Dienstag, 18. Dezember 2007

Nachdenken über Altruismus (- 4. Teil)

- Die Geschichte vom "verlorenen Sohn"

Für manchen Leser wird nicht recht klar sein, worauf dieses "Nachdenken über Altruismus - Thema und Variationen" eigentlich hinauslaufen soll. Vielleicht faßt man dieses Nachdenken tatsächlich zunächst auf wie ein musikalisches "Improvisieren", wie ein "Material-Sammeln" (sozusagen von "musikalischen Ideen"), aus dem man dann später - günstigstenfalls - eine Oper oder Sinfonie schreiben kann (wie gesagt: günstigstenfalls!).

Fangen wir diesmal so an: Vielleicht ist echter Altruismus heute kaum noch lebbar im Alltag. Wenn das stimmen sollte, wäre es verständlich, daß die Forscher derzeit vornehmlich nur die "Trivialform" des Altruismus, die soziale Gegenseitigkeit (Gerechtigkeit) in allen möglichen und unmöglichen Varianten und Aspekten erforschen und immer wieder neu erforschen. Da gibt es das berühmte "Gefangenen-Dilemma", die These vom "altruistischen Bestrafen" und so vieles andere mehr auf diesem Gebiet. Aber - wie mir scheint - gleich ganze Marmor-Steinbrüche von Forschungsmöglichkeiten was Alltags-Altruismus in arbeitsteiligen Gesellschaften betrifft, verbleiben dabei im Schatten gänzlicher Nichtbeachtung.

Daß man in seiner Selbstaufopferung für einen anderen Menschen oder für Prinzipien bis zum eigenen Tod geht oder bis in Annäherungen an denselben - all solche Dinge gehören heute jedenfalls nicht mehr zu den bevorzugten, vorherrschenden kulturellen Idealen. Mit Hedonismus jedenfalls hätte das ja auch sehr wenig zu tun. Daß aber im sozialen Zusammenhang auch heute noch zumindest "Annäherungen" an den Tod gelebt werden, kann man etwa an der Tatsache ablesen, daß eine Scheidung nach einer tief erfüllenden Ehe die Sterbewahrscheinlichkeit sehr deutlich erhöht und zur Lebensverkürzung beiträgt. Für Männer gilt dies noch mehr als für Frauen. Auch bei vielen Krankheiten und Depressionen geht die Forschung ja heute von sozialen Ursachen oder Mitverursachungen aus. Das heißt: Bestimmte soziale Lebensumstände, in die man gerät oder denen man nicht aus dem Weg geht, können - letztlich - töten.

Es geschieht vielleicht heute nicht mehr sehr oft, daß solche Erhöhungen von Sterbewahrscheinlichkeiten mit bewußt gelebtem Altruismus in Verbindung gebracht werden - zumindest subjektiv. Aber es könnte sinnvoll sein, auch bezüglich solchen sozialen Geschehens nach jeweiligen Altruismus-Anteilen im sozialen Verhalten zu fragen, die über reine Gegenseitigkeits-Prinzipien hinausgehen. (Also extrem "asymetrische" soziale Beziehungen wie es ja doch auch - oder vor allem - die Geschlechterbeziehungen darstellen.)

Über Menschen gut denken, auch dann, wenn es schwer fällt ....

Was könnte altruistisch sein? Daß man versucht, über Menschen gut zu denken, edel zu denken auch dann, wenn es schwer fällt? Über andere Menschen nicht nur und ständig in ihren Schwächen, ihren Abarten herumwühlen? Gibt es nicht ein Sprichwort, daß da sinngemäß lautet: Wie man einen Menschen ansieht, so ist er auch? Wie man die Welt ansieht, so ist sie auch? Ich möchte meinen, daß dies besonders für soziale Alltags-Zusammenhänge zutrifft. Und ich möchte meinen, daß das ein gewaltiger Schritt wäre, in echterer Weise altruistisch zu sein: daß ich versuche, von allem Schlechten, von allen schlechten Eigenschaften eines Mitmenschen, die ich auch beachten könnte, die mir auch bekannt sein könnten, zunächst abzusehen und zunächst einmal nur das Gute in ihm zu sehen, in ihm zu werten.

