Donnerstag, 23. Januar 2025

„Spießerseelen und ihre kleinen Seelenwehwehs“

Das Leben Agnes Miegels (1879-1964) - Neue Zeugnisse und Sichtweisen

Teil 2

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Inzwischen fegte das große geschichtliche Schicksal über Deutschland und Ostpreußen. Nämlich während des Ersten Weltkrieges. Dieses schlägt sich nun vor allem in den Gedichten von Agnes Miegel nieder. 

Abb. 1: Agnes Miegel - Lithographie aus dem Jahr 1930 (Bildarchiv Ostpreußen)

Für diese bekommt sie im Juli 1918 den Preis der Schiller-Stiftung. 

„Lauter Schlampen und Schweinchen zu Töchtern und Frauen“ (1918)

Hierüber schreibt sie an Hans Georg von Münchhausen, den jüngeren Bruder von Börries (zit. n. Poschmann, S. 33): „Ja, ich war auch sehr erbaut darüber, bins noch. Übrigens ist diese Stiftung so reich, daß sie mir getrost das Dreifache hätte geben können, aber so viel Erfahrung habe ich nun schon mit all so was - als Frau kriegt man immer höchstens die Hälfte. Das geht nicht nach der Leistung, sondern wie beim Jahresgehalt nach der mir nie begreiflichen Idee, daß eine Frau nicht annähernd so viel braucht wie ein Mann ... Sie muß ebenso Steuern zahlen, genau dieselben Preise in Bahn, Elektrische, Droschke, Theater, Konzert - woher also dieser Wahn??? All diese Beamten und Komiteeleute, die so was verteilen, haben entweder lauter Schlampen und Schweinchen zu Töchtern und Frauen oder die berühmte, an allen Stammtischen gepriesene Gattin, die mit 20 Mark Wirtschaftsgeld sich bei der 1. Schneiderin anzieht und Diners wie Uhl gibt - alles kraft ihres hervorragenden Wirtschaftstalents. So - ich unterbreite Ihnen diese wahrhaftigen Ansichten, da Sie gewiß später auch mal Komitee bei so was sein werden.“ 

Auf dem Memeldeich (September 1919)

Für ein tieferes, verbessertes Verständnis von Dichtungen ist es oft wertvoll zu erfahren, welche Anlässe das Schaffen derselben hervorgerufen haben. Das berühmte Gedicht „Die Fähre“ von Agnes Miegel etwa entstand im September 1919 auf einem Memeldeich. Ohne das Wissen um diesen Tatbestand nimmt man eher an, das Gedicht wäre auf die Weichsel oder auf einen anderen Fluß bezogen (Margarete Haslinger in: Wagner, S. 31):

„Fünfundzwanzig Jahre vor der Vertreibung, im September 1919, trafen wir Agnes und zwei ihrer Freundinnen in Schwarzort auf der Kurischen Nehrung. Mein Mann lud die drei Damen ein, mit uns auf einem unserer Tourenschiffe über das Kurische Haff nach Königsberg zurückzufahren. Wir übernachteten in dem Fährkrug in Tawellningken an der Memel und wollten uns am nächsten Sonntagmorgen in Lappienen die schöne sechseckige Kirche ansehen. Agnes kam nicht mit. Sie blieb oben auf dem Memeldeich sitzen. Sie sah die Fuhrwerke, die mit der Fähre auf das südliche Ufer übersetzten, um zur Kirche zu fahren. Drüben lag das Gebiet, das wenig später an Litauen abgetreten werden mußte. An jenem stillen Sonntag an der Memel entstand ihre Dichtung Die Fähre mit den Versen, die das Schicksal der Vertreibung vorwegnahmen.“

Dieses Gedicht ist zu lang, um hier vollständig wiedergegeben zu werden. Es handelt davon, wie zu nächtlicher Stunde die Ordensritter und in ihrem Gefolge Siedler, Männer, Frauen und Kinder, wieder die ostpreußische Heimat in Richtung Westen verlassen: „Die Krügersfrau fuhr auf im Bett, / die Uhr schlug Mitternacht ...“, so beginnt das Gedicht. Und den Höhepunkt erreicht es, als die auf der Fähre überfahrenden Menschen in die helle, warme, sommerliche Mondnacht hinaus die Worte miteinander wechseln:

„Was ist so weich wie Mutterschoß,
     so mild wie Mutterhand?“
Und Antwort kam: „Das Wiesenheu
     und der Wind im flachen Land!“

„Was ist so süß wie der Kuß der Braut?
     was ist blonder als sie?“
„Die Linde über dem Strohdachfirst -
     viel süßer und blonder ist die!“

„Was ist blanker als ihr weißer Leib?
     was ist so fruchtbar jung?
Was trägt mich so geduldig?“
     „Der Strom der Niederung!“

„Was ist für Götter und Menschen Glück
     Das Glück, dem keines gleicht?“
„O das ist: den eignen Boden sehn
     soweit das Auge reicht!

Und Gruß und Rede hören
     wie altvertrautes Wiegenlied,
Und Wege gehn, wo jeder uns
     wie Kind und Bruder ähnlich sieht!“

„Und was ist allerschwerste Last?
     was ist ewige Pein?
Was ist den Kindern der Ebne verhaßt
     und wird es immer sein?“

„Von der Heimat gehn ist die schwerste Last,
     die Götter und Menschen beugt,
Und unstät zu schweifen ist allen verhaßt,
     die die grüne Ebene gezeugt!“

Agnes Miegel hatte immer viele „Vorausahnungen“. 

Abb. 2: Agnes Miegel in Tollmingkehmen in der Rominter Heide nahe der Grenze zu Litauen, etwa 1907/09 (Bildarchiv Ostpreußen)

Im Jahr 1921 - es sind die Jahre der Russischen Revolution, des polnisch-sowjetischen Krieges und der kommunistischen Putsche in Deutschland - hatte sie in einem Gasthaus in Cadinen (am Frischen Haff) einen Traum, über den sie viel später einmal in einem Brief berichtete  (Wagner, S. 32): „Er kam dreimal, ganz deutlich, wie eine Vision, in keiner Einzelheit je vergessen. Ich sehe den Moskowitersaal im Königsberger Schloß in tiefer Winterabenddämmerung, er wächst ins Ungeheure, in seiner Mitte steht ein Richtblock. Hand in Hand, im Reigen, umschreiten ihn feierlich riesige Frauen, gekleidet wie slawische Bäuerinnen, in weiten bunten Röcken, losen Jacken, Kopftüchern. Sie singen dazu nach einer alten, eintönigen, schwermütigen Melodie auf russisch (ich verstehe es aber Wort für Wort):

Wenn der hölzerne Mund rot schäumen wird,
O zarte Jungfrau,
Zerfleischen werden wir Dein Herz,
Aus der Brust Dir gerissen,
Es verschlingen wie Wölfe,
O zarte Jungfrau! (...)

Ich wußte, daß diese Jungfrau Ostpreußen meinte. Nie vergaß ich das Grauen, nie die fürchterliche, abgründige Trauer dieses Traums, nie die Worte des Liedes ...“

In den 1920er Jahren verfaßte sich viele Zeitungsartikel unter ihrer Rubrik „Spaziergänge einer Ostpreußin“. Mit diesen schrieb sie sich weiterhin in die Herzen ihrer Landsleute ein (s. Wagner, S. 44f).

Abb. 3: Agnes Miegel in den 1920er Jahren (Bildarchiv Ostpreußen)

Über die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg schrieb die Schriftstellerin Helene Voigt-Diederichs (1875-1961), die erste Frau des Verlegers Eugen Diederichs, wohl Ende 1939 - Westpreußen und der sogenannte „polnische Korridor“, der zuvor Ostpreußen vom übrigen Reich getrennt hatte, waren gerade wieder in das Deutsche Reich eingegliedert worden (zit. n. Ulf Diederichs, S. 25): „Die persönliche Begegnung mit Dir, liebe Agnes, kam spät. Der große Krieg lag hinter uns, unbewältigt. Dein Blick war feucht von Schmerz und Liebe um Dein von der großen Mutter abgesondertes Ostland. Es hat manches Jahr gedauert, bis ihre Kraft sich sammelte und erstarkte, so daß sie wie in alten Tagen hinüberreicht zur meeresnahen Pregelstadt. Wessen Glück sang lauter als das Deine?

Nicht nur Dichterin, ein naher warmer Mensch bist Du seither (...) mir und den Meinen. Du warst unter uns zu den Festen des Lebens und zu des Todes unerbittlichem Spruch. Du ließest es Dir nicht nehmen, bei Hausweihe da zu sein, Du mit dem schwingenden Freimut Deiner Stimme, Deinem Lachen, warm wie Drosselschlag im Vorfrühling. (...)

Vor Jahresfrist geschah es, daß Dein Arm den Sohn meines Sohnes, des Knäbleins, das mit frohlockendem Brauseschritt heut an Deinem hohen Tage auch dabei sein will, über der Taufe dem heiligen Wasser hinbot. Fromm dem alten Brauch zugetan lächelte Dein Atem über das junge Kind zugleich den allereigensten Segen: aus urtümlichem Hellsinn, der da war vor Wissen und Wort, namenlos, und von dem Dein Werk unverlierbare Weisung trägt.“

Im März 1922 schreibt sie an Lulu (zit. n. Ulf Diederichs, S. 25): „Für mich ist fern von Ostpreußen alles Verbannung, ob Bamberg oder Sewastopol.“

Die Märchentante war viel besser“ (um 1926)

1926 wechselt Agnes Miegel zur „Königsberger Allgemeinen Zeitung“  (Neumann, S. 10f): „Ihre Beiträge sind Begebenheiten aus dem Alltag, einfühlsame Natur- und Landschaftsbeschreibungen, interessante Reiseberichte und sachkundige Stadtführungen in ganz Deutschland - Beiträge, die nahezu ausnahmslos in der anspruchsvollen Unterhaltungs-Beilage der ‚Königsberger Allgemeinen Zeitung‘ zusammen mit Essays, Kurzgeschichten und Gedichten von Thomas, Heinrich und Claus Mann, Hermann Hesse, Franz Werfel, Max Brod, Lion Feuchtwanger, Julius Bab, Kurt Tucholsky, Ina Seidel, Georg Britting und Joachim Ringelnatz in illustrer Gesellschaft erscheinen.“

Abb. 4: Börries und Agnes auf der Herbsttagung der Dichterakademie in der Akademie der Künste am Pariser Platz 4 in Berlin im Jahr 1933 - stehend v.l.n.r. Will Wesper, Börries v. Münchhausen, Hans Grimm, Kolbenheyer, Wilhelm Schäfer, sitzend vlnr: Werner Beumelburg, Hans-Friedrich Blunck, Agnes Miegel, Hanns Johst, Emil Strauss, Rudolf Binding (Bundesarchiv)

Aus dieser Zeit gibt es einen Bericht, der aufzeigt, welch schnelles, selbstverständliches und warmherziges Verhältnis die kinderlose Agnes Miegel zu ihr fremden Kindern fand. Eine Königsbergerin erinnert sich an die folgende schöne Anekdote (Ena Benze: Die verzauberten Kinder. In: Wagner, S. 99f): „Wir haben immer gern Besuch gehabt und die Kinder waren daran gewöhnt, guten Morgen oder guten Tag zu sagen und dann mit Rosi, dem Liebling aller in der Familie, wieder ins Spielzimmer zu gehen. Nur in seltenen Fällen wurde ihnen gesagt, wer kam, damit sie sich besonders frisch gewaschen vorstellen möchten. So geschah es an einem herrlich sonnigen Wintertag, daß der Vater morgens beim Fortgehen sagte: ‚Heute kommt eine große Frau zu uns; eine Dichterin. Macht der Mutter kein Schande und seid unsere besten Kinder.‘

Nach Tisch gingen sie, wie meistens, mit ihren kleinen Körben hinaus und sammelten Holz, das der Sturmwind abgezaust, oder das noch friedlich im trockenen Winkel lag. Es brachte nicht viel; aber sie hatten das frohe Gefühl dabei, daß sie zum Kaminfeuer beitrugen, das alle in der Familie so liebten, auch, wenn es manchmal nur selbstgesuchten Pfefferminzteee gab. Dafür gab es aber immer etwas Vorgelesenes oder Erzähltes.

An diesem Nachmittag kamen die Kinder herrlich durchgefroren gleichzeitig mit dem Besuch die Treppe herauf. Sie waren schon mitten im Gespräch miteinander. Ausziehen und an den hellflackernden Kamin setzen war eins, und der Besuch gehörte mitten hinein in den kleinen, glücklichen Kreis. Die trockenen Zweige aus den Kinderkörbchen wurden von ihnen ins Feuer geworfen; es flammte auf und sie freuten sich sehr. Es war auch ein grünes Tannenreislein darunter; der Gast nahm es in die Hand und zündete es an, so daß es wunderbar duftete im Raum, so als ob einer am Tannenbaum ein Zweiglein in die Kerzen hält. Die Kinder saßen unversehens auf dem Schoß des Gastes und der begann, ohne jede Vorrede, mit warmer Stimme zu erzählen: Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt.

Die Scheite knisterten; die Kinder saßen mucksmäuschenstill und das Rückert’sche Märchen ließ alle Bäume reden, von denen die Kinder tote Ästchen gesammelt hatten. Nun lebten sie alle wieder auf; durch den Mund der Erzählerin sprachen sie und man sah, wie alle gefesselt wurden von der wunderbaren Geschichte, der Art, zu erzählen und der Wärme, die vom Kamin und dem Gast ausging.

Abends in ihren Bettchen, erzählten die Kinder mir das Märchen noch einmal. Sie waren noch wie verzaubert.

‚Mutter, wie gut, daß heute die große Frau nicht gekommen ist. Die Märchentante war viel besser. Wir haben ihr gesagt: es soll heute eine Dichterin kommen. Hoffentlich kommt sie nicht. Die stört uns doch.‘

Jetzt wußte ich, was sie da miteinander getuschelt hatten - die mütterliche Frau, die einmalige Erzählerin, der warme, gütige Mensch Agnes Miegel und die verzauberten Kinder.“ 

Die gleiche Königsbergerin berichtet über ein anderes Erlebnis (Ena Benze, in: Wagner, S. 103): „Ein anderes Mal hatte Elly Ney vor Jugend gespielt und gesprochen im Marmorpalais am See. Agnes Miegel war unter den Zuhörern und sichtlich ergriffen; so sehr, daß sich ihr ein Gedicht an Elly Ney formte, dessen Stimmung und Inhalt ich ganz mitfühlen durfte. Es begann mit den Worten:

Immer denke ich nun, wenn deinen Namen ich höre,
An den Abend zurück, da in dem marmornen Saal
In dem schweigenden Schloß - es lag in herbstlicher Mondnacht
Wie verwunschen in einem silbernen See -
Du vor der Jugend standest ...“

„O Du schönes Tal, göttergeliebter, grüner, heiliger Streifen Land zwischen Weimar und Jena“

Zu Eugen Diederichs 60. Geburtstag, zur Sommersonnenwende und zu einem Sommerfest war Agnes Miegel 1927 nach Jena eingeladen. Für ihre Zeitung „Königsberger Allgemeine“ schrieb sie darüber einen Aufsatz, in dem sie sich auch noch einmal an ihre Pensionatszeit in Weimar als junges Mädchen erinnerte. Diesen Aufsatz schickte sie 1953 an den Enkelsohn Eugen Diederichs, der ihn im Jahr 2004, zum 125. Geburtstag Agnes Miegels, erstmals wieder der Öffentlichkeit zugänglich machte (Ulf Diederichs, S. 44f).

„Sommerfest

Linden, Jasmin und Rosen duften durch die gewitterschwüle Luft. Im Garten flammen erste Feuerlilien, mannshoher Rittersporn schlägt dunkelblaue und lichte Augen auf, überschwenglich ist die Blüte, die Üppigkeit des Lebens auf den Kalkfelsen des Saaletales nach diesem feuchten Frühling. Deutlicher noch als sonst zeigen es die grünen Waldhänge mit den weißen Landhäusern, die bunten Terrassengärten. Die Wiesen breiten um den sanftgeschwungnen glänzenden Fluß die fast süddeutsche Lieblichkeit dieses gesegneten Tals, dem kein Industrieschlot, kein Kalkofen ganz seine holde Schönheit nehmen kann.

