssen das aber noch nicht zwangsläufig jene Indogermanen gewesen sein, die sich als erste Generation der Schnurkeramiker in Norddeutschland ausbreiteten, da diese ja die anatolisch-neolithische Herkunftskomponente noch nicht aufgewiesen haben sollen.

Dennoch könnten ja Teile der europäischen indogermanischen Vökler von ihnen abstammen und auch der zweiten Welle der nach Asien sich ausbreitetenden indogermanischen Völker (siehe zu letzteren früheren Blogbeiträge: Afanasijewo- und Andronowo-Kultur in Sibirien). Anthony schreibt, was wir hier auf dem Blog schon behandelt hatten (1, S. 38):
Wir wissen immer noch nicht, wann oder wo Menschen mit kaukasischer Jäger- und Sammler-Genetik zuerst das Steppenland betreten haben. Es war aber bestimmt vor 4.500 v. Ztr..
Merkwürdigerweise glaubt Anthony, daß es sich dabei um Jäger-Sammler-Populationen gehandelt habe, nicht um Ackerbauern oder Herdenhalter. Das ist etwas merkwürdig, wo doch zu jener Zeit südlich des Hauptkamms des Kaukasus schon Wein angebaut wurde und in großen Keramik-Bottichen verarbeitet und bevorratet wurde von Angehörigen dieser Völkergruppe. Es scheint mir doch weiterhin am ehesten denkbar, daß sich die Menschen mit kaukausisch-neolithischer Genetik entlang beider Ufer des Unterlaufs der Wolga nach Norden ausgebreitet haben.

Über die Dnjepr-Donez-Kultur, eine archaische Fischer-, Jäger- und Sammler-Kultur, die westlich der Chwalynsk-Kultur und östlich des Ostrandes des Verbreitungsgebietes der anatolisch-neolithischen Völkergruppe, der Bandkeramiker, an den Dnjepr-Fällen lebte, schreibt Anthony (1, S 39):
Die Dnjepr-Region scheint einen Zustrom der westeuropäischen Jäger-Sammler-Komponente (WHG) zwischen dem Mesolithikum und dem Neolithikum erfahren zu haben, vielleicht als die europäischen Bauern (Bandkeramiker) frühere WHG-Gebiete in Moldavien und Rumänien besiedelten. (...) Alle 32 getesteten DDII-Individuen waren Mischlinge mit (vornehmlich) EHG-Herkunft und (unterschiedlicher geringerer) WHG-Herkunft, aber mit keinerlei CHG-Herkunft. (...) Die Dereivka-Männer waren vornehmlich R1b1a mit wenigen I2a2a, ähnlich zu Chwalynsk - aber ohne das Q1a2-Element, die eine bedeutende Minderheit in der Chwalynsk-Kultur ausmachten; und ohne J1-Individuen, die Chwalynsk mit dem Kaukasus verbanden.
Eine weitere getestete Gruppe bestand nur aus WHG-Männern, so daß die Vermutung aufkommt, daß sich dort die WHG-Männer genetisch vollständig gegenüber den EHG-Männern durchgesetzt hatten. Diese Kultur hielt schon domestizierte Rinder, die sie auch opferte. Immerhin wurde dort auch ein einzelner, genetisch 100%iger Bandkeramiker bestattet, vielleicht auch erst in der Endzeit der Dnjepr-Donez-Kultur. Da er am Ende einer Reihe einheimischer Männer bestattet wurde, kann vermutet werden, daß es sich um einen Gefangenen handelte (1, S. 40). Um 3.500 v. Ztr. fand sich dort ein einzelnes Frauenskelett, das zu 20 % Nachkomme der Bandkeramiker war, außerdem der Jäger-Sammler-Populationen vor Ort. Sie lebte in der Zeit kurz bevor diese Gegend von der Yamnaja-Kultur "übernommen" wurde.
 

Ausgriff bis auf den Balkan (4.500 bis 3.500 v. Ztr.)


