Bislang deutet sich durch die Archäogenetik an, daß es in der Menschheitsgeschichte keinen Kontinent weltweit gegeben hat, auf dem es so viele genetische und kulturelle "Total"-Umbrüche im Völkerleben gegeben hat wie in Europa.
In Ostasien scheint es zum Beispiel von der Eiszeit bis heute viel mehr genetische und - gegebenenfalls auch - kulturell-sprachliche Kontinuität gegeben zu haben - zumindest im Vergleich mit Europa. Eine ähnliche größere Kontinuität deutet sich auch für den Vorderen Orient an: Trotz der vielen Völker und Kulturen, die dort kamen und gingen, scheinen noch heute die Menschen im Vorderen Orient genetisch Nachkommen von im wesentlichen drei mesolithischen, bzw. frühneolithischen Völkergruppen zu sein, die in genetischer und - gegebenenfalls - auch in kulturell-sprachlicher Kontinuität bis heute fortbestehen.
All das kann für Europa am wenigsten gesagt werden. Es mag das aber auch daran liegen, daß die Menschheitsgeschichte in Europa durch die Archäogenetik bislang besser erforscht ist als auf allen anderen Kontinenten. Jedenfalls geht die große genetische und kulturelle Diskontinuität in der Abfolge der Völker und Kulturen auch schon in der europäischen Eiszeit aus einer neue Archäogenetik-Studie hervor, und zwar überraschend prononciert (1) (Abb. 1).
Sie entdeckt eine als solche bislang unbekannte, große ausgestorbene Völkergruppe, nämlich die Věstonice-Herkunftsgruppe aus der Zeit vor 30.000 bis vor 25.000 Jahren. Sie war über einen Raum hinweg verbreitet, der von einer Region 200 Kilometer nördlich von Moskau (Fundort Sungir) über die Don-Region (Fundort Kosteniki) bis in den böhmischen Raum hinein reichte, und der sich von dort über Österreich hinweg bis hinunter ins südliche Italien erstreckte.
Bislang hatte man diese Völkergruppe der eiszeitlichen Kultur des Gravettien zugerechnet, die auch in Westeuropa verbreitet war. Die Genetiker erkennen aber nun, daß diese große Kultur des Gravettien aus zwei genetisch sehr unterschiedlichen Völkergruppen bestand.
Wisternitz an der Thaya (tschechisch Věstonice)
Die Věstonice-Herkunftsgruppe ist benannt nach dem tschechischen Dorf Věstonice, dem vormals deutschen Dorf Unter-Wisternitz an der Thaya in Südmähren. Bei diesem Dorf handelt es sich um ein bis zum Jahr 1919 zu 99 % deutschsprachiges Dorf, in dem auch bis 1945 nur bis zu 10 tschechische Einwohner lebten (Wiki). Es war Teil des "Sudetenlandes".
Unter-Wisternitz liegt 13 Kilometer nördlich der heutigen, 1919 gezogenen österreichisch-tschechischen Grenze. Im deutschsprachigen Raum gäbe es also Gründe genug, diese Herkunftsgruppe nicht Věstonice-Herkunftsgruppe, sondern Wisternitz-Herkunftsgruppe zu nennen.
Abb. 2: Unter-Wisternitz an der Thaya (tschechisch Věstonice), Postkarte |
Wisternitz liegt 40 Kilometer südlich von Brünn und 100 Kilometer nördlich von Wien. Die dortige Gegend an der Thaya ist Weinanbau-Gebiet (WikiCom). Wisternitz liegt am Fuße der Pollauer Berge (Wiki). Über die dortigen Ausgrabungen lesen wir (Wiki):
Unter-Wisternitz liegt am Fuße der Pollauer Berge sowie am Ufer des "südmährischen Meeres", das in den 1980er Jahren durch die Aufstauung der Thaya entstanden ist. (...) Archäologische Ausgrabungen (seit 1924) legten Siedlungsspuren und Fossilien von Mammutjägern aus der Zeit des jungpaläolithischen Gravettiens frei. Von besonderer Bedeutung sind mehrere Bestattungen, darunter eine 1986 gefundene Dreifachbestattung. In der sogenannten "Hütte des Schamanen" wurden Tierfiguren aus gebranntem Löß sowie die Überreste zweier Brennöfen gefunden (älteste Objekte dieser Art neben Krems-Wachtberg und Krems-Hundssteig). Das berühmteste Fundstück ist die ebenfalls aus Ton gebrannte Venus von Dolní Věstonice.
Die ausgegrabene Siedlungszone der eiszeitlichen Menschen lag in der Talaue und wurde durch einen Felshang geschützt (WikiCom). Sie datiert auf 24.000 v. Ztr. (Wiki). 2.300 Keramikfiguren wurden dort gefunden, ebenso viele Mammutknochen.
