In einer neuen, dänischen archäogenetischen Studie (1), in der der genetische Wechsel für verschiedene Regionen Europas seit dem Spätneolithikum mit neuen statistischen Methoden tiefenschärfer als bislang aufgeschlüsselt worden ist und in der die Ergebnisse auch grafisch eindrucksvoll dargestellt sind (s. Abb. 1), wird zunächst einmal für das Territorium des heutigen Polen deutlich (Abb 1a):
In der frühen
Bronzezeit gab es im Weichselraum "mitteleuropäische" Genetik. Ein auffallender Befund. Da sie sich sehr deutlich von der zeitgleichen Genetik in
Skandinavien unterscheidet, die in Skandinavien auch bis heute als solche vorherrschend
geblieben ist, wird es nicht einfach sein, diese Genetik schlankweg mit "Ur-Germanen"
in Verbindung zu bringen oder auch nur schlankweg mit "Ur-Süd-Germanen".
Abb. 1: Genetische Veränderungen innerhalb verschiedener Regionen Europas seit dem Spätneolithikum (aus 1) (s. dort Fig. 3) (zur besseren Verständlichkeit ist es sinnvoll, sich zuvor die Grafik 2a der Studie einzuprägen, die hier überall als Hintergrund vorausgesetzt wird, siehe dazu Abb. 2) |
Es handelt sich um
die Schnurkeramik-Kultur in dieser Region und um die in dieser Region nachfolgende Aunjetitzer Kultur. Die Schnurkeramik-Genetik hat sich im Raum des heutigen Mitteldeutschland und wohl auch bis in den Weichselraum hinein mit der Glockenbecher-Genetik vermischt, so daß vorderhand nicht klar ist, ob die nachfolgende Aunjetitzer Kultur eine keltische oder eine germanische Sprache gesprochen hat. Aber vielleicht hat sie ja auch keine von beiden Sprachen gesprochen? Vielleicht hat die Aunjetitzer Kultur das Ligurische (Wiki) gesprochen?
Da es nach Auskunft des Sprachforschers Jürgen Udolph (Stg24) keine Spuren von keltischen geographischen Namen in Mitteldeutschland gibt, ist die Frage ungeklärt, welche Sprache die Menschen der Aunjetitzer Kultur gesprochen haben. Und auch, welches Schicksal diese Sprache hatte.
Die Südwanderung der Aunjetitzer Kultur (ab 1800 v. Ztr.)
In der mittleren Bronzezeit aber nun - und zwar offenbar schon ab 1800 v. Ztr. (!!!) - verschiebt sich die Genetik im Weichselraum Richtung "Osten", also Richtung heutiger osteuropäischer Bevölkerungen. Das kann nur heißen, daß größere vorherige Bevölkerungsteile abgewandert sind, also vielleicht mit den Ösenhalsringen und Vollgriffdolchen nach Italien oder gar bis nach Ugarit in den Levanteraum gezogen sind (s. Stg24). Ob man auch fragen könnte, ob auch indogermanische Sprachen in Italien aus der Aunjetitzer Kultur abstammen, schließt sich für uns an dieser Stelle als Fragestellung an. Und zunächst kommen wir uns mit dieser Fragestellung sehr kühn vor.
Aber zumindest ab 1000 n. Ztr. verschiebt sich ja die Genetik auch in Italien sehr deutlich in Richtung des heutigen Mitteleuropa und bleibt hier ebenfalls bis zum Mittelalter als solche erhalten (s. Abb. 1d). Und zu unserer Überraschung lesen wir zu den "Italikern" (Wiki):
Eine Migration früher Indoeuropäer aus Ostmitteleuropa über die Alpen soll um 1800 v. Ztr. stattgefunden haben. Laut Barfield ist das Auftreten der Polada-Kultur mit der Bewegung neuer Bevölkerungen aus Süddeutschland und der Schweiz verbunden. Laut Bernard Sergent müßte der Ursprung der ligurischen Sprachfamilie (seiner Meinung nach entfernt verwandt mit den keltischen und italischen) in den Polada- und Rhone-Kulturen, südlichen Zweigen der Aunjetitzer Kultur, liegen. Diese Personen ließen sich in den Ausläufern der Ostalpen nieder und weisen eine materielle Kultur auf, die den zeitgenössischen Kulturen der Schweiz, Süddeutschlands und Österreichs ähnelt.A migration across the Alps from East-Central Europe by early Indo-Europeans is thought to have occurred around 1800 BC. According to Barfield the appearance of Polada culture is connected to the movement of new populations coming from southern Germany and from Switzerland.[13] According to Bernard Sergent, the origin of the Ligurian linguistic family (in his opinion distantly related to the Celtic and Italic ones) would have to be found in the Polada and Rhone cultures, southern branches of the Unetice culture. These individuals settled in the foothills of the Eastern Alps and present a material culture similar to contemporary cultures of Switzerland, Southern Germany, and Austria.
Über die erwähnte Polada-Kultur (Wiki) in Norditalien lesen wir (Wiki):
Abgesehen vielleicht vom Gebrauch von Pfeil und Bogen und einem gewissen, technischen Können in der Metallverarbeitung besitzt die Polada-Kultur keinerlei Übereinstimmungen mit der vorangegangenen Remedello-Kultur und der Glockenbecherkultur.