Auch über die frühe Expansion der Indogermanen (der "Steppen-Genetik") bis nach Warna in Bulgarien macht Anthony bedeutsame Ausführungen (1, S. 41f). Nach ihnen hatte sogar die älteste der dortigen, mit reichen Beigaben versehenen Bestattungen (zwischen 4.700 und 4.550 v. Ztr.), vielleicht 200 Jahre älter als das jüngste, prächtigste Grab - ein vier bis sechs Jahre altes Mädchen - 20 % EHG/CHG-Erbgut. Ihre mütterliche Herkunft war einheimisch, ihre väterliche Herkunft zu einem Viertel oder Achtel aus der Steppe nördlich des Kaukasus. Anthony schreibt (1, S. 41):
Steppen-Herkunft scheint also Menschen in Varna nicht davon ausgeschlossen zu haben, hohen Status zu erlangen.
Und er schreibt - vielleicht wiederum plausibel (1, S. 42):
Einige hoch angesehene alteuropäische Familien in Nordost-Bulgarien könnte eine kleine Zahl von Männern aus der Steppe als Heiratspartner akzeptiert haben, um ein friedliches Zusammenleben und Handelsaustausch unter dem Schirm der Verwandtschaft sicherzustellen.
Diese Heiratsverbindung bestand sogar, so Anthony, räumlich über die noch bestehende Dnjepr-Donez-Kultur hinweg. Über die weitere Geschichte schreibt Anthony (1, S. 44):
Steppen-Völker der Suvorovo-Kultur (einer Gräbergruppe am Donau-Delta, die wahrscheinlich von der Sredni-Stog-Kultur in der Ukraine abzuleiten ist) breiteten sich im Donau-Tal um 4.400 bis 4.200 v. Ztr. aus in Übereinstimmung mit der Vermischung mit europäischen Bauern in Aleksandriya um 4.000 v. Ztr.. Zusätzlich zu den Suvorovo-Gräbern in den Steppen nördlich des Donau-Tals breiteten sich offensichtlich einige Steppen-Bewohner in den Balkan aus, in das östliche Karpatenbecken und nach Transylvanien. (...) Eines der Markzeichen der Suvorovo- oder Skelya-Epoche war das Auftreten einer neuen Art von polierten Steinaxt-Köpfen, angefertigt in einem spezifischen Wolga-Kaspische Steppe-Stil, unterschiedlich vom Dnjepr-Steinaxtkopf-Stil, der sowohl in den Cucuteni-Tripolye-Städten wie in den Tell-Städten an der unteren Donau und auf dem Balkan zu finden ist. Diese Ausbreitung von Wolga-Kaspischen polierten Steinaxtköpfen begleitete eine Ausbreitung von Wolga-Kaukasus-Genen in die führenden Familien von Nordost-Bulgarien. 
Zur gleichen Zeit strömten hunderte von Kupferschmuck-Stücken vom Balkan aus in die Steppen am Dnjepr und an der Wolga. Es gab also einen Austausch von Menschen, Symbol- und Schmuckgegenständen zwischen Warna, Chwalynsk und Svobodnoe (1, S. 45):
Auf diese Epoche des Austauschs, des Verkehrs und der Ausbreitungsbewegungen folgte ein katastrophaler Kulturwechsel, der die Aufgabe aller Tell-Siedlungen im unteren Donau-Tal und auf dem Balkan begleitete, und das Ende ihrer materiellen kulturellen Traditionen um 4.300 bis 4.200 v. Ztr.. In den folgenden Jahrhunderten scheinen die Einwanderer aus den Steppen sich mit den übrig gebliebenen Bewohnern der Tell-Siedlungen vermischt zu haben, um die von der Steppe beeinflußte, aber gemischte Cernavoda I-Kultur zu bilden. (Wiederum haben wir von dieser wichtigen Bevölkerung bislang keine archäogenetischen Daten.)

Die Schnurkeramiker (3.000 v. Ztr.)

 
Über die Schnurkeramiker sagt Anthony, daß gerade vor den ersten archäogenetischen Daten im Jahr 2015 von Seiten der Archäologie her sehr definitiv vermutet worden war, sie wären einheimisch entstanden. Die Archäogenetik zeigte aber noch im selben Jahr das Gegenteil auf (1, S. 46):
Ihre entfernte Herkunft wurde verdeckt durch den Wechsel in der materiellen Kultur von der Yamnaya- zur Schnurkeramik-Kultur, vielleicht innerhalb eines Jahrhunderts (3000 bis 2.900 v. Ztr.) am Beginn ihrer großen Ausbreitung. Die materielle Kultur der Schnurkeramik beinhaltete spezifische Artefakt-Typen (Kugelamphoren, polierte Steinhammer-Äxte), die von den einheimischen mittelneolithischen Kulturen im nördlichen Europa übernommen worden waren. Es könnte angesehen werden als ein materielles Erkennungszeichen der Schnurkeramiker gegenüber ihren Yamnaya-Eltern und -Großeltern (...), ein aktives materielles Statement der politischen Abtrennung, das betonte Referenzen gegenüber neuen Verbündeten beinhaltete. 
Fast an jedem Satz von Anthony ist spürbar, daß er viele archäologische Zusammenhänge dichter und konkreter zu Ende gedacht zu haben scheint als die meisten seiner Fachkollegen. Deshalb haben wir ihn hier so ausführlich zitiert. (Wobei wir schon in früheren Beiträgen hier auf dem Blog auch deutlich genug gemacht haben, daß wir Anthony nicht für unfehlbar halten. Das betrifft etwa sein lange aufrecht erhaltenes Infragestellen von Kontakten zwischen den archäologischen Kulturen über den Kaukasus hinweg wie auch seine Hypothese von "Geheimbünden" bei den Indogermanen, abgelesen an angeblichen Hunde-"Opfern" bei ihnen. Aber das nur am Rande.)