Ein solches Vorgehen setzt schon eine gewisse "Selbstlosigkeit" voraus. Denn in vielen Lebenssituationen ist es doch einfacher, im anderen Menschen erst einmal das Schlechtere vorauszusetzen, das Schlechtere zu sehen. Wenn man zunächst das Schlechtere voraussetzt, von vornherein mißtrauisch ist, dann kann man gewiß auch nicht mehr enttäuscht oder verletzt werden, sondern höchstens überrascht.

Manche Menschen sind mehr geneigt zum Guten als andere ...

Nun wird es sicher so sein, daß "über andere Menschen gut denken" manchen Menschen leichter fällt als anderen. Den "von Natur aus" fröhlichen, optimistischen, lebensoffenen Gemütern wird es leichter fallen, auch im anderen Menschen das Positive zu sehen, überhaupt die Welt im positiveren Licht zu sehen, als Menschen, denen von Natur aus das "Schwarzsehen", das Sehen von Negativem näher liegt.

Man könnte also behaupten: Manche Menschen sind leichter geneigt, dem Guten nachzustreben als andere. Und zwar könnte dies entweder aufgrund genetischer Veranlagung und/oder aufgrund von kulturellen Prägungen, positiven oder negativen Erfahrungen vor allem in der Kindheit, Jugendzeit und jüngerem Erwachsenenalter der Fall sein. Fast möchte man meinen, daß das Ersterlebnis von Geschlechtlichkeit (also die Art des Verlustes der "Jungfräulichkeit", die sicherlich einen seelischen Prägungsvorgang darstellt), viel damit zu tun haben könnte, wie man auch später auf das Leben sieht, wie man - zumal in intimeren Beziehungen - den anderen Menschen sieht. Negative, seelenlosere, "ernüchternde" Erfahrungen auf diesem Gebiet werden sich anders auf das Leben auswirken als positive, seelisch aufrüttelnde, lebensfroher machende.

Genetische oder schicksalsmäßige "Determiniertheit"?

Aber wie ist es nun: Selbst wenn es Menschen aufgrund von Schicksal und Vererbung leichter fallen sollte, als anderen, dem inneren Trieb, der inneren Neigung zum Guten zu folgen - wenn sie nun dabei durch ein Meer von Leid gehen - wer wird das dann noch gleichsetzen wollen mit banalem "Determinismus", banaler "Determiniertheit"? Wer wird das vor allem gleichsetzen wollen mit einer gelebten Geneigtheit zum Guten, die ohne jedes Leid auch gelebt und verwirklicht werden kann (- z.B. aufgrund glücklicher[er] Lebensumstände)?

Und dann erlebt man es doch immer wieder, daß Menschen, die sogar besonders geneigt und in einer jeweiligen Epoche besonders befähigt sind, dem Guten, Edlen nachzustreben, daß gerade sie auch besonders "befähigt" sind, aus dieser "offenbaren" oder sogenannten persönlichen "Determiniertheit" auszubrechen. Sie begehen mehr oder weniger bewußt - früher oder später vielleicht auch aus ihrer eigenen Sicht - eine schlechte, eine böse, bösartige Handlung, um ihrer "Determiniertheit", einer gewissen unausweichlichen Neigung (einer Begabung?) zum Guten, zum Edlen zu entgehen. Und natürlich "beweisen" sie dadurch sich und anderen klar und eindeutig, daß es 100%-ige "Determiniertheit" zum Guten nicht gibt. Und ähnliches wird auch für das Schlechte und die Neigung zum Schlechten gelten.