O Du schönes Tal, göttergeliebter, grüner, heiliger Streifen Land zwischen Weimar und Jena, über den wie heute die lichten Wolkenschatten, Schatten der Genien gehen ‚wandelnd im Licht,’ segnend und immer noch formend auch ein entgöttertes Geschlecht. Spürbar in einer Form, die eben nicht Form war, sondern gelebtes und ehrfürchtig-begriffenes, eigentlichstes Wesen bei den Staub-Gewordenen, bei denen ich hier lebte, als ich Kind war. Spürbar heute noch in dem jungen Geschlecht, dessen kühles Denken ihr Leuchten erwärmt, ihm die Sehnsucht gibt nach all dem, was der große Zaubermeister ‚edel’ nannte.“ 

Und an anderer Stelle spricht sie das Geburtstagskind und seine Frau selbst an (Ulf Diederichs, S. 30): „… Und Du, Antlitz, das väterlich-gütig ein Menschenalter über meinem Geschick stand, und Du, geliebtes helläugiges Gesicht neben ihm, so verschlungen in mein Leben durch tausend Fäden von Jugendtagen an - ja, nun sind wir die Alten … .“

„Davon erfährt man nie ein Wort“ (1929)

Aus der gleichen Zeit sind Briefe zwischen Börries von Münchhausen und seinem Freund Levin Schücking, bzw. zwischen den Ehefrauen der beiden erhalten. In ihnen kommt auch immer wieder einmal die Sprache auf Agnes Miegel. Dadurch wird das Verhältnis, in dem sie weiterhin zu Börries von Münchhausen stand, deutlich.

Abb. 5: Agnes und Börries auf der Herbsttagung der Dichterakademie in der Akademie der Künste am Pariser Platz 4 in Berlin im Jahr 1933 - v.l.n.r. Rud. Binding, Werner Beumelburg, Hanns Johst, Hans Friedrich Blunck, Agnes Miegel, Boerries von Münchhausen, Erwin Guido Kolbenheyer, Will Vesper (Bildarchiv)

Am 18. Oktober 1926 schrieb Börries (von seiner Wohn-Burg Windischleuba in Thüringen aus) an seinen Freund Levin, der ihm zuvor zu dessen Zweifeln und Skeptizismus hinsichtlich seiner künstlerischen Arbeiten geschrieben hatte  (Schücking, S. 267) : „Liebster Levin, unsere Freundschaft bedarf keines Beweises, wenn Du ihr aber einen geben wolltest, so konnte wohl nichts zarter und stärker sein als dieser liebe Brief. (...) Ja, Du hast gewiß recht mit allem, was Du sagst.“ Und dann schreibt er etwas später unvermittelt weiter: „Agnes Miegel hat mir in meinem ganzen Leben gepredigt: ‚Du zerstörst mit Selbstvorwürfen Dein Leben und Deine Kunst, sei doch, was Du bist, sei doch böse, laß Dich doch gehen, wirf doch die Zügel hin, und Du wirst merken, daß Du nicht fährst, sondern fliegst.‘ “

Münchhausen setzt fort: „Aber man merkt, wenn es im Leben einmal ganz hart auf hart geht (...) erst, wie einsam der Einzelne ist.“

Am 1. März 1929 schreibt Anna von Münchhausen (die Frau von Börries) mit einem Anhauch von Traurigkeit aus Windischleuba an Liese Schücking, die Frau von Levin, über Sorgen bezüglich ihres nun etwa 22-jährigen Sohnes. Er ist ihr ein Trost bei all den Frauen, mit denen sie ihren Ehemann Börries immer wieder teilen muß, und worüber sie sich oft bei ihrer Freundin Liese ausspricht. Und so schreibt sie diesmal dann weiter über ihren Ehemann (Schücking, S. 280):

„Mein Papa schreibt fortgesetzt Aufsätze über Agnes Miegel. Seit er sie nun besucht hat, geht ihm das glatt von der Seele. Weißt Du, sie wird fünfzig - aber der Seelenkontakt ist immer geblieben. Die bin ich nie ganz losgeworden, trotz aller Neuen die da kamen. Und nun ist’s ihm beinahe Ehrensache, daß das auch immer sous entendu so bleibt, wie er zu ihr stand. Und was die so geredet haben, wenn er einen Nachmittag bei ihr sitzt - davon erfährt man nie ein Wort, jedenfalls nie das Richtige, und da er allen Leuten nur zu Liebe und Gefallen redet, wird er ihr nur sagen, was sie hören mag, sonst würde er nicht hingehen. - So ist langsam das Kind, mehr wie sich’s gebührt, meine große Liebe und Hoffnung geworden.“ 

Die allgemeine Enttäuschung der Ehefrau von Börries scheint sich bei ihr fast auch auf Agnes Miegel zu übertragen. Doch eine Woche später schreibt sie (Schücking, S. 283): „Ja, Du hast ja recht, wenn Du mich mahnst, nicht zu viel vom Leben zu verlangen, und den anderen die Brosamlein zu gönnen. (...) Na - Schwamm drüber! (...) Nun ist man begierig, wie Obst und Beeren und Schlingpflanzen diesen Abstecher nach Sibirien überstanden haben.“ Und diese Worte beziehen sich wohl auf eine Geschenk-Sendung an Agnes Miegel in Königsberg zu ihrem 50. Geburtstag: „- Wir feiern, egal, Agnes Miegel. Bössi hat sozusagen silberne Hochzeit mit ihr. Einen ganzen Abend haben wir uns ihre Gedichte vorgelesen. Es sind doch sehr schöne darunter! Nur Bössies Stimme erschallt in allen Zeitungen über sie.“

Kurz hinter Hindenburg (1929/30)

Am 23. Juni 1929 druckt die „Königsberger Allgemeine Zeitung“ das bedeutende Gedicht von Agnes Miegel „Letzte Stunde“ ab. Es handelt von dem Tod eines Soldaten ostpreußischer Herkunft an der Tiroler Front während des Ersten Weltkrieges. Die Zeitung schreibt dazu (Neumann, S. 233): „Die ostpreußische Dichterin weilt augenblicklich in Tirol. Unter dem Eindruck einer Erzählung in Bozen entstand das hier abgedruckte Gedicht. Die Redaktion.“ 

Und wir erfahren (Neumann, S. 11-13): „Ende 1929 veranstaltete die ‚Königsberger Allgemeine Zeitung‘ ein Preisausschreiben mit der Frage nach den sechs bekanntesten lebenden Ostpreußen, Männern oder Frauen. Ausgelobt wurden 3000 RM in bar sowie 200 Trostpreise. Das Ergebnis der Preisfrage gab die Sonntagsausgabe der ‚Königsberger Allgemeinen Zeitung‘ vom 26. Januar 1930 bekannt. Bei insgesamt 10.433 Einsendungen mit je sechs Stimmen erhielten Stimmen:

  • Reichspräsident von Hindenburg   9.742
  • Agnes Miegel                                  9.088

Auf den weiteren Rängen folgen so bekannte Persönlichkeiten wie Emil Hirschfeld aus Allenstein, der Weltrekordmann im Kugelstoßen (7.734), Filmstar Harry Liedtke (5.871), Oberpräsident Siehr (4.219) und der Schauspieler Paul Wegener (4.215). (...) Ab dem Jahre 1930 läßt Agnes Miegel ihre journalistische Mitarbeit bei dieser Zeitung auslaufen.“

1932 oder 1933 schreibt Agnes Miegel in einem Brief an die Schriftstellerin Ruth Schaumann anläßlich von deren Veröffentlichung ihrer Kindheitserinnerungen unter dem Titel „Amei“ (Wagner, S. 79): „Als junges Mädchen bin ich zu einer Hochzeit, es war im Juni 1899, in der kleinen Dir gewiß unbekannten Garnisonsstadt Hagenau (sie liegt nicht weit von Straßburg mit dem herrlichen Münster) im Elsaß gewesen. Unter den Hochzeitsteilnehmern war nun ein junges Paar, ein riesenhaft großer Kavallerieoffizier, dunkel wie ein Araberscheik, seine junge Frau aschblond, reizend, sie stammt aus der Lüneburger Heide, und war in der Hoffnung mit dem zweiten Kind. Beide haben es mir damals so sehr, sehr angetan, daß ich glückselig war, von ihnen zum Tee eingeladen zu sein.“ Agnes Miegel bat um Aufklärung, ob es sich bei diesem Paar um Verwandte der Schriftstellerin handelte. In der Antwort stellte sich dann für Agnes Miegel, die sich nur undeutlich an den Namen Schaumann des Ehepaares hatte erinnern können, heraus, daß die Schriftstellerin selbst die zweite Tochter dieses Ehepaares gewesen ist, über das nun auch in ihren Kindheitserinnerungen berichtet wurde.

Abendlicher Spaziergang in Jena 1932

Immer wieder verbringt Agnes Miegel frohe, unbeschwerte Stunden in Jena bei den Diederichs. Im Advent 1929 schreibt sie ins Gästebuch  (Ulf Diederichs, S. 30f): „Reiner Seelenjungbrunnen. Aber dieses Mal bin ich so gerne bei Euch als käme nie mehr solch gute Zeit.“ Und tatsächlich stirbt gut ein halbes Jahr später ganz überraschend Eugen Diederichs. Der „dem Andenken Eugen Diederichs“ gewidmete Gedichtband Agnes Miegels „Herbstgesang“ erschien dann Ende 1932. Er war benannt nach dem ersten darin enthaltenen Gedicht. Dieses hatte sie am Tag der Beerdigung Eugen Diederichs verfaßt („… Wandernde Jugend, so rank und schlank, / wie rot ist dein Mund! …“).

In das Exemplar für Lulu setzte Agnes Miegel noch handschriftlich ein Gedicht hinein, das bis heute unveröffentlicht geblieben war (Ulf Diederichs, S. 32f). Es beschreibt einen abendlichen Spaziergang in Jena, vorbei am Grab Eugen Diederichs zur Familienvilla der Diederichs: 

Am Abend

Durch die ladenhellen, lärmenden Gassen
Dringt der lachenden Kinder Mummerei.
In der Dämmerung
Schwingen am Stadtturm die Glocken aus.
Langsam wandern wir Zwei
Durchs Johannistor nach Haus. -
Einmal waren wir jung, -
Nun gehen wir gelassen
Heim. Immer leerer werden die Straßen.
Die mit uns gingen
Trinkt Epheuwand und dunkelnder Waldhang auf.
Über den Bergen, die sich verdämmernd schwingen
Steigen die Wintergestirne herauf.
Weiße Pforte schimmert im letzten Licht.
Und wir stehn
Eh sie sich auftut, Hand in Hand.
Wissen einer der andern Gesicht
Wie das eigne gewandt
Auf zu den klaren
Unwandelbaren
Die dort oben die ewigen Bahnen gehen!

Agnes Miegel und der Nationalsozialismus

Agnes Miegel begrüßte den Nationalsozialismus. Während der Zeit des Dritten Reiches war sie eine gefeierte Dichterin. Oft nahm sie mit großer Freude vor allem von der Hitler-Jugend - aber auch von manchen anderen NS-Verbänden - Einladungen zu Dichterlesungen, Gedenkfeiern und Ehrungen an. So schrieb sie auch ein ergreifendes Gedicht auf sozusagen die damalige „Frauenbeauftragte“ der nationalsozialistischen Partei, auf Gertrud Scholtz-Klink, in der sie vor allem deren mütterlichen Sinn betonte, und zwar deren mütterlichen Sinn auch und vor allem gegenüber den Kulturschaffenden.

Aber es gibt nur wenige und erst in den späten 1930er Jahren entstandene Dichtungen, die zeigen, daß die freundliche Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus auch sehr konkret in Dichtung umgesetzt werden konnte. Ein Gesamtbild der Persönlichkeit von Agnes Miegel kann diese Dichtungen natürlich nicht ausklammern. Die Biographie von Anni Piorreck etwa versucht, diesen Werken den künstlerischen Wert abzusprechen. Aber damit liegt sie doch ganz falsch. Der künstlerische Wert bleibt voll erhalten, auch wenn man den Inhalt heute nicht mehr anerkennen kann.

Diese Dichtungen finden sich vor allem in dem im Jahr 1940 erschienen Bändchen „Ostland“. Aber selbst das dieses Bändchen einleitende Gedicht „An den Führer“, das wohl heute sicherlich als das Kompromittierendste empfunden wird, bezeugt noch die ganz eigenwilligen Gedanken von Agnes Miegel, ja auch ihre zweiseitigen Gefühle: erinnert sie doch vor allem an Deutschlands (und Westpreußens) schwere Vergangenheit  vor 1933 und vor 1939.

1940, nach den überraschend schnellen militärischen Siegen über Polen und Frankreich, sahen viele Menschen in Europa, die den langwierigen, opfervollen Ersten Weltkrieg miterlebt hatten, voller Zuversicht auf eine lange, frohe, friedensvolle Periode des Aufbaus und der gedeihlichen Weiterentwicklung in Europa. Gerade wegen dieser schnellen militärischen Entscheidungen, die so viele Menschenleben schonte, war man weithin von tiefer Dankbarkeit gegenüber „dem Führer“ erfüllt  - nicht aus imperialistischen Gelüsten, sondern aus Friedenssehnsucht heraus.

Den eigentlichen Grundgedanken des Gedichtes „An den Führer“, der mit Politik gar nichts zu tun hat, hat Agnes Miegel auch in Gesprächen nach dem Zweiten Weltkrieg noch oft wiederholt. Eine Freundin berichtet (Wagner, S. 125): „Aber nicht nur der eigne Familienkreis, auch die weithin reichende Kette der Vorfahren spielte in ihrer Gedankenwelt eine wichtige Rolle. Wir sprachen davon, daß sie und ich die Letzten von aussterbenden Familien wären. Agnes meinte, unter bestimmten Voraussetzungen könnten in diesen Letzten die Geisteskräfte einer langen Ahnenreihe, aus Urgründen in ihrer Vielfalt aufsteigend, noch einmal aufleben und sie zu besonderen Leistungen aufrufen. Aus diesen Kraftströmen gewirkt zu haben, empfand und erkannte sie als sichtbar gewordene Erfüllung ihres Lebens.“ 

Überhebe sich also nur ja keiner in eilfertigem Übermut, wenn er im folgenden das Gedicht von Agnes Miegel „An den Führer“ liest. Es kann gerade an ihm erkennbar werden, wieviel Idealismus im Jahr 1945 in Deutschland verloren gegangen sein muß, nachdem erkennbar geworden war, auf welche Art von verwerflicher Person dieser Idealismus in den Jahren zuvor fokussiert gewesen war. Das Gedicht behält ganz unabhängig von seinem - nur zum Teil - zeitgebundenen Inhalt einen tiefen künstlerischen Wert. Und die heutige Generation hat genug Abstand zu der damaligen Zeit, daß man diesen Wert auch unbefangen anerkennen kann:

An den Führer

Nicht mit der Jugend
Überschäumendem Jubel erlebt ich das Wunder
Deines Nahns.
Mit dem schweigend ehrfürchtigen Staunen
Leidgeprüften Herzens, geläutert im Opfer,
Das seiner Kindheit Welt in Krieg und Stürmen vergehn sah, -
Und das anders, groß und glühend ergriffen,
Stumm Dich grüßte!