Von dieser Arbeit von Anthony wird derzeit auf Google Scholar angezeigt, daß sie erst ein einziges mal zitiert worden ist. Sie wird also den Forschungsstand darstellen, der der aktuellste verfügbare ist.

Noch einmal in indirekter Wiedergabe auf Wikipedia

 
Ein Teil des Inhalts der Studie fand sich auch schon auf dem Wikipedia-Artikel zum Urvolk der Indogermanen ("Western Step Herders" = WSH) referiert (Wiki). Aber das war nur sehr unscharf und keineswegs vollständig wiedergegeben.
 
Bevor dieses sehr vorläufige Zitat gebracht werden soll, muß aber vorausgeschickt werden, daß die darin erwähnte Dnjepr-Donez-Kultur  (Wiki) ursprünglich ein Jäger-Sammler-Volk war, das ab 5.200 v. Ztr. begonnen hat, Haustiere zu halten, ohne sich aber mit zuwandernden Bauernvölkern zu vermischen (wie wir gleich sehen werden). Das östlich von ihm lebende Volk der Chwalynsk-Kultur (das Urvolk der Indogermanen), war - so referierten wir hier auf dem Blog schon früher (2) - ab 4.700 v. Ztr. zur Haustierhaltung übergegangen, und zwar parallel zu Vermischung mit Frauen der aus dem Kaukasus zugewanderten Bauern. Wir lesen jedenfalls (Wiki):
"Anthony stellt fest, daß die 'Westlichen Steppenhirten' (Urindogermanen) eine genetische Kontinuität ihrer väterlichen Linien aufweisen zwischen der Dnjepr-Donez-Kultur und der Yamnaya-Kultur. Denn die Männer beider Kulturen waren zumeist Träger des Y-chromosomalen Hapoltyps R1B, sowie zu einem geringen Anteil des Y-chromosomalen Haplotyps I2. Während nun die mitochondriale DNA der Dnjepr-Donez-Kultur ausschließlich aus U-Haplotypen bestand, die von ost- und westeuropäischen Jägern und Sammlern stammen, schließt die mitochondriale DNA der Yamnaya auch Haplotypen mit ein, die bei kaukasischen sowie anatolisch-neolithischen Bauern zu finden sind. Anthony stellt fest, daß die 'Westlichen Steppenhirten' zuvor schon sowohl in der Sredny Stog-Kultur wie in der Chwalynsk-Kultur anzutreffen waren, die der Yamnaya-Kultur in der pontisch-kaukasischen Steppe vorausgegangen waren. Die Sredny Stog-Kultur war im wesentlichen von 'Westlichen Steppenhirten' getragen, die ein wenig mit anatolisch-neolithischen Bauern vermischt war, während die Chwalynsk-Kultur, die weiter östlich lebte, ausschließlich 'Westliche Steppenhirten'-Genetik aufwies. Anthony stellt ebenfalls fest, daß anders als ihre Chwalynsk-Vorfahren die Y-DNA der Yamnaya ausschließlich ost- und westeuropäische Jäger-Sammler-Herkunft aufweist. Dies legt nahe, daß die führenden Geschlechter der Yamnaya ost- und westeuropäische Jäger-Sammler-Herkunft aufwiesen."
("Anthony notes that WSHs display genetic continuity between the paternal lineages of the Dnieper-Donets culture and the Yamnaya culture, as the males of both cultures have been found to have been mostly carriers of R1b, and to a lesser extent I2. While the mtDNA of the Dnieper-Donets people is exclusively types of U, which is associated with EHGs and WHGs, the mtDNA of the Yamnaya also includes types frequent among CHGs and EEFs. Anthony notes that WSH had earlier been found among the Sredny Stog culture and the Khvalynsk culture, who preceded the Yamnaya culture on the Pontic-Caspian steppe. The Sredny Stog were mostly WSH with slight EEF admixture, while the Khvalynsk living further east were purely WSH. Anthony also notes that unlike their Khvalynsk predecessors, the Y-DNA of the Yamnaya is exclusively EHG and WHG. This implies that the leading clans of the Yamnaya were of EHG and WHG origin.")