Sollte man also womöglich weder nach keltischen geographischen Bezeichnungen in Mitteldeutschland suchen, noch nach italischen, sondern genauer nach ligurischen? Die Entstehung des hier erwähnten Ligurischen (Wiki) wird mitunter in Zusammenhang gesehen mit einer vor-keltischen und vor-germanischen indogermanischen Sprache innerhalb von Europa, wie sie von Hans Krahe anhand "alteuropäischer Gewässernamen" angenommen worden ist (Wiki). Womöglich würde ja eine Mischkultur wie die Aunjetitzer Kultur, eine Mischkultur zwischen Schnurkeramikern und Glockenbecherleuten dafür am ehesten infrage kommen?
Abb. 2: Hauptkomponentenanalyse der genetischen Verwandtschaft heutiger europäischer Völker (aus 1) |
Ab 50 n. Ztr. kommen Skandinavier in den Weichselraum: die Goten (archäologisch die "Wielbark-Kultur"). Die Goten stammen nach dieser Studie aus dem nördlichen Skandinavien, während alle anderen germanischen Stämme wie Bajuwaren oder Langobarden aus dem südlichen Skandinavien stammen. Das würde die Unterschiedlichkeit der ost- und westgermanischen Sprachen erklären (1).
Genetik der Goten hat auch im Weichselraum nicht überdauert
Bis zum Frühmittelalter hat sich die Genetik der Goten im Weichselraum wieder völlig verloren. Es herrscht seither im Weichselraum wieder osteuropäische Genetik vor. Allerdings ist diese nicht mehr ganz so osteuropäisch wie zuvor. Dazu heißt es in der Studie (1):
"Eine frühere Studie konnte die Kontinuität in der Abstammung von den mit Wielbark assoziierten Individuen zu späteren mittelalterlichen Individuen aus einer ähnlichen Region nicht ausschließen. Mit der verbesserten Leistung von Twigstats können Kontinuitätsmodelle sehr deutlich zurück gewiesen werden, da kein Ein-Quellen-Modell einer vorhergehenden Gruppe aus der Eisenzeit oder Bronzezeit eine angemessene Übereinstimmung für die mittelalterlichen Individuen liefert (P ≪ 1 × 10−32). Stattdessen kann die Mehrheit der Individuen aus dem mittelalterlichen Polen nur als eine Mischung von Abstammungen modelliert werden, die mit dem Litauen der römischen Eisenzeit verwandt ist, was den Abstammungen von Individuen aus dem Polen der mittleren bis späten Bronzezeit (44 %, 95 %-Konfidenzintervall 36–51 %) ähnelt, einer Abstammungskomponente, die mit ungarischen Skythen oder slowakischen La-Tène-Individuen verwandt ist (49 %, 95 %-Konfidenzintervall 41–57 %) und möglicherweise eine kleinere Komponente mit Abstammung, die mit Sarmaten aus dem Kaukasus verwandt ist (P = 0,13). Vier von zwölf Individuen aus dem mittelalterlichen Polen, von denen drei aus der späten Wikingerzeit stammen, hatten nachweisbare skandinavische Vorfahren. Ein Teil der bei Individuen aus dem späteren mittelalterlichen Polen nachgewiesenen Abstammung könnte im späten 1. Jahrtausend n. Ztr. in dem Teil der Bevölkerung, der seine Toten einäscherte, fortbestanden haben, aber ungeachtet dessen deutet dies auf eine groß angelegte Abstammungstransformation im mittelalterlichen Polen hin. Zukünftige Daten könnten Aufschluß darüber geben, inwieweit dies den Einfluß slawischsprachiger Gruppen in der Region widerspiegelt."
Soweit zum Weichselraum.
Kamen Sachsen nach Dänemark (um 500 n. Ztr.)?
Auch in England war die skandinavische Genetik im Früh- und Hochmittelalter deutlich vorherrschend und hat sich danach sehr deutlich verloren. Und da stellt sich die Frage, wie es gekommen ist, daß sich diese wieder so deutlich verloren hat.
Die
Studie stellt überraschenderweise auch fest, daß ab 500 v. Ztr. mitteleuropäische Genetik
nach Dänemark und Westschweden herein kam. Diese ist aber in der
Neuzeit ebenfalls wieder ganz verloren gegangen. Das könnte heißen, daß die Angeln
und Sachsen nicht nur nach England übergesetzt sind, sondern auch Krieg
mit Dänemark geführt haben. Oder es könnte heißen, daß die Dänen in Sachsen Sklaven geraubt oder gekauft haben. In Schweden hinwiederum kam Genetik hinein aus dem heutigen Litauen.
Es ist auffallend, daß sich sowohl in England wie in Dänemark und Schweden wie im Weichselraum eine jeweils ursprünglichere Genetik nach zwischenzeitlichen Zuwanderungen wieder durchgesetzt hat. Fast drängt sich der Eindruck auf, als ob die dänische und die englische Sprache jeweils "gegen" "ausländische" Genetik selektiert haben, ebenso - womöglich - die polnische Sprache. Denn welche Selektionsfaktoren sollten sonst dafür verantwortlich sein?
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- Speidel, L., Silva, M., Booth, T. et al. High-resolution genomic history of early medieval Europe. Nature 637, 118–126 (2025). Published 01 January 2025 (Nature2025)