So mit jedem Morgen fühl ich’s aufs neue -
- Wenn in der Tiefe der Nacht, aus der Tiefe des Herzens
Schweres Erinnern stieg, wie Schatten mich ängstend:
Krieg und Aufruhr und grauer Tage Verzweiflung,
Untergangsnot und Schreckbild verkommener Jugend, --
O Befreiung, zu spüren im Lichte der Frühe,
Alles dies ist fern und für immer vergangen!
Fortgewischt wie Tränen vom Antlitz der Witwe
Von Deinen Händen!
Übermächtig
Füllt mich demütiger Dank, daß ich dieses erlebe,
Dir noch dienen kann, dienend den Deutschen
Mit der Gabe, die Gott mir verlieh!
Daß die Meinen
Die gefallnen, geliebten Gefährten der Kindheit,
Daß die Toten, die Dein Kommen ersehnten,
Daß die Ahnen, deren verlassene Heimat
Wiedergekehrt durch Dich,-
  Daß sie alle
Mir in der Seele, mir im Blute noch lebend,
Mit mir Dich segnen!

Nicht der Jugend brausendes Überschäumen
Kann ich Dir geben.
Doch ich liebe das Leben,
Wie nur der es liebt, mit dem alle der Seinen
Fortgehn von Heimat und Volk. Heimkehrend zur Erde,
Draus sie stiegen.
                             Doch dies wäre
Höchste Erfüllung mir und Ehre den Ahnen:
Heilige Fackel, nie mehr weitergereichte,
Dir zu opfern!

Ulf Diederichs, der Agnes Miegel immer verbunden gebliebene Enkelsohn Eugen Diederichs, schreibt im Jahr 2004 (Ulf Diederichs, S. 36): „In den Gratulations-Prachtband zu Hitlers 50. Geburtstag trugen sich Agnes Miegel und auch die Freundinnen Lulu von Strauß und Torney und Ina Seidel mit Gedichten ein. (…) Auch Börries Freiherr von Münchhausen war dabei, auch Helene Voigt-Diederichs und noch so mancher (…), Hans Carossa, Wilhelm von Scholz. Kaum einem anderen hat man das später so verübelt wie Agnes Miegel. Freilich stand sie, nächst Carossa und Weinheber, an sehr exponierter Stelle.“ Im März 1940 wurde um Goebbels erwogen, entweder Agnes Miegel oder Josef Weinheber den Nationalen Buchpreis zu verleihen, Agnes Miegel deshalb, weil - wie es in einem Gutachten hieß - sie „mit Leib und Seele“ hinter den „Entscheidungen der letzten Zeit“ stehen würde (also der Rückkehr Westpreußens an das Deutsche Reich). Dieses Vorhaben wurde aber wieder fallengelassen (Ulf Diederichs, S. 36).

- - - Der Rundfunkautor Martin A. Borrmann (1895-1974), der 1933 auch Dramaturg am Königsberger Schauspielhaus war, berichtet aus der Zeit der beiden ersten Jahre des Dritten Reiches (Wagner, S. 82): „Im April des für uns alle so einprägsamen Jahres 1933 wurde mir neben mancherlei Bedrohung auch ein  Lebensgeschenk zuteil: das uneingeschränkte Vertrauen der Dichterin“ (Agnes Miegel). „Ich war zu ihr, die ich persönlich kaum kannte, in die Luisenallee gegangen, um ihre Unterschrift zu erbitten unter eine Eingabe für den künstlerischen Leiter unseres Ostmarkenrundfunks; dieser war ohne Entschädigung, dazu in besonders tückischer Art und Weise, von Goebbels auf die Straße gesetzt worden. Agnes Miegel, es ist wichtig, das heute zu betonen, unterschrieb sofort. Darüber war ich froh - und wurde es noch mehr, als ich spürte, daß diese Begegnung, bei allem sogleich offen dargelegten Gegensatz unserer Ansichten, der Beginn einer Freundschaft zu werden versprach.

In den folgenden zwei Jahren lud mich die Dichterin fast jede Woche zu sich. Wir sprachen kaum über Literatur, stritten aber stundenlang freundschaftlich über Zeit und Umwelt, die beide trotz äußerem Freudentaumel in unserem Lande immer gefährlicher wurden. So weiß ich wie wohl nur wenige – und vielleicht gerade, weil ich auf der anderen Seite stand - von den Kämpfen, die Agnes Miegel damals in ihrem Innern durchzufechten hatte. Sie erhoffte sich von dem Neuen eine Verjüngung und Erneuerung unseres Volkes, ahnte aber zugleich mit balladenhafter Kraft, was schon damals in den Konzentrationslagern geschah.

Ich erlebte ihre Verzweiflung, als man in der Provinz eine Schule, die bisher den Namen von Käthe Kollwitz trug, nunmehr Agnes-Miegel-Schule nennen wollte. Sie war glücklich über die Begeisterung der Jugend und teilte sie, wußte aber als Dichterin vom schlimmen Ende jeder Nibelungenfahrt. Sie hatte Visionen, oftmals solche schrecklicher Art. (...)

Wer in Agnes Miegel nur heitere Mütterlichkeit und warmherzigen Humor sieht, verkleinert ihr Bild. Gewiß, dies waren ihre Eigenschaften, aber darunter  lagen, gut verborgen, die Wesenszüge einer Seherin. ‚Es ist kein Glück‘, sagte sie einmal bitter, ‚als Kassandra geboren zu sein. In Troja nicht.‘ Und dann las sie mir, nun wieder lachend, den Satz, den ich sprechen wollte, selber vom Mund ab: ‚Und im Dritten Reich schon gar nicht!‘ “ - - - 

Hierzu ist noch folgendes zu bemerken. Der Vortrag ihrer berühmten Ballade „Die Nibelungen“ ist bei fast jeder ihrer öffentlichen Lesungen vom Publikum gewünscht worden. Zu Anfang einer öffentlichen Lesung, die nach der Schlacht von Stalingrad stattfand, bat sie um Verständnis dafür, daß sie diese Ballade nicht mehr öffentlich vortragen könne. Sie hätte sie zum letzten male vor Soldaten gelesen, die in Stalingrad zum Einsatz gekommen waren. -

Zur Entstehung des Reclambüchleins „Das Bernsteinherz“ (im März 1937) (Wagner, S. 60f)

Mit dem letzten Friedens-Flugzeug über den Korridor (1938/39)

Wie hatte Agnes Miegel die Kriegsgefahren im Jahr 1938 und dann den Kriegsausbruch 1939 erlebt? Eine Freundin berichtet (Gertrud Zippel-Fuchs in Wagner, S. 42): „Ich denke an jenen Septembertag des Jahres 1938, als Krieg und Friede auf des Messers Schneide standen. Agnes war den ganzen Nachmittag bei mir, unvergeßliche Stunden der Angst und der Hoffnung, ach, mehr noch der Angst: ‚Wir wollen ja den Korridor in Kauf nehmen, auch weiterhin, wenn nur Friede bleibt, wenn nur das Land gerettet ist.‘ “ An der Frage des Korridors, der Ostpreußen vom übrigen Reich trennte, brach der Zweite Weltkrieg aus. An diesen Worten wird klar deutlich, aus welcher Haltung allein Agnes Miegel auch solche Gedichte wie jenes „An den Führer“ geschrieben haben kann.

Am 9. März 1939 feierte Agnes Miegel ihren 60. Geburtstag. In den „Stimmen der Freunde“, die der Eugen Diederichs Verlag zu diesem Tag herausgab, schrieb Börries von Münchhausen (s. Stimmen d. Freunde): „Und ihr herrlicher Humor - Agnes, so herzlich wie vor wenigen Wochen bei Deinem letzten Besuch in Windischleuba haben wir alle doch seit langem nicht gelacht! Ich kenne wenig Menschen, die so gern lachen, keinen, den ich lieber lachen sehe als Dich! -“

Die letzten Tage und Abende vor Beginn des Zweiten Weltkrieges erlebte Agnes Miegel zusammen mit dem niederdeutschen Schriftsteller Moritz Jahn. Besonders an einen jener Abende erinnerte sie später noch oft. Im Frühjahr 1946, nach der Flucht, schrieb sie aus Dänemark an Moritz Jahn, der ihr aus Göttingen seine tatkräftige Hilfe angeboten hatte (Wagner, S. 93): „Was hab‘ ich Ihnen sonst zu erzählen? Ach, so vieles - aber vielleicht sehen wir uns einmal, sitzen zusammen wie damals auf dem Seesteg in Heiligendamm, ach wäre das schön!“ Moritz Jahn war auch ein verständnisvoller Freund des Wiener Dichters Josef Weinheber gewesen. Er erläutert diesen Satz Agnes Miegels mit dem folgenden Bericht (Wagner, S. 92f):

„Auf eine unserer Begegnungen kam unsere liebe Agnes Miegel in ihren Briefen an mich immer wieder zurück, auf unsere Begegnung in Doberan (Doberaner Dichtertag) im Spätsommer 1939. Ich hatte dort am 19. August den Festvortrag über ‚Niederdeutsche Sprache als Ausdruck niederdeutschen Wesens‘ gehalten. (...) Erst während der Rede war mir der Gedanke gekommen, daß ich so sehr schön den Bogen spannen könnte von meiner eigenen nordwestdeutschen Heimat über die Mitte des norddeutschen Raumes hin bis zu seinem östlichen Grenzland: ‚Ich begann meine Darlegungen mit Glückwünschen (...). Ich möchte sie schließen mit einer Huldigung an die Dichterin, die, nicht minder im plattdeutschen Grunde ihrer preußischen Heimat verwurzelt, die niederdeutsch-nordische Kunstform der Ballade um eine lange Reihe von Kostbarkeiten bereichern durfte, und die uns in ‚Henning Schindekopf‘ das herrliche Bild und Vorbild plattdeutschen Bauernkriegertums schuf, vor dessen Tatkraft und Opfermut die Waffen des feindlichen Ostvolkes klirrend zersplitterten. Sein Wahlspruch gibt, im markigen, volkhaften Laut der Heimat, die schönste Kennzeichnung niederdeutschen Wesens; so soll er auch hier den Schluß bilden. Möchte der niederdeutsche Mensch, möchte auch der niederdeutsche Künstler nach Leistung und Forderung an sich selbst immer ein Recht haben zu dem stolzen Wort: ‚Ök sülvst!‘ ‘

Der vorletzte Satz wollte nichts, als bei den Hörern die Erinnerung an jenes schöne Gedicht wachrufen; erst im Laufe des Nachmittags machten mich Freunde darauf aufmerksam, daß gerade diese Worte in diesem Augenblick eine besondere politische Aktualität gehabt hätten: Das Verhältnis des Reiches zum polnischen Nachbarn wäre sehr kritisch geworden; man erwöge deshalb schon den Plan, Agnes Miegel am Schluß der Tagung mit einem Flugzeug in ihre Heimat zurückzubringen. (...)

Am Abend des letzten Doberaner Tages saß ich noch lange mit Agnes Miegel auf dem Seesteg in Heiligendamm; ein klarer, zu dieser Tageszeit schon herbstlich kühler Mondglanz lag auf der sich nur leise regenden Flut; wir sprachen nur dann und wann ein Wort - es war soviel geredet worden in all den Tagen, und ein Abend am Meer war uns beiden ein seltenes Geschenk, das nicht zerredet werden durfte. Zudem: was würde nun morgen sein, morgen ... ‚Ich war sicher, daß ich die Freunde nie wiedersehen würde‘, schrieb mir die Freundin nach langen Jahren; sie hatte die geliebte Heimat noch erreichen können, mit dem letzten Flugzeug, das den Korridor überqueren konnte, ohne beschossen zu werden.“

„Das kann doch nicht sein!“ (1940-1944)

Moritz Jahn berichtet weiter (Wagner, S. 42): „Immer wieder war die Angst um Volk und Land in unseren Gesprächen, blieb es auch nach den ersten trügerischen Siegesnachrichten, nachdem 1939 wirklich der Krieg ausgebrochen, und sie wurde im Lauf der nächsten Jahre immer stärker. Agnes kannte doch sonst keine Angst. (...) Es lag etwas Lähmendes in dieser Angst, etwas nicht Greifbares, zum Teil schon Geahntes, was immer drohender sich breit machte. Miteinander wenigstens konnten wir davon sprechen. Ich sehe noch die Bestürzung, ja das Entsetzen in ihren Augen, als sie mir kurz eine Äußerung wiedergab, die so ganz nebenbei, aber selbstverständlich jemand über die erhoffte Ausdehnung Deutschlands nach Osten gemacht hatte. ‚Was für eine Hybris!‘ sagte sie, ‚wohin soll das noch führen!‘ “ 

Abb. 6: Agnes Miegel im Jahr 1944 (Bildarchiv Ostpreußen)

Und (Wagner, S. 42): „Es war im September 1944, nach der nahezu vollständigen Zerstörung Königsbergs“ (durch Luftangriffe). „Wir hatten uns in Neukuhren verabredet. (...) Wir gingen hoch oben die Steilküste entlang, in Richtung Rauschen. Es war ein unirdisch klarer Septembertag. All die Schönheit ringsum legte sich uns aufs Herz.

‚Es kann doch nicht sein‘ - das klang wie ein leiser Aufschrei, ich wußte gleich, was sie meinte. ‚Nein, es kann nicht sein‘, aber wir wußten beide, daß es nur verzweifelter Schmerz um unser Land war, der uns so sprechen ließ, ahnten beide, daß wir zum letzten Mal unsere See zusammen sahen.“ 

Andere Königsberger berichten (Wagner, S. 59): „Natürlich waren wir auch immer unter den Hörern, wenn sie“ (Agnes Miegel) „öffentlich sprach, zuletzt im Dezember 1944 im Neuen Schauspielhaus, da die anderen großen Säle schon alle durch Bomben zerstört waren.

‚... es forderte zum Fackeltanze dich,
Gekrönte Vaterstadt, der grimme Tod ...‘

Wie eine Seherin, wie eine der großen Sibyllen mit dem Blick, der über die Gegenwart hinausgreift, so sprach Agnes Miegel diese Verse aus dem Erleben jener furchtbaren Bombenangriffe - abgeklärt, ruhig, scheinbar über allen Schmerz erhaben, während uns die Tränen über die Wangen liefen.“

Agnes Miegel floh mit zehntausend anderen Königsbergern 1945 über die Ostsee nach Dänemark.

„Heute kommt kein Hall mehr über die Grenze“

Sie weilte nach der Flucht lange Zeit unter ärmlichen Verhältnissen in einem Flüchtlingslager in Dänemark.

Abb. 7: Agnes Miegel in Oxböl, Dänemark, 1945/46 (Bildarchiv Ostpreußen)

Börries von Münchhausen, mit dem sie lebenslang über so zwiespältige Gefühle hinweg verbunden blieb, und der selbst äußert vielschichtig und emotional schwankend war, nahm sich am 16. März 1945 in Windischleuba in Thüringen das Leben. Es war das noch einen Monat, bevor am 15. April 1945 die westlichen Alliierten in Altenburg einrückten. Seine Frau war kurz zuvor an einem Schlaganfall gestorben, sein einziger Sohn schon Jahre zuvor bei einem Autounfall. Noch kurz vor seinem Lebensende hatte er große Zweifel an dem eigentlichen Wert seines dichterischen Schaffens geäußert. Kurz zuvor schrieb er noch das folgende Gedicht über seine Mutter, mit der ja auch Agnes Miegel so gut bekannt gewesen war:

Meiner toten Mutter

Gott hat es gnädig mit dir gemeint,
als er dich zu sich genommen,
die Sonne, die heute auf Deutschland scheint,
ist aus der Hölle gekommen!
Du konntest noch Märchen sammeln im Land,
von Lippen, welk und befangen,
du hast noch Lieder des Volkes gekannt,
die sie abends am Thingplatz sangen.
Du konntest als gütige Herrin noch
In die Hütten der Armen gehen.
Du wußtest beim Gruß im Dorf doch:
Sie freuten sich, dich zu sehen.
Hast Uhland und Grimm noch die Hand gereicht
für das Deutschtum, das sie uns erworben
und als der Tod dir die Wange erbleicht, -
du bist noch in Deutschland gestorben!

Wir aber leben - was leben so heißt! -
in den Trümmern, die Reich einst geheißen,
und wer die Zähne zusammenbeißt,
der hat auch noch was zu beißen!
Und wer auf dem Friedhof die Namen liest,
der kann auch noch Deutsche erspähen,
und wer recht fest die Augen schließt,
der kann auch noch Deutschland sehen!
Ja, Gott hat es gnädig mit dir gemeint,
als er deine Seele umfangen,
die Tränen um dich waren leichter geweint,
als die, denen du entgangen.