Das ist am also noch einmal etwas unschärfer das, was oben anhand der Originalzitate nur schärfer gefaßt werden konnte. Hier wird also vorausgesetzt, daß sich diese "führenden Geschlechter" über überdurchschnittlich hohen Fortpflanzungserfolg gegenüber Y-DNA nicht-ost- oder westeuropäischer Jäger-Sammler-Herkunft in den frühen Jahrhunderten der Geschichte dieses Urvolkes der Indogermanen durchgesetzt hat, bzw. sie "ersetzten". 
"Anthony vermutet, daß die Vermischung zwischen osteuropäischen Jägern und Sammlern und kaukasischen Jägern und Sammlern zuerst in der östlichen pontisch-kaukasischen Steppe um 5.000 v. Ztr. stattfand, ...
Bislang war ein Zeitpunkt um 4.700 v. Ztr. genannt worden. Dieser war uns aber auch schon als etwas zu spät datiert erschienen. 5.000 v. Ztr. hieße nun, daß dieser Zeitpunkt vollgültig in den Zerfall der einheitlichen Bandkeramik weiter im Westen fällt und ihre Aufgliederung in Regional-Kulturen. Weiter im Text: 
... während die Vermischung mit anatolisch-neolithischen Bauern erst etwas später in den südlichen Teilen der pontisch-kaspischen Steppe stattfand. Da Yamnaya-Y-DNA ausschließlich Haplotypen ost- und westeuropäischer Jäger und Sammler aufweist, stellt Anthony fest, daß diese Vermischung zwischen ost- und westeuropäischen Jäger-Sammler-Männern und kaukasisch- und anatolisch-neolithischen Frauen stattgefunden hat. Anthony führt dies als zusätzlichen Beleg dafür an, daß die indoeuropäische Sprache ursprünglich von osteuropäischen Jägern und Sammlern gesprochen wurde, die in Osteuropa lebten. Auf dieser Grundlage folgert Anthony dann, daß die indoeuropäischen Sprachen ursprünglich das Ergebnis 'einer dominanten Sprache waren, die von den osteuropäischen Jägern und Sammlern gesprochen wurde, die kaukasus-neolithische Elemente in der Phonologie, Morphologie und im Wortschatz absorbiert hat' (wie sie von den kaukasischen Bauern gesprochen wurde).
("Anthony suggests that admixture between EHGs and CHGs first occurred on the eastern Pontic-Caspian steppe around 5,000 BC, while admixture with EEFs happened in the southern parts of the Pontic-Caspian steppe sometime later. As Yamnaya Y-DNA is exclusively of the EHG and WHG type, Anthony notes that the admixture must have occurred between EHG and WHG males, and CHG and EEF females. Anthony cites this as additional evidence that the Indo-European languages were initially spoken among EHGs living in Eastern Europe. On this basis, Anthony concludes that the Indo-European languages whom the WSHs brought with them were initially the result of "a dominant language spoken by EHGs that absorbed Caucasus-like elements in phonology, morphology, and lexicon" (spoken by CHGs).")
In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, sich an die Sichtweise zu erinnern, die wir schon 2017 hier auf dem Blog zitierten (Zitat Andreas Vonderach nach: 3):
"In der Ukraine zeigt sich mit der wahrscheinlich aus östlicheren Gebieten eingewanderten Kurgan-Bevölkerung ein völliger Bruch zur Vorbevölkerung der Dnepr-Donez-Kultur, die durch extreme Größenmaße und Robustizität, lange Schädel, breite Gesichter und Nasen und noch niedrigere Orbitae (Augenhöhlen) charakterisiert war. Der extreme, eher jungpaläolithische oder mesolithisch anmutende Typus der Dnepr-Donez-Kultur verschwindet gegen Ende des Neolithikums ohne erkennbare Spuren zu hinterlassen."
Die hier genannte Dnjepr-Donez-Kultur (Wiki) (5.000-4.200 v. Ztr.) blieb also sehr konservativ, hat anfangs keine oder nur geringe Vermischung mit zuwandernden Bauernfrauen betrieben und wurde schließlich von der östlicheren, indogermanischen Yamna-Kultur (Wiki) (4.000-2.300 v. Ztr.) abgelöst, bzw. wohl "ersetzt". Diese war aus der Chwalynsk-Kultur (5.000-4.500 v. Ztr.) (Wiki) an der Mittleren Wolga hervorgegangen. Soweit noch einmal dieser Einschub.
 

