Montag, 5. Mai 2008

Was belebt die Religiosität - Einheitlichkeit oder Vielfalt?

Religionswissenschaftler Michael Blume betont immer wieder, wie vorteilhaft sich "freie religiöse Märkte" erweisen würden. Er sieht aber andererseits auch, wie durch zu wenig Gemeinsamkeiten Gesellschaften und Staaten auseinanderbrechen können. Er nannte dazu einmal das Beispiel Belgien. Das neueste Forschungs-Heft der Universität Frankfurt (1/2008 - pdf.) enthält mehrere Beiträge zur Religionswissenschaft. Unter anderem wird auch die Frage gestellt: "Mehr Konkurrenz = vollere Kirchen?" (S. 12) Darin beschäftigt man sich mit dieser oft von Michael erörterten These. Es heißt dort (Hervorhebung durch mich, I.B.):

Brauchen auch Religionen einen freien Markt, um sich im gesunden Wettbewerb messen zu können? Die Soziologin Prof. Dr. Sigrid Roßteutscher, die im vergangenen Sommer an die Universität Frankfurt berufen wurde, hat sich in einer international vergleichenden Studie mit der Natur religiöser Märkte und der demokratischen Rolle religiöser Zivilgesellschaften beschäftigt. Ihre wissenschaftliche Arbeit kontrastiert ökonomische Theorien mit der These, dass sich die Säkularisierung weiter durchsetzt.

Ökonomische Theorien zur Religion behaupten, dass nur freie Märkte - Gesellschaften, in denen der Staat seine Kirchen weder privilegiert noch finanziert oder reguliert - einen gesunden Wettstreit der Religionen hervorbringen. Nur die Konkurrenz um "Kunden", so das Argument weiter, schaffe kundenorientierte attraktive religiöse Angebote, während Priester in staatlich finanzierten Monopolkirchen gar von leeren Kirchen profitierten. Die ökonomische Theorie kontrastiert das partizipative, lebendige religiöse Leben der USA mit den apathischen, religiös indifferenten Staatskirchensystemen Skandinaviens, wo kaum noch Menschen die Kirche besuchen.

Die Säkularisierungstheorie behauptet das Gegenteil: Wird Religion aus der Öffentlichkeit verdrängt, wird sie mit alternativen religiösen Angeboten und Interpretationen konfrontiert; Menschen fangen an zu zweifeln, der Glaube wird relativiert. Entfremdung und Kirchenaustritt sind die Konsequenz.

Roßteutscher hat das religiöse Vereins- und Organisationswesen in verschiedenen europäischen Kommunen, in Nationen mit unterschiedlichen Staatskirchensystemen und konfessioneller Zusammensetzung untersucht - unter anderem in Aalborg (Dänemark), in Bern und Lausanne (Schweiz), in Aberdeen (Schottland), in Sabadell (Spanien), in Enschede (Niederlanden) sowie Mannheim und Chemnitz. Die Hauptergebnisse der Studie lassen sich knapp zusammenfassen: Der Freiheitsgrad religiöser Märkte ist für eine Erklärung individuellen Engagements irrelevant. Falls solche Zusammenhänge aufschienen, so zeugten sie meist vom Vorteil regulierter, wenig pluralistischer Situationen. Der Gegenspieler der ökonomischen Theorie, die Säkularisierungstheorie, bietet eine Erklärung, die diesen Befunden eher entspricht: Dort, wo die Religion sichtbar ist, dort, wo sie in viele zentrale staatliche Leistungen (etwa im Bildungssektor oder in der Wohlfahrtsproduktion) eingebunden ist, dort, wo die Strukturen noch intakt sind, da der eine "wahre Glaube" nicht durch eine Vielzahl konkurrierender Konzeptionen des Göttlichen geschwächt ist, dort sind mehr Menschen religiös engagierter als in der idealisierten Welt religiösen Wettbewerbs im freien, deregulierten Markt.

Deutlich viel versprechender schien Roßteutscher die Anwendung der Organisationstheorie, welche die partizipativen und Sozialkapital generierenden Leistungen in einen Zusammenhang mit spezifischen Organisationsmerkmalen stellt. Doch der in der Theorie gefeierte kleine, flache, dezentrale Verein ist aus empirischer Sicht ein Mythos. Dazu Roßteutscher: "Der Idealverein, der Verein, der am ehesten Sozialkapital generiert und viele Menschen in das Netz freiwilliger Organisationen integriert, ist der arbeitsteilig organisierte, wohlhabende und professionell geleitete Großverein. Mehr noch: Der so häufig angenommene Organisationsvorteil protestantischer Organisationen gegenüber der Organisationswelt des Katholizismus beruht genau auf diesen Organisationscharakteristika." Calvinistische Vereine sind katholischen Vereinen in Punkto Rekrutierung und Sozialkapitalbildung überlegen, weil sie größer, hierarchischer, arbeitsteiliger und wohlhabender sind als katholische Vereine. Roßteutschers Studie, Ergebnis ihrer an der Universität Mannheim entstandenen Habilitation, erscheint im Frühsommer 2008 unter dem Titel "Religion, Konfession, Demokratie" im Nomos Verlag.

Aus: Wissenschaftsmagazin Forschung Frankfurt 1/2008 Schwerpunktthema "Religion in der Gesellschaft" Kostenlos anfordern: steier@pvw.uni-frankfurt.de
Hm! Ich denke, das werden wir uns und Michael sich noch genauer anschauen müssen und wir werden dazu künftig etwas differenzierter argumentieren müssen. Übrigens passen die Ergebnisse auch gut zu anderen Forschungen zum Thema "multikulturelle Gesellschaft". Religionsgemeinschaften und Ethnien haben ja viele Ähnlichkeiten und Überschneidungen.

Nach jüngsten Forschungsergebnissen, über die im letzten Jahr auch hier auf dem Blog berichtet wurde, sind Menschen viel sozialer, engagierter und einander zugewandter in "entmischten" Wohngegenden als in "vermischten". Auch hat die Forschung ja schon die starken wohnräumlichen Entmischungs-Tendenzen in den USA gründlicher unter die Lupe genommen und nach Ursachen und Auswirkungen gefragt. Gleich und gleich gesellen sich gern - auf allen Gebieten des sozialen Lebens - und wie wir nun wissen auch auf dem religiösem Gebiet.

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