Agnes Miegel zog nach Nenndorf in Niedersachsen, nahe dem Münchhausen-Gut Apelern. Die Heimat Ostpreußen blieb das unentwegte Thema ihrer Dichtungen und vieler, vieler Gespräche mit Landsleuten (Ilse Reicke-von Hülsen, in: Wagner, S. 63f): „So sprach sie einmal von den alten Ordensburgen in Ostpreußen: ‚Die Steine wurden zweimal gebrannt, das Ziegenmehl zweimal mit Ochsenblut gemischt, das gab den Purpurton und große Härte. Der Mörtel wurde mit Buttermilch angerührt ... Heut kommt kein Hall mehr herüber über die Grenze‘, fügte sie hinzu. ‚Hinübergehen ist der Tod. Dagegen ist Ninive gar nichts ...‘ “ Ihre damalige Gesprächspartnerin sagt über solche Äußerungen (Ilse Reicke-von Hülsen, in: Wagner, S. 64): „Der große Odem der Geschichte, der aus ihren Balladen weht, packt auch im Gespräch den Besucher wie eine plötzliche Bö.“ 

Am 12. Februar 1949 konnte sie ihren Freunden ihre „Entbräunung“, wie sie das nannte, also ihre „Entnazifizierung“ mitteilen. Ina Seidel hatte in der Eingabe an die Spruchkammer zu Gunsten ihrer Freundin die richtigen Worte gefunden  (Ulf Diederichs, S. 40): „Nie hat sie daran gedacht, Propaganda für die Partei zu machen, wenn ihre Liebe zu Deutschland und der engeren Heimat sie zu einer phantastisch idealisierenden Anschauung der Persönlichkeit Hitlers hinriß.“ Im Urteil hieß es (Ulf Diederichs, S. 40): „Sowohl Motive wie Handlungen haben niemals NS-Geist verraten.“ 

Wir erfahren (Wagner, S. 100): „Im Dezember 1955 brachte die Monatsschrift Merian ein Sonderheft über Königsberg, und darin ein Erinnerungsblatt von Agnes Miegel, überschrieben Mein Dom. In einem Begleitbrief an die Schriftleitung sagte sie dazu, es sei ihr nicht gelungen, etwas nur objektiv Historisches zu schreiben. ‚Zu stark‘, schrieb sie, ‚ist meine persönliche Bindung. Und ich habe in meinem langen Leben gefunden, daß eine der dümmsten Lügen die vom Vergessen ist. ‚Zeit bringt Rosen‘ konnte bloß eine Spießerseele sagen über ihre kleinen Seelenwehwehs. Die Heimat zu verlieren, sie vernichtet zu sehen, geschändet, verwandelt, ferne alt zu werden, das eigene Volk zerstreut - was das bedeutet, wußten die alten Propheten, wußten Homer und Vergil.‘ “

1956 starb Lulu in Jena, wo sie verblieben war, während ihre Stiefkinder den Verlag in Westdeutschland weiterführten und auch das Werk Agnes Miegels betreuten, ihre Gesammelten Werke herausgaben.

Die künstlerische Deutung der Stadt Frankfurt am Main

Agnes Miegel beschäftigte sich - noch ganz aufgeschlossen für alles Neue - mit vielen Zeitfragen und künstlerischen Fragen. So schreibt sie 1959 in einem Brief  (Wagner, S. 68): „Ich war in einem Neubau bei einem jungen Ehepaar: sehr schlicht, sehr leer, aber doch wohl das Gegebene, wenn diese Schlichtheit von einem tiefen Allgefühl beseelt wird - alles Symbol des Höheren wird - sonst bleibt es Nüchternheit, die ins Triviale, ins Ärmliche absinkt.“ Wie greift die - noch in biedermeierlicher Bürgerlichkeit Aufgewachsene so vorurteilslos-aufgeschlossen, schnell und kühn aus einer einfachen Alltagsbeobachtung heraus in den großen Zeitenverlauf, wie gibt sie in wenigen Worten eine tief betroffen machende Deutung, ja: letztlich des seelischen Verfalls der Kulturvölker des Abendlandes (und der Wege des - möglicherweise - in ihm beschlossenen Wiederaufstiegs derselben).

Und (Wagner, S. 84): „Sie hatte viel gelesen und war viel gereist, und es war herrlich, sie davon erzählen zu hören. Ich erinnere mich noch deutlich daran, wie sie bei Professor Ziesemer von ihrem geliebten Frankfurt sprach, von Hölderlin und Diotima, und wenn ich später durch Frankfurt kam und am Mainufer stand, fiel mir ihre künstlerische Deutung dieser Stadt ein.“ Wie also dem „göttergeliebten, grünen, heiligen Streifen Land zwischen Weimar und Jena“ stand sie auch der Stadt Frankfurt mit großer Ehrfurcht gegenüber. Auch heute noch kann man in Frankfurt Stätten des Lebens und Dichtens von Friedrich Hölderlin aufsuchen. Heute aber braucht man schon viel Phantasie, um sich das alte Frankfurt und die früheren örtlichen Gegebenheiten zu rekonstruieren. - Und kein Museum, kein Gedenkstein, keine Erinnerungstafel hilft einem dabei, soweit es dabei um die Persönlichkeiten von Friedrich Hölderlin und „Diotima“ geht. (Diese Zeilen wurden 2002 geschrieben.)

Wie ist es da um so bemerkenswerter, daß Agnes Miegel in ihrer eigenen künstlerischen Deutung der  Stadt Frankfurt nicht an erster Stelle der (zit. n. Wagner, S. 115) „Sehnsucht nach all dem, was der große Zaubermeister ‚edel’ nannte,“ gedenkt, sondern der Liebe zwischen Diotima und Hölderlin. Das Werk und Leben Hölderlins scheint ihr, was Frankfurt am Main betrifft, im Vordergrund zu stehen. Dies ist auch heute noch, im Jahr 2002, eine sehr fortschrittliche Auffassung, zu der sich Frankfurt selbst - zumindest seit 1945 - nie bekannt hat.

- Und wie behielt sie immer sich ihr Herz für die Jugend! So wird ganz unmittelbar frisch berichtet (Wagner, S. 141): „Ich fahre“ (in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg) „mit ihr in Hannover in der Straßenbahn. Als wir zum Ausgang gehen, sehe ich, wie sie sich zu einem jungen Paar hinunterbeugt und etwas sagt. Vielleicht Ostpreußen, die sie am Dialekt erkannt hat? An der Tür wendet sie sich noch einmal um und nickt den beiden zu. Draußen berichtet sie: ‚Ich habe den beiden gesagt, sie sollen sich ein Los nehmen!‘ – ‚Ein Lotterielos?‘, frage ich erstaunt. – ‚Nun ja‘, meint sie, ‚ich hatte doch vorher gehört, wie sie zu ihm gesagt hat: Du, ich hab‘ heute nacht von sehr viel Geld geträumt ...‘ “  

Über den Ausklang der Feier ihres 80. Geburtstages spät am Abend nach dem Ende aller offiziellen Feierlichkeiten - und schon während des Aufbruchs - wird berichtet (Wagner, S. 141): „Aber in der großen Veranda standen im Halbkreis vor Agnes Miegel wohl noch etwa fünfzig Menschen, viel jugendliche, und sangen von Muskaten und braun‘ Nägelein. Und immer, wenn bei einer neuen Strophe die Jugend den Anfang nicht wußte, fiel Agnes als erste ein. Als das Lied schließlich zu Ende war, drehte Agnes sich zur Tür: ‚Jetzt muß ich aber gehen, auf Wiedersehen!‘ “ 

Am Sterbebett (1964)

Eugen Diederichs, den schon 1930 gestorbenen bedeutenden deutschen Verleger,  hatte Agnes Miegel sehr geschätzt, um so mehr, nachdem er seit 1916 mit ihrer engen Freundin Lulu von Strauß und Torney verheiratet war. Sein Sohn Niels Diederichs schreibt, wie er im Jahr 1964 am Sterbebett von Agnes Miegel weilte (Wagner, S. 105):

„Dann sprach sie davon, daß sie sich nun bald ‚zu den Vätern versammeln‘ werde. Es schien mir, daß sie bei diesen Worten an Gott-Vater wie auch an ihren eigenen Vater dachte - und schon brachte sie das Gespräch auf meinen Vater Eugen, dem sie so manches verdanke und den sie in seiner groß angelegten Natur immer bewundert habe. Als er im September 1930 in Jena starb, da war ganz unmittelbar das ihm gewidmete Gedicht Herbstgesang entstanden. Mit den Worten vom ‚Vater Diederichs‘ war auch ein Gedenken an ihre alte Lebensfreundin Lulu von Strauß und Torney verbunden, ohne daß ihr Name besonders erwähnt wurde. Es gibt Dinge, die lassen sich auch ohne Worte sagen. ... Ein stiller Kuß zum Abschied und ein langer Blick aus den tiefen, traumhaften Augen. Zu einem Winken mit der Hand, wie sie es so oft beim Fortgang an ihrer eigenen Haustür getan hatte, langte die Kraft nicht mehr.“ - - -

Der Diederichs-Verlag, vor allem auch Angehörige der Familie Diederichs selbst, betreuen noch heute - und stellen neu zusammen - wertvolle Ausgaben der Werke von Agnes Miegel. (.., ..) Ulf Diederichs, der „erstgeborene Enkel von Eugen Diederichs“, wie ihn Agnes Miegel nannte (Ulf, S. 46), schreibt 2004 (Ulf, S. 43): „daß  mir seit Jenaer Kindertagen Agnes Miegel wie selbstverständlich lieb und vertraut war“. Er schreibt über seinen Vater Niels (Ulf, S. 42): „In der Tat hat es für meinen Vater ein hohes Glück bedeutet, ihr Werk zu betreuen und zu dokumentieren, ‚in sozusagen vererbter Freundschaft’. Er hat sie intensiv teilnehmend erlebt, vornehm und großzügig, ‚frei von allen kleinlichen Erwägungen’; in all den Jahren habe es nie Differenzen gegeben.“ Und weiter schreibt Ulf Diederichs wie er (Ulf, S. 46) „für sie posthum zu ihrem Verleger in der dritten Familiengeneration wurde. Dank Anni Piorreck, meiner Mutter Inge Diederichs und dank der Mitstreiterin Christa Hinze gelang es unserem Trupp, immer neue kleine Miegeleien herauszubringen.“ Die Durchsicht des Familien- und Verlagsarchives, das inzwischen größtenteils an das Literaturarchiv in Marbach abgegeben wurde, brachte Ulf Diederichs die Erkenntnis (Ulf, S. 6): „Manche Sachverhalte, so wurde mir klar, sind noch unerforscht, manches Sprachgebilde noch kaum erschlossen, und auch das Leben Agnes Miegels hält immer noch Überraschendes und Unbekanntes bereit.“

Die intuitive Begabung von Agnes Miegel

Die Schriftstellerin Ina Seidel (1885-1974) ist wohl unter den langjährigen Freundinnen Agnes Miegels diejenige, die den künstlerischen Kern ihrer Persönlichkeit in der Deutung am anschaulichsten formuliert hat. Eine weitere Freundin Agnes Miegels berichtet hierüber  (Wagner, S. 124): „In diesen stillen Stunden vertraute sie“ (Agnes Miegel) „mir manches an, was sie im Bereiche des Zweiten Gesichtes erlebte. Es steht mir nicht zu, Offenbarungen so besonderer Art preiszugeben. (...) Einmal fragte ich sie, ob all dieses seltsame Erleben ganz der Verborgenheit und damit der Verlorenheit anheimfallen solle, worauf sie antwortete: ‚Ich habe alles in die Hände von Ina Seidel niedergelegt.‘

Sie schwieg versonnen, und ihr Blick war in weite Fernen entrückt. Ich fühlte es: das war ein großes Vermächtnis an eine sehr geliebte Freundin, und ganz nach den Bestimmungen, die sie getroffen, würde es von dorther einmal in Erscheinung treten oder verborgen bleiben.“

Ina Seidel hatte Agnes Miegel mit 27 Jahren im Jahr 1912 kennengelernt. Sie hatte schon kurz nach diesem Kennenlernen in einem Gedicht über ihre „Erste Begegnung“ geschrieben (Stimmen 1939):

(...)
Ihre Augen sahn hinter Tod und Grab
Und kannten nicht Raum und Zeit.
Ich fuhr an ihren Worten hinab
In den Brunnen der Ewigkeit.
(...)

Am 3. Januar 1914 schrieb Agnes Miegel an ihre Freundin Lulu (zit. n. Inge Diederichs, S. 266): „Da will ich dir noch sagen, daß ich Ina Seidel sehr mag, trotzdem mir diese Art übersensitiv-gute Naturen sonst gar nicht liegt, ich bin zu derb und heftig dafür, aber sie hat so was unendlich Rührendes, ich suche immer in ihrer Gegenwart ‚gut‘ zu sein, wie bei einem kranken Kind, sie hat so wunderbar klare Augen, wie ein guter Geist, ich muß mich immer wundern, daß sie einen wirklichen Mann und ein wirkliches Kind hat, ich komme mir daneben so erdenklebend vor.“

Wohl entsprechend dem obengenannten Vermächtnis verglich Ina Seidel nach dem Tod von Agnes Miegel dieselbe mit der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff. - Im Jahr 1959 hatte Agnes Miegel sogar noch einen langen, leuchtenden Herbsttag lang Gelegenheit gehabt, den schriftlichen Nachlaß von Annette von Droste-Hülshoff einzusehen  (Wagner, S. 119): „Wie sie versunken am Fenster saß, Blatt um Blatt umwendete, und dann wieder den Blick in die stille, von Abendsonne durchleuchtete Landschaft versenkte.“ Beim Abschied sagte sie: „Ich habe mich heute vollgesogen wie eine Biene ...“ - Und Ina Seidel berichtet nun: „Beide sind als Dichterinnen im weitesten und höchsten Sinn zu betrachten, nicht allein, was die schöpferische Imagination und die gestaltende Sprachgewalt betrifft, sondern auch im Hinblick auf eine seherische Gabe, die in der ihnen eigenen Form häufiger Frauen als Männern verliehen zu sein scheint, aber nur selten in Verbindung mit hochgradig dichterischer Veranlagung auftritt. Es ist die geheimnisvolle Gabe, die als ‚zweites Gesicht‘ bezeichnet wird, und die im Bereich der Literaturgeschichte kaum nachweisbar ist. (...)

Was in dieses Gebiet hineingehört: Vorahnungen, Wahrträume, Empfänglichkeit für Gedankenübertragung und Fernwirkungen, auch für Stimmen und Geräusche, denen mit physikalischen Erklärungen nicht beizukommen ist; ebenso die Fähigkeit, Erscheinungen, die den meisten Menschen verborgen bleiben, optisch wahrzunehmen - kurz, alles, was über die fünf Sinne und den ‚Verstand der Verständigen‘ hinausgeht, wirkt sich dort, wo es bei durchschnittlicher oder mangelnder geistiger Begabung auftritt, meist als zwiespältig oder als Belastung schlechthin aus, da es das innere Gleichgewicht der damit Stigmatisierten stört.“ 

Mit diesen Worten ist auf eine große Zahl von Erscheinungen in der Kultur- und Religionsgeschichte der Völker angespielt, aufgrund derer sich etwa religiöse Menschen Selbsttäuschungen hingaben und -geben, und aufgrund derer „Priester“ und sonstige Personen aller Facetten danach strebten, unter Vorspiegelung angeblicher Kontakte zum „Übersinnlichen“ Macht zu gewinnen über andere, in ihrer Denk- und Urteilskraft geschwächte Menschen.