Neue kulturelle Orientierungen und Formen der Sozialdisziplinierung ermöglichen neue kulturelle und seelische Verwurzelung

 
Genetisch unterschieden sich die iranisch-neolithischen (und anatolisch-neolithischen) Bauernvölker, die sich nach Norden über den Kaukasus (und über den Balkan) ausbreiteten, von den in Europa einheimischen Jäger-Sammler-Völkern so stark wie wir heutigen Europäer uns genetisch von den Ostasiaten unterschieden. So führte es der Archäogenetiker David Reich in verschiedenen Vorträgen der letzten Jahre wiederholt aus. Also nicht nur kulturell, sondern auch genetisch stießen hier ungeheuer gegensätzliche "Welten" aufeinander. Dieser Umstand sollte nicht unter den Tisch gekehrt werden.
 
Es begann dabei ein Prozeß von kultureller Anziehung und Abstoßung. Die bisherige Lebensweise in Europa als Jäger, Fischer und Sammler war infrage gestellt, die neue Lebensweise als Ackerbauer oder Rinderhirte wies sowohl anziehende wie abstoßende Aspekte auf. Es kam zum friedlichen kulturellen Austausch wie auch zu "völkermörderischen" kriegerischen Auseinandersetzungen (inzwischen  zumindest gut nachgewiesen für die Spätphase der Bandkeramik).
 
Dieser Prozeß mündete in der Ethnogenese neuer Völker. An der Mittleren Wolga entstand im Rahmen der Chwalynsk-Kultur um 4.800 v. Ztr. das Urvolk der Indogermanen, im Wiener Becken entstand um 5.500 v. Ztr. das Urvolk der Bandkeramiker, im Verlauf des Auflösungsprozesses der Bandkeramik um 4.900 v. Ztr. entstanden in Mitteleuropa die dortigen mittelneolithischen Völker, die bis 2.900 v. Ztr. eindrucksvolle Königreiche mit Fernhandel und Rinderwagen errichteten.
 
Die gegensätzlichen seelischen Strukturen, die bei diesem "Kampf der Kulturen" aufeinander trafen, mögen bewirkt haben, daß beide jeweils ursprünglicheren Volksteile partiell aus ihrer bisherigen Art zu leben "entwurzelt" wurden. Neue  kulturelle Gemeinsamkeiten mögen nun geschaffen worden sein, um in der Erfahrung dieser seelischen Entwurzelung eine neue kulturelle Orientierung und emotionale Einbettung zu gewinnen. Aus solchen psychologischen Vorgängen heraus mag es sich erklären, daß neue kulturelle Formen entstanden wie in der Bandkeramik und im Mittelneolithikum etwa das eindrucksvolle "Langhaus" und weitere, stark vereinheitlichende kulturelle Praktiken, die in Richtung Sozialdisziplinierung gewirkt haben möchten, im Urvolk der Indogermanen etwa das eindrucksvolle "Hügelgrab" und weitere kulturelle Praktiken, die in Richtung auf Sozialdisziplinierung gewirkt haben mochten. Etwa bei den Indogermanen eine "patriarchale" Lebensweise, die im Verlauf der Ethnogenese stärker betont worden sein mag als das notwendigerweise in den beiden Ausgangspopulationen der Fall gewesen sein muß.
______________
  1. Anthony, David W. (2019b). "Ancient DNA, Mating Networks, and the Anatolian Split". In Serangeli, Matilde; Olander, Thomas (eds.). Dispersals and Diversification: Linguistic and Archaeological Perspectives on the Early Stages of Indo-European. BRILL. pp. 21–54 (GB)
  2. Bading, Ingo: 2019, https://studgendeutsch.blogspot.com/2019/08/es-ist-amtlich-das-urvolk-der.html.
  3. Bading, Ingo: 2017, https://studgendeutsch.blogspot.com/2017/07/ancient-dna-forschung-und-physische.html.

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