Menschen, die vielleicht vor 50 oder 80 Jahren gelebt haben, wäre als Beispiel eines solchen eben genannten Lebensschicksales sicher der früher viel gelesene Lebensroman von Bachvogel über "Friedemann Bach", den erstgeborenen Sohn von Johann Sebastian Bach, eingefallen. In diesem Roman wird der musikalisch hochbegabte Friedemann Bach als ein gescheiterter Künstler dargestellt, der schließlich seine hohe Begabung und sein hohes musikalisches Können dazu verwendet, um mit einer Zigeuner-Gruppe durch die Lande zu ziehen und Zigeneuner-Weisen in Wirtshäusern zu spielen. Ein sehr erschütternder Roman, der "irgendwie" "lebensecht" wirkt, selbst wenn die musikhistorische Forschung in späterer Zeit glaubt, aufzeigen zu können, daß dieser viel gelesene Roman das Lebensschicksal von Friedemann Bach nicht historisch zutreffend darstellen würde.

Aber: Wie steht es mit der Parabel vom "verlorenen Sohn"?

Auf jeden Fall könnte einen ein solcher Roman zur Besinnung bringen bezüglich dessen, mit welchem unendlichen Leid, mit welchen kulturellen Verlusten "echte", gelebte oder nicht gelebte Altruismen eigentlich zu tun haben könnten. Maler und Schriftsteller haben ähnliche Schicksale immer wieder auch im Bild der Parabel des "verlorenen Sohnes" zur Darstellung gebracht. Etwa Rainer Maria Rilke im berühmten Schlußabschnitt seines Werkes "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge". ("Man wird mich schwer davon überzeugen, daß die Geschichte des verlorenen Sohnes nicht die Legende dessen ist, der nicht geliebt werden wollte. ...") Oder viele niederländische Maler, die ja den "verlorenen Sohn" in zwielichtigen Schenken zur Darstellung bringen. Auch etwa Luis Trenker hat einen Film gedreht über einen "verlorenen Sohn", der nach Amerika auswandert und erst ganz zum Schluß durch seine Rückbesinnung auf seine Heimat und die Brauchtümer seiner Heimat (Tirol) eines Besseren belehrt wird. Für mich jedenfalls ein erschütternder Film.

Auf jeden Fall: Die Parabel vom "verlorenen Sohn" ist ein bekannter Topos in der Kunst und Kultur, über den sich moderne Altruismus-Forscher auch mal ein bischen mehr Gedanken machen könnten, um alle Altruismus-Arten, die gelebt werden (oder wurden), auch wirklich einer wissenschaftlichen Beschreibung näher zu bringen und sie in das schon bestehende wissenschaftliche Theorie-Gebäude einzuordnen. Denn was in der Wissenschaft nicht theoretisch erfaßt wird, das wird oft auch oft vom allgemeinen Denken gar nicht mehr berücksichtigt - und umgekehrt. Es besteht ja da eine Wechselbeziehung. Aber beides wäre doch ganz besonders schade. Um mich vorsichtig auszudrücken. (Wäre vielleicht ein paralleler Topos für das weibliche Geschlecht das Thema "Jesus und die Ehebrecherin", die "gefallene" Tocher? Vielleicht.)

Besteht denn nicht auch die Möglichkeit, daß wir heute in irgend einer Weise alle "verlorene Söhne" sind? Oder "gefallene" Töchter? Merkwürdig auch, wie gerade merke, daß man "gefallen" noch schlimmer findet, als "verloren" ... All das jedenfalls wird man je nach eigenem innerem Maßstab und Weltbild, bzw. philosophischen Grundanschauungen verschieden beurteilen. Das oft allzu platte Denken in den Kategorien wie denen der "verlorenen Schafe Israels" muß dabei jedenfalls nicht in jedem Fall im Vordergrund stehen. Es ist durchaus nicht notwendig, sich wie ein Sektenpriester zu fühlen, wenn man versucht, sich auf die metaphysische und moralische Heimatlosigkeit des modernen Menschen zu besinnen ...

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