Die „Geradheit und Klarheit“ ihres „nüchternen Denkens“

Ina Seidel schreibt dann aber weiter und versucht dabei sicherlich, die eigenen Gedanken von Agnes Miegel zusammenzufassen (zit. n. Wagner, S. 13): „Wenn aber solche Fähigkeiten in Verbindung mit hohem geistigen Niveau auftreten und von ihrem Träger ständig kontrolliert werden - wenn dann noch überdurchschnittliche künstlerische Gestaltungskraft hinzukommt, die ausgleichend und positiv den Gefahren einer einseitigen und passiven medialen oder somnambulen Veranlagung entgegenwirkt, da ist die Voraussetzung gegeben, daß der Kreis der inneren Schau sich über das sinnenhaft Faßbare erweitert, daß die Imagination - das bildhafte Sehen - aufs höchste gesteigert wird. (...)

Schon seit unserer ersten“ (brieflichen) „Begegnung, 1911, hatten Gegenstände dieser Art im Mittelpunkt unserer Gespräche und unseres Briefwechsels gestanden. (...) Wie Agnes selbst darüber dachte, geht aus einem ihrer Briefe aus dem Jahr 1915 hervor, in dem sie sich zunächst für unfähig erklärt, einen Roman zu schreiben, und dann fortfährt:

‚Manche Leute würden lachen, wenn ich sage, ich habe keine Phantasie – aber es ist so. Meine Träume und Gedichte sind durchaus nicht Phantasie, sind das Gegenteil, eine Art medialer Kraft, die mich erfüllt wie ein Gefäß und gerade durch die Geradheit und Klarheit meines nüchternen und in diesen Dingen geschulten Denkens besonders gut ausgedrückt wird.‘

Daß sie selbst hier, in diesem Zusammenhang mit ihrer Gabe, von der ‚Geradheit und Klarheit meines nüchternen Denkens‘ spricht, offenbart, wie ihre Beziehung zum Übersinnlichen nicht allein durch ihre dichterische Gestaltungskraft im Gleichgewicht gehalten wurde, sondern wie darüber hinaus dieses Zusammenspiel geistiger Kräfte durch einen unbeirrbaren Blick für die Realität des sie umgebenden Lebens mit Einschluß der eigenen Person kontrolliert wurde. Dieser Wirklichkeitssinn ging, was ihre Menschenkenntnis und ihre Beurteilung menschlicher Zustände betrifft, so weit, daß er sich gelegentlich in unbarmherziger Schärfe auswirkte und jedenfalls damals Illusionen nicht zuließ, die sich zuweilen mit aggressiver Bitterkeit gegen sie selbst wandte oder sich in Resignation äußerte. Gerade dieser unerbittliche Realismus aber schien mir zu beweisen, daß auch hinsichtlich ihrer Erlebnisse der ‚anderen Seite‘ - ihrer Visionen, Gesichte und Träume - Selbsttäuschung ausgeschlossen war.“ Auch dem Autor dieser Zeilen scheint gerade diese „aggressive Bitterkeit gegen sich selbst“ ein deutlicher Prüfstein für den nüchternen Realitätssinn von Agnes Miegel zu sein. Für diese „aggressiven Bitterkeit gegen sich selbst“ sollten deshalb Beispiele gebracht werden. Und: Nicht zuletzt ihre falsche Einschätzung des Nationalsozialismus macht deutlich, daß intuitive Begabung keineswegs - sozusagen ganz selbstverständlich - vor weitreichenden Irrtümern behütet.

Ina Seidel weiter (zit. n. Wagner, S. 15f): „Wenn sie von ihrer ‚Gabe‘ sprach, meinte sie nie ihre Kunst, immer ausschließlich ihre Gabe der Träume und Gesichte, die sie als eine Begnadung, ein Charisma, eine ihr zuteil gewordene Einweihung in Randgebiete der großen Geheimnisse betrachtete. (...) Ebensowenig läßt sich bezweifeln, daß eine Genialität dieser Art die damit Begnadeten nicht zu Glückskindern im landläufigen Sinne macht. Sie sind leidensfähiger als der Durchschnitt ihrer Zeitgenossen, sie sind im rein Menschlichen immer wieder Prüfungen unterworfen, die zu bestehen Opfer und Entsagung erfordert, sie sind wie alle Menschen, und vielleicht in noch stärkerem Ausmaß, Versuchungen und Irrtümern ausgesetzt, und dem allen standzuhalten und es zu überwinden, erfordert einen Charakter, der die Vielfalt der sie auszeichnenden Gaben zugleich kontrapunktlich in Einklang bringt. Wo es, wie bei Agnes Miegel, zu diesem Einklang der künstlerischen und menschlichen Persönlichkeit gekommen ist, zu jener von ihr ausstrahlenden Harmonie der Versöhnung mit dem Geschick, die nur in aller Stille von ‚einer Seele, die gearbeitet hat‘, errungen werden kann, da stehen wir in Ehrfurcht vor dem Wunder einer wahrhaft erfüllten Berufung.“

Die „Aggressive Bitterkeit gegen sich selbst“

Die hier genannte „aggressive Bitterkeit gegen sich selbst“ ist an mancherlei Stellen in Berichten über ihr Leben und aus manchen ihrer Briefe ablesbar. Und gerade sie ist wohl eines der besten Zeugnisse dafür, daß hier tatsächlich ein Mensch immer wieder bei der Rückkehr von einem Flug seiner Seele ins „Jenseits“ (von Raum und Zeit - wie das von der Philosophie benannt wird) in den vormaligen „Seelenkerker“ in „aggressiver Bitterkeit gegen sich selbst“ Mauerstücke dieses Seelenkerkers wegzureißen drängte und die Fenster des Kerkers auch wirklich „aggressiv“ (und nicht nur „bürgerlich lahm“) zu erweitern suchte.

Agnes Miegel war sich bewußt, daß diese „Aggressivität gegen sich selbst“ nicht so weit gehen durfte, das eigene Licht gegenüber anderen, allzu „bürgerlichen“ Menschen unter den Scheffel zu stellen und dadurch allzu kleingläubig zu werden. Dies scheint gerade gegenüber ihrer großen, enttäuschenden Jugendliebe Börries von Münchhausen immer wieder Gegenstand des Gespräches gewesen zu sein (s. o.).

Wenn wir nach den in diesen Aufsätzen gebrachten Lebenszeugnissen von und über Agnes Miegel wieder in ihr erzählerisches Werk und in ihre Dichtungen schauen, ist uns vielleicht die Möglichkeit gegeben, vieles davon noch besser als zuvor in seinen tieferen Wurzeln zu verstehen.

Dann werden uns vielleicht auch die gelungene Lebensgestaltung und das Werk Agnes Miegels eine Ermutigung zur eigenen Entscheidung im eigenen Leben darstellen.

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Benutzte Literatur:

  1. Miegel, Agnes: Spaziergänge einer Ostpreußin. Feuilletons aus den zwanziger Jahren. Hrsg. v. A. Piorreck. Eugen Diederichs Verlag, Köln 1985
  2. Miegel, Agnes: Wie ich zu meiner Heimat stehe. Ihre Beiträge in der „Königsberger Allgemeinen Zeitung“ (1926-1932). Hrsg. v. Helga und Manfred Neumann. Verlag Siegfried Bublies, Schnellbach 2000
  3. Miegel, Agnes: Gedichte. J.G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger (14. und 15. Tsd.) Stuttgart und Berlin 1927
  4. Miegel, Agnes: Herbstgesang. Neue Gedichte. Eugen Diederichs Verlag (9. - 18. Tsd.) Jena 1933
  5. Miegel, Agnes: Geschichten aus Alt-Preußen. Eugen Diederichs Verlag, Jena 1942 (1. Aufl. 1934) [enthält die Erzählungen „Landsleute“, „Die Fahrt der sieben Ordensbrüder“, „Engelkes Buße“, „Der Geburtstag“]
  6. Miegel, Agnes: Gesammelte Gedichte. Eugen Diederichs Verlag, (21.-25. Tsd.) Jena 1940 (1. Aufl.: 1936)
  7. Miegel, Agnes: Werden und Werk. Mit Beiträgen von Prof. Dr. Karl Plenzat. Hermann Eichblatt Verlag, Leipzig 1938 [„Durch Dichtung zum Dichten“, Bildnisse von 1905 u. 1938]
  8. Miegel, Agnes: Ostland. Gedichte. Eugen Diederichs Verlag, Jena 1940 [enthält Gedichte wie: „An den Führer“, „Hymne an Ostpreußen“ (1937), „Sonnwendreigen“ (Danzig 1939), „An Deutschlands Jugend“ (Herbst 1939)]
  9. Miegel, Agnes: Im Ostwind. Erzählungen. Eugen Diederichs Verlag, Jena 1940 [enthält die Erzählung „Lotte“]
  10. Miegel, Agnes: Und die geduldige Demut der treuesten Freunde ... Nächtliche Stunde mit Büchern. Verlag Wilhelm Langewiesche-Brandt, Ebenhausen bei München 1941
  11. Miegel, Agnes: Mein Bernsteinland und meine Stadt. (Mit 32 Farbtafeln.) Gräfe und Unzer Verlag, Königsberg/Pr. 1944 [eine große, lange, wenig bekannte Versdichtung]
  12. Miegel, Agnes: Gedichte und Prosa. Auswahl von Inge Diederichs. Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf, Köln 1977 [darin auch Briefe A. M.s]
  13. Miegel, Agnes: Gedichte aus dem Nachlaß. Hrsg. v. A. Piorreck. Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf, Köln 1979
  14. Miegel, Agnes: Es war ein Land. Gedichte und Geschichten aus Ostpreußen. (Redaktion: Ulf Diederichs und Christa Hinze) Eugen Diederichs Verlag, München 1983 (3. Aufl.: 1988)
  15. Agnes Miegel. Stimmen der Freunde zum 60. Geburtstage der Dichterin 9. März 1939. Jahresgabe der Agnes-Miegel-Gesellschaft, Bad Nenndorf 1984 (Eine Auswahl aus dem gleichnamigen Sonderdruck: Eugen Diederichs Verlag, Jena 1939)
  16. Wagner, Ruth Maria (Hrsg.): Leben, was war ich dir gut. Agnes Miegel zum Gedächtnis. Stimmen der Freundschaft. [Ostpreußisches Mosaik, Band X], Verlag Gerhard Rautenberg, Leer/Ostfriesland o. J. (Unveränd. Nachdruck der gleichnam. Ausgabe: Verlag Gräfe und Unzer, München 1965)
  17. Piorreck. Anni: Agnes Miegel. Ihr Leben und ihre Dichtung. Eugen Diederichs Verlag, Korrigierte Neuauflage, München 1990 (1. Aufl.: 1967)
  18. Seidel, Ina: Lebensbericht 1885-1923. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1970
  19. Starbatty, Ursula (Bearbeiterin): Begegnungen mit Agnes Miegel. Jahresgabe 1989/90 der Agnes-Miegel-Gesellschaft, Bad Nenndorf 1989
  20. Poschmann, Brigitte: Agnes Miegel und die Familie Münchhausen. Jahresgabe der Agnes-Miegel-Gesellschaft. Bad Nenndorf 1992
  21. Schücking, Beate E. (Hrsg.): „Deine Augen über jedem Verse, den ich schrieb“. Börries von Münchhausen - Levin Schücking - Briefwechsel 1897-1945. Igel Verlag Literatur, Oldenburg 2001
  22. Diederichs, Ulf: Agnes Miegel, Lulu von Strauß und Torney und das Haus Diederichs. Die Geschichte einer lebenslangen Freundschaft. Jahresgabe 2005 der Agnes-Miegel-Gesellschaft. Überarbeiteter Festvortrag zu Agnes Miegels 125. Geburtstag, gehalten am 6. März 2004 in Bad Nenndorf

Sonntag, 19. Januar 2025

Eine "große Liebende in Schmerz, Seligkeit und Hingabe ..."

In unserem jüngsten Video (Yt) und in dem dazu gehörigen Blogartikel (Stg25) ist auf die frühe Liebeserfahrung der Dichterin Agnes Miegel (1879-1964) Bezug genommen worden und auf ihre bis ans Lebensende frische, unverbrauchte Schaffenskraft. Dazu hat der Verfasser dieser Zeilen schon 2002 einen Aufsatz verfaßt, der 2006 ergänzt wurde, und der bislang noch nie veröffentlicht worden ist. Er soll hier erstmals in leicht überarbeiteter Form zugänglich gemacht werden. Voran gestellt seien die beiden Endzeilen eines Gedichtes von Agnes Miegel aus dem Jahr 1903 (s. FüK21):

"Ich weiß, daß der Herr meine Sünden vergibt,
Denn ich liebte, wie nur eine Stuart liebt!"


Abb. 1: Agnes Miegel, 1902 (Bildarchiv Ostpreußen)

Im Jahr 1936 brachte die Dichterin Agnes Miegel eine Ausgabe „Gesammelte Gedichte“ heraus. Die Abfolge der darin zusammen gestellten Dichtungen kann wie eine Lebensbeschreibung der Dichterin gelesen werden. In der ungefähren Abfolge, in der „Lebensthemen“ im Leben der Dichterin selbst bedeutend geworden waren und dann wieder abgeklungen sind, klingen auch in dieser Ausgabe abschnittsweise jeweilige Lebensthemen in Gedichtform an.

„Aggressive Bitterkeit gegen sich selbst“

Das Leben Agnes Miegels (1879-1964) - Neue Zeugnisse und Sichtweisen

Am Anfang stehen - wie auch ungefähr in ihrem Erwachsenenleben - die berühmten Balladen Agnes Miegels, die lange Zeit in jedes deutsche Schulbuch gehörten. Mit diesen war sie um 1900 herum bekannt geworden (S. 3-72). Als solche war sie bekannt geworden zusammen mit zwei ihrer bedeutendsten, lebenslangen Freunde, nämlich zusammen mit den beiden Balladendichtern Börries von Münchhausen (1874-1945) und Lulu von Strauß und Torney (1873-1956). Unter anderem wird in diesen Balladen die tiefe Grausamkeit der Kriemhild der Nibelungen-Sage dichterisch neu gefaßt. Zugleich auch der Schmerz der Kriemhild über ihre eigene Grausamkeit. Schon die Zeitgenossen haben empfunden, daß diese Ballade auch dem tieferen Wesensgehalt der Nibelungen-Sage selbst sehr nahe gekommen ist. Und dies galt und gilt für viele historische Themen, die Agnes Miegel in ihren Balladen, Gedichten und Erzählungen aufgegriffen hat.

Es folgen in einem weiteren Abschnitt dann eher persönlich gehaltene Gedichte. Unter anderem sind diese an die eigenen Vorfahren gerichtet. Außerdem folgen Gedichte über die Kinderheimat und über die Lebenszeit als heranwachsendes Mädchen (S. 73-79). Es folgt dann ein Abschnitt mit elf Liebesgedichten. Alle elf sind sehr persönlich gehalten (S. 80-90). Wie sollte es da ausgeschlossen sein - und das soll im folgenden begründet werden -, daß diese elf Gedichte dem Inhalt nach aus dem ersten - und wohl einzigen - großen Liebeserleben im Leben der Dichterin heraus entstanden sind. Bei diesem handelt es sich um ihre stolze und heftige Zuneigung zu dem für damalige Zeiten sehr unkonventionell lebenden Dichter Börries von Münchhausen.

Börries von Münchhausen (1874-1945)

Agnes Miegel blieb mit Börries von Münchhausen lebenslang befreundet. Ebenso bestand lebenslang ein herzliches, freundschaftliches Verhältnis zu seiner ganzen Familie, die in Niedersachsen beheimatet war. Nach ihrer Flucht aus Ostpreußen im Jahr 1945 siedelte sich Agnes Miegel deshalb in der Nähe dieses Familiensitzes an. Börries von Münchhausen selbst setzte sich immer wieder - sowohl im privaten Kreis wie öffentlich - für seine Dichterfreundin Agnes Miegel ein. Diese Umstände werden mit dazu beigetragen haben, daß Agnes Miegel sich zu ihren Lebzeiten niemals besonders deutlich über ihre frühe Leidenschaft für diesen Mann äußerte, ebenso wenig über die außerordentlich tiefe Verletzung, die dieselbe mit sich gebracht hat. 

Abb. 2: Agnes Miegel, 1902 (Bildarchiv Ostpreußen)
Die genannten elf Liebesgedichte lassen, würden sie tatsächlich aus der Zuneigung zu Börries von Münchhausen heraus entstanden sein, denselben auch keineswegs in einem guten Licht erscheinen. Zumindest soweit er nicht als Freund, sondern als Liebender angesprochen wäre. Wollte Agnes Miegel die bleibende Freundschaft zu ihm und seiner Familie nicht aufs Spiel setzen, durfte sie deshalb auch keine eindeutige Deutung dieser Gedichte für die Öffentlichkeit geben. Es fragt sich hinwiederum auch, warum ihr das überhaupt hätte wichtig erscheinen sollen. Diese Gedichte stehen auf eigenen Füßen, auch wenn man nicht um diese persönlichen Hintergründe rund um ihre Entstehung weiß.  

Agnes Miegel konnte über derartige Dinge zwar völlig freimütig sprechen - aber eher im vertrauten Kreis und nicht jedem Menschen, bzw. „Philister“ gegenüber. Oftmals sprach sie nur verschlüsselt und in Andeutungen. So sagte sie einer guten Bekannten: „Man muß es für sich behalten, daß sich nicht freuen die Töchter der Philister!“

Selbst in der ausführlichen, detailreichen Biographie über Agnes Miegel, die nach ihrem Tod 1967 von ihrer nahestehenden Freundin Anni Piorreck heraus gebracht worden ist, wird ihre jugendliche Zuneigung - bzw. flammende Zuneigung - zu Börries von Münchhausen nur in wenigen Sätzen angedeutet. Dasselbe gilt von der 1990 heraus gekommenen, korrigierten Neuauflage derselben. Bei dieser Gelegenheit wird keinerlei Name genannt. Diese Biographie ist aus der Kenntnis vieler wesentlicher Einzelheiten im Leben von Agnes Miegel heraus geschrieben. Und sie ist, zumal sie bisher die einzige geblieben ist (Stand 2002), außerordentlich wichtig und verdienstvoll.

Eine unbefriedigende Biographie über Agnes Miegel (1967/1990)

Heute (2002) jedoch, vierzig Jahre nach dem Tod von Agnes Miegel und nach dem Hinwegsinken ihrer ganzen Zeitepoche spätestens in der Kulturrevolution von 1968, läßt die Biographie von Anni Piorreck den Leser unbefriedigt zurück. Die ganze Zeit- und Kulturepoche, in der Agnes Miegel gelebt und gewebt hat, wird letztlich doch nicht in einem „großen Wurf“ gezeichnet, wie es notwendig wäre, um ein kraftvolles Lebensbild zu geben. Es wird nicht ein mit vollen Pinselstrichen gemaltes Lebensbild gegeben, wie es einer so bedeutenden Dichterin wie Agnes Miegel angemessen wäre.

Der vorliegende Aufsatz möchte in Richtung einer neuen, zeitgemäßen Auffassung des Lebensbildes von Agnes Miegel hinwirken. Sie war und ist eben nicht nur die allseits verehrte „große Dichterin“ Ostpreußens - vor allem unter den ostpreußischen Vertriebenen. Sondern sie war vor allem ein Mensch mit seiner Freude und seinem Schmerz. Ein Mensch, den man viel besser versteht, wenn man über prägende Phasen, Erlebnisse seines Lebens nicht nur in Andeutungen erfährt. Und zwar in Andeutungen, die man fast überliest. Nein, sie müssen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestellt werden. Dann kommt uns ein solcher Mensch vielleicht in manchen Lebensinhalten auch viel „moderner“, „zeitgemäßer“ vor, als dies sonst der Fall sein mag.

Die Titel der genannten elf Liebesgedichte  lauten: „Liebe“ („Ich warf wie tote Muscheln / Liebe und Treu in den Sand ...“), „Wer ruft die Rose zurück“, „Flieder“, „Der es gegeben“ (entstanden 1927), „Der Garten“, „Johanni“, „Weit in der Fremde“, „Neumond“, „Frühling“ und „Dämmerung“ („Du sprichst -  ich höre schweigend hin / Wie fremd ist deiner Stimme Klang! / Und ich zermartre meinen Sinn / Was so an dir mein Herz bezwang. ...“).

Nach diesen elf Gedichten folgen in dem Gedichtband von 1936 noch weitere "Lebensthemen". Sozusagen das große Leid dieser Liebe ausklingen lassend und die Gedanken allmählich wieder auf andere Erlebnisinhalte richtend, folgen weniger persönliche Gedichte über das Erleben einer Witwe, einer späten Frauenliebe und ähnliches (S. 91-95).

Es folgt dann das berühmte Gedicht „Heimweh“, das schon im Jahr 1907 entstanden war („Ich hörte heute morgen / Am Klippenhang die Stare schon ...“). Ein Gedicht ist an eine gestorbene alte Frau gerichtet, möglicherweise die Mutter von Börries von Münchhausen, die, wovon noch die Rede sein wird, eine sehr enge Freundin von Agnes Miegel geworden war. Außerdem folgen Gedichte an Jugendfreundinnen und -freunde (etwa gefallen im Ersten Weltkrieg) und an Kinder in der Verwandtschaft, an deren Schicksal die kinderlose Agnes Miegel Anteil genommen hat.

Abb. 3: Agnes Miegel, Sommer 1901 (Bildarchiv Ostpreußen)

Dann folgt wieder fast eine Zäsur mit dem Gedicht „Aufschrei“ aus dem Jahr 1927 („Für dies verzettelte Leben, / Das wie Wasser durch meine Hände rann ...“). Dieses Gedicht gibt auch die Stimmung wieder, die sich in vielen brieflichen Äußerungen Agnes Miegels aus dieser Zeit widerspiegelt. Damals mußte sie - in der Blütezeit ihres Lebens - fast nur für und mit ihren beiden alten, kranken Eltern und in deren Alt-Königsberger „Bürgerlichkeit“ leben. Sie tat das in treuer Pflichterfüllung, zugleich aber auch immer wieder in „aggressiver Bitterkeit gegen sich selbst“. Von diesem bis heute wenig beachteten Charakterzug Agnes Miegels wird weiter unten ebenfalls noch zu handeln sein.

Immer wieder beschlich sie der ungeheure Verdacht, daß sie diesen Kindes-Pflichten letztlich ihre große Begabung als Dichterin aufopfern würde. Aus ähnlichen Stimmungen heraus entstand wohl das Gedicht „Ich“ (im Jahr 1920) („In dem Geschwätz und Gewühl / vor dem plätschernden Brunnen am Markte ...“). Dann folgt ein Gedicht, das man eigentlich nur anti-christlich nennen kann:  „Heimat“ (ebenfalls aus dem Jahr 1920) („Nicht in euren Himmel will ich kommen / Wo die weißen Engel Harfe spielen, / In die alte Heimat werd ich wandern ...“).

Und nun stehen da einige der großen, stolzen Gedichte auf die vielfältige Geschichte Ostpreußens und auf seine berühmten Gestalten (S. 109-141), um derentwillen sich Agnes Miegel in die Herzen ihrer Landsleute und der Deutschen eingeschrieben hat („Kynstudt“, „Hennig Schindekopf“ [entstanden schon 1901], „Heinrich von Plauen“ und andere). Dann folgen Gedichte auf die Zeitereignisse des Ersten Weltkrieges und die unmittelbare Nachkriegszeit, etwa: „Über der Weichsel drüben ...“ (aus dem Jahr 1927) („Über der Weichsel drüben, Vaterland höre uns an! / Wir sinken wie Pferd und Wagen versinken im mahlenden Sand ...“), „Die Fähre“ (entstanden an der Memel im Jahr 1920, kurz bevor das Memelland an Litauen abgetreten wurde).  Außerdem: „England 1918“ („Weißbrüstige Tochter Alfreds / die ihm die Keltin gebar ...“ ) (S. 142-168).

Das sind Anklagen an die Ereignisse der Zeit und an die Mißhandlung ihrer Heimat, die Abtrennung des Memellandes und Westpreußens an fremde Staaten - während die kalte, „weißbrüstige Tochter Alfreds“ „am Pool von London“ sitzt und große Völker und Volksgruppen durcheinanderschüttelt wie bunte Perlen in ihrer Hand. - - - 

„Von da an haben wir uns zwei Jahre lang sehr lieb gehabt“ (1898)

Doch zurück zu dem Eingangsthema: Wer war Börries von Münchhausen, den Agnes Miegel mit 19 Jahren kennenlernte? Dazu muß eine Literaturhistorikerin angehört werden, deren Veröffentlichung die Anregung zur Erarbeitung des vorliegenden Aufsatzes gegeben hat. Über diesen Mann berichtet sie folgendes (Poschmann, S. 8): „Zu Beginn seiner Göttinger“ (Studien-) „Zeit hatte er seinen ersten Gedichtband veröffentlicht, der enthusiastische Besprechungen auslöste und außer seinem ohnehin sehr ausgeprägten Selbstbewußtsein bei ihm das Gefühl dichterischer Berufung unabweisbar bestätigte. Man gab sich als Bohemien und verachtete alles Bürgerliche und Konservative, vor allem die hannoversche adlige Gesellschaft. Diese Lebenshaltung steigerte sich noch, als Münchhausen mit einigen seiner Dichterfreunden im Wintersemester 1897 nach Berlin übersiedelte mit dem Vorsatz, sein Jurastudium abzuschließen. Doch ehe es soweit war, stürzte er sich in ein - nach seinen eigenen Worten - ‚ausbordendes Kunstzigeunertum‘, wurde Sozialdemokrat, trat aus der Hannoverschen Landeskirche aus und trug in ‚frechster Herausforderung einen Rosenkranz als Pfeifenschnur‘. Nächte hindurch saß er in den Kriminellenkellern im Norden Berlins mit üblem Volk zusammen, in der Hoffnung, ‚bei ihnen Güte und Edelsinn ..., Selbstlosigkeit und Hingabe an irgendeinen Gedanken‘ zu finden. Er ließ sich als Chefredakteur für die ‚Münchhausen‘ benannte satirische Zeitschrift gewinnen und brachte alttestamentarische Balladen unter dem Titel ‚Juda‘ heraus - beides Provokationen für die Familie und für die hannoversche Gesellschaft, vor allem, als er aus dem Büchlein ‚Juda‘ noch Dichterlesungen in dem Zionistischen Verein in Hannover hielt.“ 

Auch noch weitere, ähnliche Schilderungen zeigen insgesamt einen Mann, der in seiner lässigen Nonchalance auf ein ähnlich oberflächlich gesinntes, aber ebenfalls doch auch begabtes Mädchen von 19 Jahren Eindruck machen konnte. Das geschah, als die junge Agnes zusammen mit ihrem Vater auf der Reise nach Paris nach Berlin kam, um mit Börries von Münchhausen über die Veröffentlichung ihrer Gedichte persönlich zu sprechen.

Abb. 4: Börries von Münchhausen (wohl um 1899 herum)

Im kulturellen Gedächtnis blieb Agnes Miegel als alte, verehrte Dichterin der Stadt Königsberg und des Landes Ostpreußen, sowie der ostpreußischen Vertriebenen in Erinnerung. Obwohl sie ihre heftige Leidenschaft für den exzentrischen Dichter um die Jahrhundertwende niemals völlig geheim gehalten hat, ist dieselbe bis heute in ihren Lebensbeschreibungen höchstens vage angedeutet worden.

Und doch klingt auch durch ihre starke Heimatverbundenheit bis an ihr Lebensende jene Verachtung für alle Bürgerlichkeit hindurch, jene „Bohemienhaftigkeit“, von der auch die Leidenschaft für Börries von Münchhausen bestimmt gewesen sein muß. Wenn es um ihre Heimatliebe ging, konnte sie noch an ihrem Lebensende sprechen von „Spießerseelen und ihren kleinen Seelenwehwehs“ - als wäre sie immer noch eine 19-Jährige.

„Sie sagte einfach ‚Wie du willst‘ “

In seinen eigenen, autobiographischen Aufzeichnungen aus den 1930er Jahren hat Börries von Münchhausen über seine Liebe zu Agnes Miegel das folgende geschrieben (zit. n. Poschmann, S. 10f): „Im Jahre 1898 hatte ich von einem jungen Mädchen aus Königsberg Gedichte zugeschickt bekommen, die mich mehr als begeistert hatten. Ich sah auf den ersten Blick: Eines der ganz seltenen weiblichen Genies legte diese Verse und die Worte dieser Briefe aufs Papier. Wundervolle hell-dunkle Stimmungen klangen auf, wunderlicher Aberglauben rankte um einen kindisch-kindlichen Glauben.“ In dieser, gegenüber dem weiblichen Geschlecht natürlich immer noch kraß überheblichen, herablassenden Art schreibt Börries von Münchhausen weiter. Er berichtet dann:

„Unser Briefwechsel nahm in wenigen Wochen sehr herzliche Formen an. Im August kam sie mit ihrem Vater, der sie in eine Pariser Pension brachte, durch Berlin und blieb drei Tage hier.“ Münchhausen berichtet wie er - nachdem eine erste Verabredung nicht zustande gekommen sei -, seiner selbst unbewußt wie ein Blinder durch die Großstadt und das Menschengedränge Berlins geradewegs zu ihr „hingeführt“ worden sei - in einen vollgedrängten Bierkeller Unter den Linden. Dieses „blinde“ Hinfinden paßt durchaus zu manchen Inhalten von Gedichten Agnes Miegels und der darin enthaltenen „Ahnungen“ und „Gesichte“. Börries von Münchhausen schreibt: „Als ich den Kopf hob, da wußte ich, daß dieses dunkelhaarige Mädchen, das mit seinem Vater am Tisch saß, meine Briefschreiberin sei. Und ich streckte ihr die Hand hin und sagte: ‚Guten Tag, Agnes Miegel!‘ Und sie sagte in ganz selbstverständlichem Tone: ‚Börries von Münchhausen.‘ Ihre Stimme war weich, tief und voll, gar nicht so wie ihre 19 Jahre.

Sie war sehr schön.

Dann begleitete ich sie in ihr Gasthaus. Im Gewühl der Friedrichstraße wurde sie einen einzigen Augenblick von ihrem Vater abgedrängt, und in dieser einzigen Sekunde sagte ich: ‚Morgen um 10 am Theater des Westens‘.

Sie sagte einfach: ‚Wie du willst‘. Von da ab haben wir uns zwei Jahre lang sehr lieb gehabt. Wir haben uns freilich nur selten gesehen. Als sie aus Paris kam, holte ich sie in Köln ab, und wir machten eine kleine Rheinreise.“ - Und auf diese Rheinreise - als Unverheiratete - wird sich noch eine viel spätere Äußerung oder Andeutung von Agnes Miegel bezogen haben, die weiter unten gebracht werden wird. - „Und dann, als sie in Berlin Pflegerin im Friedrich-Kinder-Krankenhaus war. Aber die kargen Stunden wurden uns zu Jahren, und ein täglicher Briefwechsel vertiefte unser Verhältnis.“ Börries von Münchhausen behauptet dann:

„Wir haben alles miteinander geteilt, am innigsten unsere künstlerische Arbeit. In meinen Gedichten stecken viele Verse, die sie mir sagte, in ihren Büchern viele von mir, und wir haben oft gelacht, wenn wir dachten, ob die Gelehrten des Schrifttums wohl die Anteile auseinandertrennen könnten. In einzelnen Fällen ging die Arbeit des anderen fast an die Hälfte heran.“ - Und weiter schreibt er:

Abb. 5: Agnes Miegel, 1902

„Schließlich haben wir uns getrennt, wie wir uns zusammengefunden hatten: Als freie Menschen, aus freien Stücken. Und nicht ein Tropfen Bitterkeit ist in den Kelch der Freundschaft gefallen, die uns seither brieflich verbindet.“ 

Wenn man diese Aussage vergleicht mit den Briefen von Agnes Miegel an ihre Freundinnen oder auch mit ihren Gedichten zu diesem Thema, wird deutlich, wie unterschiedlich diese Trennung „aus freien Stücken“ von beiden Seiten aufgefaßt worden ist - und wie wenig Börries von Münchhausen sich das bewußt gemacht hat. Er schreibt: „Wir haben es vom ersten Tag an gewußt und haben es wiederholt besprochen, daß diese Trennung einmal kommen müsse. Und trotzdem haben wir getan, als ob jene Monate ewig wären.“

Nach allem, was erkennbar wird, hat Agnes Miegel dieses Verhältnis und sein Ende - ganz für sich - noch in einer ganz anderen Weise empfunden.

Diese autobiographischen Aufzeichnungen von Börries von Münchhausen sind erstmals 1990 veröffentlicht worden (Poschmann, S. 10f) und geben - wohl bei mancher Beschönigung des eigenen Verhaltens von Seiten Börries’ von Münchhausen - eine ganz neue und andere Sicht vor allem auf die junge Agnes Miegel frei.

Lebenslang unverheiratet - „An mir hat es nicht gelegen.“

Eine Freundin berichtet über ein Gespräch, das sie mit Agnes Miegel irgendwann in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg geführt hatte  (Ilse Reicke-von Hülsen in: Wagner, S. 63): „ ‚Man muß es für sich behalten, daß sich nicht freuen die Töchter der Philister!‘ Mit leisem Lachen klingt die Stimme Agnes Miegels durch das vertraute Zimmer. Wir haben davon gesprochen, daß heut so überraschend oft Brautleute miteinander auf Reisen gehen. Heut, nach Jahren, stellt sich die Erinnerung an ein anderes Gespräch daneben; damals sagte Agnes Miegel: ‚Meine Ahnen haben sich nicht noch einmal verkörpern wollen. An mir hat es nicht gelegen ...‘ “ Hier ist sehr behutsam das angedeutet, was Börries von Münchhausen in seinen Aufzeichnungen deutlich ausspricht. Einerseits - wohl - die gemeinsame Rheinreise, andererseits die spätere Trennung.

Und auch Anni Piorreck, die Königsberger Freundin und erste Biographin Agnes Miegels, deutet sehr zurückhaltend - aber doch wohl treffend - diese Geschehnisse an (Piorreck, S. 46): „Ihre Schönheit und Anmut verschaffen ihr zwar manche Bewunderer, doch es scheint gerade bei diesen ersten frühen Begegnungen, als ob von vornherein jede Partnerschaft, die bei den anderen bald zur Verlobung und Ehe führt, ausgeschaltet sein müsse. Sie hat später oft darüber berichtet, und ihr Gedicht ‚Der Schatten‘ aus dem zweiten Gedichtband“ (von 1907) „hat dies verschlüsselt ausgesprochen.“

Weiter schreibt Anni Piorreck (Piorreck, S. 48f) von der „jungen Agnes als der großen Liebenden in Schmerz, Seligkeit und Hingabe. Der Mann aber, dem diese Liebe gehörte, war zwar künstlerisch hochbegabt, menschlich jedoch unzuverlässig - eine Don-Juan-Natur von verwöhnter Überlegenheit und Arroganz. Er war nicht der ebenbürtige Gefährte für das schwerblütige Mädchen, das er ständig betrog. ‚Herz, das mich immer verriet!‘ Obwohl Agnes bald seine menschlichen Schwächen erkannte, hat es fast anderthalb Jahrzehnte gedauert, bis sie sich von dieser Liebe hat lösen können. Dann aber schrieb sie (an Lulu von Strauß und Torney am 2. 3. 1914): ‚Ich habe mich mit einer Enttäuschung nach der andern abgefunden. Jetzt am Ende bin ich nur über eines erstaunt: wie unbedeutend, wie nebensächlich in meiner geistigen Entwicklung das war, was man Liebe nennt ...‘ “

Vermutlich wäre es aber ein großes Mißverständnis, wenn man zu der Einschätzung neigen würde, daß hier ein „Herz, das nie gelernt hat zu entsagen“, schon die letzte und vollständige Wahrheit über sein Leben ausgesprochen hätte. Im Jahr 1914 war Agnes Miegel erst 35 Jahre alt. Lulu von Strauß und Torney (1873-1956), das muß hier ergänzt werden, war die gemeinsame Freundin von Börries und Agnes, die dritte damals bekannte Balladendichterin in ihrer Runde. Auch sie hatte zeitweilig ein Verhältnis mit Börries gehabt, das noch sehr viel später (in den 1930er Jahren) zu sehr tiefgreifenden Auseinandersetzungen mit dessen auch sonst noch oft betrogener Ehefrau Anlaß geben sollte.

An Reaktionen Agnes Miegels zu der hier behandelten Thematik sind etwa auch bekannt (Margarete Haslinger, in: Wagner, S. 31; dazu auch: Piorreck, S. 47f): „Einmal fragte ich sie in den letzten Jahren, weshalb sie ein frühes Liebesgedicht, das ich sehr liebte, nicht in ihre Gesammelten Werke aufgenommen habe. Mit einer abwehrenden Handbewegung sagte sie: ‚Nachempfunden! Es gibt Verse, die man nur in der Jugend schreibt. Aus Mangel an eigenem Erleben gibt man dann nur von anderen gehörte Worte und Gefühle wieder, hingerissen von ihrer Magie ...‘ “

„Daß sich nicht freuen die Töchter der Philister ...“

Konkreter ist von der Literaturhistorikerin zusammenfassend zu erfahren (Poschmann, S. 11.13): „Bis über beide Ohren verliebt, lernte sie auf der Rückreise von Paris in Berlin sein“ (Börries‘) „Leben und seine Lebensverhältnisse kennen. Und das kann nur ein Schock für sie gewesen sein: An jedem Finger eine Freundin, von denen die eine oder andere zeitweise seine Wohnung teilte, eine andere Dichterin, Anna Richter, die ihn anbetete und deren Gedichte er in der Zeitschrift ‚Münchhausen‘ veröffentlichte. Sein flottes Leben spiegelt sich in dem Briefwechsel mit seinen Eltern, in dem sich Karten wie diese befinden:

‚Komme Freitag 15 Uhr 24 in Hannover an. Bringe Anna mit.‘ Darauf antwortete der Vater: ‚Anna Ritter wird uns natürlich hier als Gast sehr willkommen sein, ebenso wie Agnes Miegel.‘ Dann die postwendende Karte des Sohnes: ‚Ei herrje - nee, alter Herr, nicht Anna Richter, sondern Anna Sahlis!‘

Agnes Miegel blieb nichts anderes übrig, als sich zurückzunehmen, ihre Gefühle auf ein freundschaftliches Verhältnis zu reduzieren, um das künstlerische Miteinander zu retten. (...) Dennoch gibt es einige Verse, die ihre unglückliche Situation gegenüber Börries von Münchhausen so konkret widerzuspiegeln scheinen, daß man darin eine Umsetzung des eigenen Erlebens vermuten darf, so das Gedicht:

Liebe
Ich warf wie tote Muscheln
Liebe und Treu in den Sand,
Vergaß wie welke Blumen
Vater und Vaterland.

Dachte an Leid und Reue
Fluch und Segen nicht,
Dachte nur an dein schönes
Hochmütiges Gesicht.

Und all meine Liebe
Achtest du so gering
Wie einen blinden schmalen
Unechten Krämerring!“

Von Seiten der Literaturhistorikerin ist über Börries zu erfahren: „Seinem Vater, der ihn drängte, endlich Examen zu machen und standesgemäß zu heiraten, schrieb er“ (Börries) „1899, er halte nichts von der ‚durch das beständige Dienen veredelten christlichen Frau ... Diese Frauen sind immer Sklaven oder Tyrannen ... Mein Ideal als Frau ist in vielem die Tante Frieda Lipperheide. Daneben Agnes Miegel.‘ “ Die genannte Tante war eine Freundin der Mutter von Börries v. M. und Herausgeberin einer modernen Frauenzeitung. Es sei noch ein anderes Gedicht Agnes Miegels aufgeführt, das wohl als Ausdruck des Erlebens der Liebe zu Börries von Münchhausen aufgefaßt werden kann:

Der es gegeben

Der es gegeben
Daß ich so jung dich fand,
Gott hielt dein und mein Leben
Wie Blumen in seiner Hand.

Daß er die eine
Verwarf und zertrat,
Er weiß alleine
Warum er es tat.

Der nimmt und der gibt
Weiß, warum er uns schied - 
Herz, das mich immer geliebt,
Herz, das mich immer verriet.

So kurz nur gegeben
Die Frist, die uns band -
Gott hielt dein und mein Leben
Wie Blumen in seiner Hand!

Börries von Münchhausen hingegen schrieb ein Gedicht ganz anderer Art und ganz anderen Inhalts über sein Verhältnis zu Agnes Miegel (zit. n. Poschmann, S. 18):

Meiner Freundin (A. M.)

Wohl brach ich oft die Treue,
Die ich so fest versprach,
Und gab den Schwur aufs neue,
Bis wieder ich ihn brach.

Dir hab ich nicht gegeben
Das oft gebrochne Wort,
Und weiß: mich hält fürs Leben
Das ungesprochne Wort.

Wenn man aus der Perspektive von Agnes Miegel auf diesen Börries von Münchhausen schaut, dann erscheint er als ein durch und durch unsympathischer Mann. Wohl ein nicht ganz leicht zu durchschauender Charakter, dieser Börries von Münchhausen.

Der Brief- und Besuchkontakt zwischen Agnes Miegel und Börries von Münchhausen hielt bis zu dem Freitod des letzteren im Frühjahr 1945 an. Und auch noch die Wahl des Alterswohnsitzes von Agnes Miegel in Bad Nenndorf ist von der Nähe zu dem Stammsitz Apelern der Familie von Münchhausen und von dem engen Verhältnis, das Agnes Miegel Zeit ihres Lebens zu dieser Familie unterhielt, bestimmt.

„Als wir uns fanden, Schwester, wie waren wir jung ...“

Das Leben Agnes Miegels (1879-1964) - Neue Zeugnisse und Sichtweisen - 2. Teil

„Was seid ihr beiden für verständige Leute“

Abb. 6: Agnes Miegel, 1906 (Bildarchiv Ostpreußen)
Im ersten Teil dieser Aufsatzreihe ist von der Jugendliebe Agnes Miegels zu Börries von Münchhausen berichtet worden. In diesem zweiten Teil wird durch lose Anführung wenig bekannter Lebenszeugnisse aus den weiteren Lebensjahrzehnten sowohl eine Charakterisierung des weiteren Lebensganges und der inneren Entwicklung von Agnes Miegel gegeben wie auch eine Charakterisierung der Art des „Nachzitterns“ dieser großen Jugendliebe durch die weiteren Lebensjahrzehnte.

Nebenbei sei erwähnt: Die Bebilderung dieser Aufsatzreihe profitiert von jenen Funden, die man auf dem Bildarchiv Ostpreußen machen kann.

Von Seiten der Literaturwissenschaft wird zu der Trennung von Börries von Münchhausen noch einmal die Reaktion der Mutter von Börries berichtet (Poschmann, S. 14-16): „Trotz aller Boheme, trotz aller nach außen demonstrierten Ablehnung der bürgerlichen und erst recht adligen Konvention war Börries von Münchhausen sich in seiner jugendlich-genialischen Schizophrenie“ (oder einfacher: seiner egoistischen Arroganz) „immer bewußt, daß ihm als Angehörigen des niedersächsischen Uradels nur eine standesgemäße Heirat anstand. Das hatte er in ehrlicher und unbarmherziger Offenheit seiner verliebten Freundin wohl von Anfang an zu verstehen gegeben. (...)

Als die Begeisterung des Berliner Studenten für seine Freundin im fernen Königsberg immer höhere Wellen schlug, fragte seine Mutter schließlich an, was er mit dem Mädchen vorhabe, und Börries klärte sie - unterstützt durch beiderseitige Briefe - darüber auf, daß er von vornherein klare Verhältnisse geschaffen hätte und Agnes Miegel das genauso sähe.

‚Tausend noch mal‘, entfuhr es seiner Mutter im Antwortschreiben, ‚was seid Ihr beiden für verständige Leute, Du und Agnes Miegel, nämlich Du für sie und sie für Dich. Aber weißt Du, daß das Mädel mir ganz leid tut? Wer so ideal empfindet, wie sie nach ihren Versen tun muß, und hat dabei so unbarmherzig klare Augen fürs Reale, dem muß das Leben manchmal schwer sein zu leben! Aber sie muß durchaus gesund sein - von innen heraus und im höheren Sinne gemeint - und so wird sie der Zwiespalt nicht brechen.‘ “

Einerseits scheint die Mutter hier doch viel über Agnes Miegel verstanden zu haben. Andererseits sind ihre Worte wohl nicht geeignet, die Leichtfertigkeit ihres Sohnes scharf und eindeutig genug zu charakterisieren. Die in Sprachen und manchem anderem hochbegabte Mutter von Börries von Münchhausen, Clementine (gestorben im Jahr 1913), die in Apelern wohnte, ist wenig später eine enge mütterliche Freundin Agnes Miegels geworden.

Clementine von Münchhausen (1901)

Diese Freundschaft ist durch Börries vermittelt worden, der seiner Mutter, so berichtet uns die Literaturwissenschaft (Poschmann, S. 26), „im Mai 1901 aus Sahlis“ (dem Wohnort seiner künftigen Frau Anna) „schrieb, daß er seiner zukünftigen Frau Gedichte von  ‚Bulck und Miegel vorgelesen hatte, die beide in diesen Tagen erschienen‘  sind.  ‚Mutti, willst Du vielleicht der Tutt‘ - das war der Kosename der Dichterin - ‚mal ein paar Worte über ihr Buch schreiben? Sie hat doch eigentlich so recht keine Mutter, und da möchte ich sie an meine mal anbeißen lassen.‘

Clementine packte ein Paket voll Lavendel und Gartenblumen und schrieb einen Brief dazu, der das Mädchen beglückte ob der ‚Freude und des Interesses an meinem Talent‘. Schon dieser erste Brief der jungen Dichterin an die Unbekannte ist von einer entwaffnenden Offenheit, und sie erklärte das so:  ‚Weil Sie mir so gar nicht fremd waren. Der Brief sieht mich so freundlich an. Ich habe solche Angst vor Ihnen gehabt. Börries und Lange und Hans von der Gabelentz sagten, Sie seien so schrecklich klug. Aber die 3fache Großmutterschaft beruhigten mich.‘ Sie entschuldigt ihr Herzausschütten: ‚Wem soll ich alles sagen, was mir durch den Kopf geht und im Herzen steht: - ich hab keinen. - Und es schreibt sich sehr schön.‘ “

Abb. 7: Agnes Miegel "und Lise", zwischen 1900 und 1905

Börries von Münchhausen ging also seine „standesgemäße“ Ehe ein. Er lebte fortan auf der Burg Windischleuba in Thüringen. Aber auch seine standesgemäß angetraute Ehefrau hatte ihr ganzes Leben über unter den vielen „Nebenfrauen“ ihres Mannes zu leiden. Zu diesen „Nebenfrauen“ gehörte letztlich auch - aber wohl in distanzierterem Sinne als gute Freundin - weiterhin Agnes Miegel. Mit ihr blieb er in stetigem Briefwechsel und beriet sie auf ihren Wunsch hin auch in geschäftlichen und Verleger-Fragen.

Im April 1901 versucht Agnes Miegel in einem Brief an ihre Freundin Lulu, ihr eigenes sich andeutendes Lebensschicksal von der heiteren Seite zu nehmen (Inge Diederichs, S. 250): „Komm und erzähle mir mehr von der Lou Salome und ihren Ansichten über die Ehe. Ich schwanke seit vorgestern, ob ich später ins Kloster gehen soll oder meinem Jugendfreund Carl Bulcke einen Heiratsantrag machen. Ich verstehe ihn so gut. - Ich weiß noch nicht recht, was von beidem ich tun werde. Ich denke zuerst das zweite, da kann ich mich immer noch mal anders besinnen.“ Lou Andreas Salome war die Freundin Friedrich Nietzsches und Rainer Maria Rilkes gewesen, später auch von Sigmund Freud. Carl Bulcke, ein Königsberger, hatte 1900 seinen ersten Roman und 1901 einen Gedichtband herausgegeben.

„In diesem Augenblick gingst Du für immer ganz in mein Leben ein.“

Lulu von Strauß und Torney-Diederichs - seit 1916 war sie mit dem Verleger Eugen Diederichs verheiratet und 1930 Witwe geworden - veröffentlichte im Jahr 1939 zum 60. Geburtstag Agnes Miegels das folgendes Gedicht (St. d. Fr.):

Als wir uns fanden, Schwester, wie waren wir jung!
Denkst Du der Stunde? Die Großstadt dröhnte von ferne -
Zögernd in fremder Tür, fragendes Lächeln im Auge,
Bräunlichdunkel und schmal, immer noch seh‘ ich Dich stehn!
...
Als wir uns fanden, Schwester, wie waren wir jung!
Wo beginnt und wo endet strömend Geben und Nehmen
Zwischen denen, die früh Wahl und Schicksal verband?
Ferne ist nicht mehr Ferne, Eins weiß tief um das Andre,
Auch getrennt auf dem Weg Eins des Andern Geleiter:
Immer lauschend tief innen der schwestervertrauten Stimme,
Grüßend im Auge des Andern unvergangene Jugend,
Grüßend in Werk und Gesang schwestervertrautes Herz.

An einem solchen Gedicht wird deutlich, daß auch - oder gerade? - jene für Deutschland im Nachhinein nur als „Schreckenszeit“ charakterisierte Zeit - ein Jahr wie das von 1939 - eine ganze Fülle von hochwertigem kulturellem Schaffen hervorbrachte, das wohl, soweit dies Literatur betrifft, von der Zeit nach 1945 nur ein Einzelfällen nochmals erreicht worden ist oder erreicht wird. Es war dies auch eben jene Zeit, in der Lulu von Strauß und Torney für die sogenannten „Deutschen Christen“ eine „deutsche“ Bibel ganz neu dichtete.

Aber zurück in die Anfangszeit dieser Freundschaft kurz nach der Jahrhundertwende. Agnes Miegel berichtete zum 60. Geburtstag ihrer Freundin im Jahr 1933 über eine ihrer frühen Begegnungen im August 1901 in einer Försterei bei Nienstedt am Deister, wo Agnes Miegel auf einem Genesungsurlaub weilte (zit. n. Ulf Diederichs, S. 18): „Du hattest Dich angekündigt, es kam ein heftiges Gewitter nach heißem Tag und so konnte ich Dir erst entgegengehen, als es zu spät war, Dich noch auf der weit abgelegenen kleinen Bahnhaltestelle zu erreichen. Ich dachte, eins der Dorfwägelchen würde Dich mitbringen (…). Da standest Du auf einmal oben vor mir, so als ob Du mitten aus dem grünen Wald tratest, triefend naß in einem bläulichen Kleid und heiß vom raschen Lauf mit einem frohen, überraschten Willkommsruf, lachend und voller Wiedersehensfreude - während der warme silberne Sommerregen in großen Tropfen wie Tränen über Dein Gesicht strömte. - Immer, wenn ich fühle, daß auf mein Suchen Deine Gedanken mir antworten, sehe ich Dich so wieder vor mir, - in dem rauschenden grünen Wald des Landes, das für mich DEIN Land ist und bleibt, in dem silbernen Schein und quellenden Duft von trinkender Erde und gesättigtem Laub, ein einziger Gruß Dein ganzes Wesen und Dein Gesicht so froh und blühend unter diesem strömenden sommerwarmen Schauer.

In diesem Augenblick, wie Du den Waldweg herunter gingst, gingst Du für immer ganz in mein Leben ein.“ 

„ ... ein Hauch der großen Geschichte, fern wie Meerwind“ (um 1902)

Am 17. Februar 1902 schreibt Agnes Miegel an ihre Freundin Lulu über den Vortrag einer gefeierten Schriftstellerin (Gertrud Prellwitz) in Königsberg (zit. n. Inge Diederichs, S. 251): „Die Königsberger sind ihre begeisterten Anhänger und hören mit Wonne ihre Vorträge. Für die ist das auch gerade die richtige geistige Sonntagsschule. Ich hör zu - wie ich immer zuhöre (darauf ist man heutzutage dressiert), aber es stört mich weiter nicht, es ist keine geistige Massage für mich. H. G. sagt nämlich: Der Philister ist da, um Kinder zu zeugen und das viele Bier auszutrinken, das gebraut wird - den Künstler braucht der Philister als Masseur, wenn er zu fett wird.“ - Sie war sich bewußt, daß auch sie manchmal einen solchen „Masseur“ brauchte, schreibt sie doch über ihre alten Eltern, deren einzige Tochter sie ist, in dem gleichen Brief: „Es gibt eine schöne Rede von der unsterblichen Seele. Meine Angehörigen, glaub ich, haben noch nie daran gedacht, daß ich auch so eine habe. Mutter versorgt meinen Küchenschrank, Vater meinen Geldbeutel - und dadurch mein Bücherspind, aber die sogenannte Seele, die etwas ganz für sich ist, unabhängig von Klugheit oder Küchenodeur - nein, die ist ihnen ganz fremd an mir.“

Abb. 8: Die junge Agnes Miegel
Und nach weiteren Ausschweifungen über die Königsberger, zu denen sie selbstverständlich zum Teil auch ihre Eltern zählt: „Und hinter diesem kleinen Gekribbel - so klein sind sie, daß sie es nicht sehn - groß, grau und lastend, die blutdunkle Geschichte des Koloniallandes - der ewige Kampf zwischen schwarzem und dem weißen Adler, ein Hauch der großen Geschichte fern wie Meerwind.“

Was für Worte. Im Dezember 1902 schreibt Agnes Miegel aus Berlin, wo sie an einem Kinderkrankenhaus arbeitet, an ihre Freundin Lulu von Strauß und Torney (zit. n. Poschmann, S. 18f): „Ja, Kleines, es geht mir polizeiwidrig gut ... Ich lebe entschieden intensiv, verjünge mich mal wieder - für mich hat die Welt immer einen Jungbrunnen irgendwo ... Die Misere zu Hause, der Herr von Münchhausen auf Windischleuba, das Kinderkrankenhaus - alles ist in einem tiefen schwarzen Brunnen versenkt, dessen Stein ich schnell herunterdrücke, wenn er sich mal heben will. Das meiste ist oublie ...“ „oublie“ ist Französisch und heißt: „vergessen“.

In den weiteren Jahren machte Agnes Miegel oft Besuch in Apelern. In das dortige Gästebuch ist sie eingetragen am 3. September 1901, am 18. September 1902 und für einen Aufenthalt vom 8. Juli bis 8. August 1904. Ein weiterer Aufenthalt ist durch Briefe für das Jahr 1903 belegt. Und was waren die Inhalte der Gespräche in Apelern? Etwa auch die mangelnde Erziehung, die Clementine ihrem Sohn hat angedeihen lassen - zumal was Frauen betrifft? Darüber ist wenig bekannt.

Wir hören über den Briefwechsel von Agnes Miegel mit Clementine von Münchhausen (Poschmann, S. 30): „Einen breiten Raum nimmt in der Korrespondenz auch die Situation der Frau in der damaligen Gesellschaft ein, an der beide litten, vor allem an der Arroganz der adligen und bürgerlichen männlichen Führungsschicht und der Professoren. Schon in ihrem ersten Brief an Agnes Miegel, in dem die Baronin den ersten Gedichtband begeistert begrüßte, erzählte sie eine Episode, die sie gerade bei einem literarischen Abend in Göttingen erlebt hatte, dessen Thema eben dieser kleine Gedichtband der unbekannten jungen Frau war. Als man sich über das ‚Entartete‘ eines Gedichtes wie ‚Das ungeborene Leben‘ erregte, konnte die Baronin nicht umhin, einzuwerfen, gerade diese Verse seien ihr ‚besonders lieb‘, woraufhin Professor Ehrenberg ihr folgendermaßen assistierte: ‚Wir müssen ja das Weib erst kennenlernen. Erst die moderne Frauenbewegung hat uns Frauen erstehen lassen, die einmal zu sagen wagen und wissen, wie ein Weib empfindet.‘ - ‚Ich dachte im Stillen‘, bemerkte die Baronin abschließend, ‚das hättet ihr auch früher erfahren können, wenn es einem von euch einmal eingefallen wäre, nachzufragen.‘ “

Eine Erzählung über das Lachen von Agnes Miegel handelt in dieser Zeit auf einem ostpreußischen Gut (Erna Siebert: Die Linde von Corben. In: Wagner, S. 21): „Einmal, es war noch im Anfang des Jahrhunderts, kamen wir wieder von der alten Linde, die so viel zu erzählen wußte, daß Agnes ihr immer zuhören mußte. Da kam uns ein junger Verwandter entgegen. Als er hörte, wer unser Gast war, sagte er ehrerbietig: ‚Gnädiges Fräulein, Ihr erstes Buch war gerade erschienen, als ich mich verlobte, es war auch das erste Geschenk für meine Braut.‘ Mit ihrem schönen offenen Lachen (wir sagten immer, sie konnte Fanfaren lachen), meinte sie schlagfertig: ‚Da habe ich ja 1,50 Mark an Ihnen verdient! Danke!“ So also versuchte Agnes Miegel, schnell alle falsche, gestelzte, männliche „Ehrerbietigkeit“ auszuhebeln.

„Die Leute haben hier alle den Bildungsstand von S. M.“ (1907-1909)

Auch noch später (1907) schreibt Agnes Miegel nach Apelern (zit. n. Poschmann, S. 28f): „Königsberg ist eine Hochburg des Dilettantismus, so außerhalb, so kulturlos. Die Leute haben hier alle den Bildungsstand von S. M..“ Mit „S.M.“ (Abkürzung für „Seine Majestät“) war damals immer - sehr respektlos - der deutsche Kaiser gemeint. Es handelte sich hier um eine „Majestätsbeleidigung“, die die Familie Münchhausen in Apelern recht vergnügt zur Kenntnis nahm. Denn die Münchhausens waren - als Angehörige des niedersächsischen Uradels - hohenzollern- und preußenfeindliche Anhänger des (hannoverschen) Welfen-Hauses, das 1866 von Bismarck entmachtet worden war.

Im übrigen aber hat Agnes Miegel gegenüber der Familie Münchhausen die Hohenzollern verteidigt. So schrieb im August 1909 Emmy Lange, die Erzieherin der Münchhausen-Kinder, mit der Agnes Miegel auch Freundschaft geschlossen hatte (zit. n. Poschmann, S. 28): „Mir kann schon Agnes leid tun - das arme Lamm! Wenn wir über ihre hochverehrten Hohenzollern mit vereinten Kräften herfallen.“ 

Und dann kam irgendwann der Erste Weltkrieg. Aber das soll einem weiteren Teil vorbehalten bleiben.

(---> Teil 2

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Benutzte Literatur:

  1. Miegel, Agnes: Spaziergänge einer Ostpreußin. Feuilletons aus den zwanziger Jahren. Hrsg. v. A. Piorreck. Eugen Diederichs Verlag, Köln 1985
  2. Miegel, Agnes: Wie ich zu meiner Heimat stehe. Ihre Beiträge in der „Königsberger Allgemeinen Zeitung“ (1926-1932). Hrsg. v. Helga und Manfred Neumann. Verlag Siegfried Bublies, Schnellbach 2000
  3. Miegel, Agnes: Gedichte. J.G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger (14. und 15. Tsd.) Stuttgart und Berlin 1927
  4. Miegel, Agnes: Herbstgesang. Neue Gedichte. Eugen Diederichs Verlag (9. - 18. Tsd.) Jena 1933
  5. Miegel, Agnes: Geschichten aus Alt-Preußen. Eugen Diederichs Verlag, Jena 1942 (1. Aufl. 1934) [enthält die Erzählungen „Landsleute“, „Die Fahrt der sieben Ordensbrüder“, „Engelkes Buße“, „Der Geburtstag“]
  6. Miegel, Agnes: Gesammelte Gedichte. Eugen Diederichs Verlag, (21.-25. Tsd.) Jena 1940 (1. Aufl.: 1936)
  7. Miegel, Agnes: Werden und Werk. Mit Beiträgen von Prof. Dr. Karl Plenzat. Hermann Eichblatt Verlag, Leipzig 1938 [„Durch Dichtung zum Dichten“, Bildnisse von 1905 u. 1938]
  8. Miegel, Agnes: Ostland. Gedichte. Eugen Diederichs Verlag, Jena 1940 [enthält Gedichte wie: „An den Führer“, „Hymne an Ostpreußen“ (1937), „Sonnwendreigen“ (Danzig 1939), „An Deutschlands Jugend“ (Herbst 1939)]
  9. Miegel, Agnes: Im Ostwind. Erzählungen. Eugen Diederichs Verlag, Jena 1940 [enthält die Erzählung „Lotte“]
  10. Miegel, Agnes: Und die geduldige Demut der treuesten Freunde ... Nächtliche Stunde mit Büchern. Verlag Wilhelm Langewiesche-Brandt, Ebenhausen bei München 1941
  11. Miegel, Agnes: Mein Bernsteinland und meine Stadt. (Mit 32 Farbtafeln.) Gräfe und Unzer Verlag, Königsberg/Pr. 1944 [eine große, lange, wenig bekannte Versdichtung]
  12. Miegel, Agnes: Gedichte und Prosa. Auswahl von Inge Diederichs. Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf, Köln 1977 [darin auch Briefe A. M.s]
  13. Miegel, Agnes: Gedichte aus dem Nachlaß. Hrsg. v. A. Piorreck. Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf, Köln 1979
  14. Miegel, Agnes: Es war ein Land. Gedichte und Geschichten aus Ostpreußen. (Redaktion: Ulf Diederichs und Christa Hinze) Eugen Diederichs Verlag, München 1983 (3. Aufl.: 1988)
  15. Agnes Miegel. Stimmen der Freunde zum 60. Geburtstage der Dichterin 9. März 1939. Jahresgabe der Agnes-Miegel-Gesellschaft, Bad Nenndorf 1984 (Eine Auswahl aus dem gleichnamigen Sonderdruck: Eugen Diederichs Verlag, Jena 1939)
  16. Wagner, Ruth Maria (Hrsg.): Leben, was war ich dir gut. Agnes Miegel zum Gedächtnis. Stimmen der Freundschaft. [Ostpreußisches Mosaik, Band X], Verlag Gerhard Rautenberg, Leer/Ostfriesland o. J. (Unveränd. Nachdruck der gleichnam. Ausgabe: Verlag Gräfe und Unzer, München 1965)
  17. Piorreck. Anni: Agnes Miegel. Ihr Leben und ihre Dichtung. Eugen Diederichs Verlag, Korrigierte Neuauflage, München 1990 (1. Aufl.: 1967)
  18. Seidel, Ina: Lebensbericht 1885-1923. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1970
  19. Starbatty, Ursula (Bearbeiterin): Begegnungen mit Agnes Miegel. Jahresgabe 1989/90 der Agnes-Miegel-Gesellschaft, Bad Nenndorf 1989
  20. Poschmann, Brigitte: Agnes Miegel und die Familie Münchhausen. Jahresgabe der Agnes-Miegel-Gesellschaft. Bad Nenndorf 1992
  21. Schücking, Beate E. (Hrsg.): „Deine Augen über jedem Verse, den ich schrieb“. Börries von Münchhausen - Levin Schücking - Briefwechsel 1897-1945. Igel Verlag Literatur, Oldenburg 2001
  22. Diederichs, Ulf: Agnes Miegel, Lulu von Strauß und Torney und das Haus Diederichs. Die Geschichte einer lebenslangen Freundschaft. Jahresgabe 2005 der Agnes-Miegel-Gesellschaft. Überarbeiteter Festvortrag zu Agnes Miegels 125. Geburtstag, gehalten am 6. März 2004 in Bad Nenndorf

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