Beim flüchtigen Querlesen der archäogenetischen Studie (1) war uns überhaupt nicht klar geworden, was wir so deutlich dann erst in einer zugehörigen deutschsprachigen Presseerklärung gelesen haben, in der es heißt (MPG2023) (2):
Überraschenderweise stellte das Forschungsteam fest, daß die Menschen der Gravettien-Kultur, die vor 32.000 bis 24.000 Jahren auf dem europäischen Kontinent verbreitet war, nicht näher miteinander verwandt waren. Zwar verband sie eine gemeinsame archäologische Kultur: Sie verwendeten ähnliche Waffen und produzierten ähnliche, mit Tiergesichtern verzierte Schnitzereien. Genetisch jedoch unterschieden sich die Populationen im Westen und Südwesten (heutiges Frankreich und Iberien) von den zeitgleich lebenden Populationen in Zentral- und Südeuropa (heutiges Tschechien und Italien).So findet sich der Genpool der Jäger und Sammler dieser Zeit aus dem Westen kontinuierlich über mindestens 20.000 Jahre: Ihre Nachkommen, die der Solutrean- und Magdalenien-Kultur zugeordnet werden, hielten sich während des Kältemaximums in Südwesteuropa auf und breiteten sich später Richtung Norden und Osten über Europa aus. „Mit diesen Funden können wir erstmals direkt die These untermauern, daß die Menschen während der kältesten Phase der letzten Eiszeit Zuflucht in Südwesteuropa suchten, das klimatisch günstigere Bedingungen bot“, sagt Erstautor Cosimo Posth.Als weiterer Rückzugsort für die Menschen während des LGM galt bisher die italienische Halbinsel. Für diese These fand das Forschungsteam allerdings keine Belege, im Gegenteil: Die in Zentral- und Südeuropa lebenden Jäger und Sammler der Gravettien-Kultur sind dort nach dem Kältemaximum genetisch nicht mehr nachweisbar und gelten damit als ausgestorben. Stattdessen ließen sich dort Menschen mit einem neuen Genpool nieder. „Wie wir sehen konnten, unterscheiden sich die dort lebenden Individuen, die mit einer späteren Kultur (das Epigravettien) in Verbindung gebracht werden, genetisch stark von den vorherigen Bewohnern der italienischen Halbinsel“, sagt Mitautorin He Yu. „Vermutlich kamen diese Menschen um die Zeit des glazialen Maximums vom Balkan nach Norditalien und breiteten sich bis nach Sizilien aus.“
Insbesondere das Aussterben einer vormals über große Räume verbreiteten Völkergruppe (Věstonice) ist eine sehr überraschende Neuerkenntnis. Ebenso die Tatsache, daß die nachfolgenden westeuropäischen Jäger und Sammler nicht aus Italien, sondern vom Balkan stammen.
Das weckt Interesse, sich das in der Studie selbst noch einmal genauer anzuschauen ....
Zunächst einmal gilt weiterhin, was wir schon erörtert hatten (Stgen2016): Die ersten anatomisch modernen Menschen, die zwischen 45.000 und 40.000 vor heute nach Europa zugewandert waren, sind um 40.000 vor heute dort schon wieder ausgestorben. Sie hatten sich zum Teil noch sehr stark mit den Neandertalern vermischt.
34.000 bis 24.000 vor heute - Fournol- und Věstonice-Herkunft ("Before the LGM")
Für die Zeit nach 40.000 v. Ztr. können die schon erwähnten zwei Herkunftsgruppen unterschieden werden (Nature2023) (1):
... ein Věstonice-Cluster (...) und ein Fournol-Cluster... (2) a Věstonice cluster including Gravettian-associated individuals from central–eastern and southern European sites (Dolní Věstonice, Pavlov, Krems-Wachtberg, Paglicci and Ostuni), and (3) a Fournol cluster (hereafter, Fournol cluster or ancestry) comprising Gravettian-associated individuals from western and southwestern European sites (Ormesson, La Rochette, Fournol and two Serinyà cave sites (Mollet III and Reclau Viver)). The previously described Věstonice cluster, including a newly reported 29,000-year-old individual from Paglicci cave (Paglicci 12) in southern Italy, is closely related to the previously published genomes from Sunghir and Kostenki 12 in western Russia, which are dated to 34 ka and 32 ka, respectively. The newly defined Fournol cluster is closely related to Aurignacian-associated individuals from Belgium dated to 35 ka (Goyet Q116-1 and the newly reported Goyet Q376-3 individual). Notably, and contrary to the report by Fu et al., another Gravettian-associated population from central–western Europe (Goyet in Belgium, n = 6 individuals) is both geographically and genetically intermediate between the Věstonice and Fournol clusters. The similarity between Goyet Q116-1 and Goyet Q376-3 and the Fournol cluster is also observed at the mtDNA level, with both groups including individuals who carried mtDNA haplogroup M, which has not been found in European individuals from after the LGM24 (Extended Data Figs. 1 and 2).
Die Věstonice-Herkunftsgruppe ist in der Zeit nach 24.000 Jahre vor heute in allen vormals von ihr besiedelten Gegenden - zwischen Tschechien und Sizilien - ausgestorben! Und das, obwohl ihre Grabsitten auf den ersten Blick ein wenig "fortschrittlicher" anmuten als die Grabsitten der westlichen Fournol-Herkunftsgruppe. Es war das auf dem Höhepunkt der letzten Eiszeit (Englisch "LGM") zwischen 24.500 und 18.000 vor heute (Wiki).
Abb. 3: Gravettien-Kultur - Getragen von zwei Herkunftsgruppen: Věstonice (lila) und Fournol (hellbraun) - Die nach 40.000 v. h. ausgestorbenen ersten Zuwanderer ganz links (dunkelbraun) (aus 1) |
Von der Fournol-Herkunftsgruppe, die genetisch der bislang besser bekannten, jüngeren Goyet-Herkunftsgruppe nahesteht, war die Gravettien-Kultur zwischen Spanien und dem heutigen Belgien getragen (1):
Die genetischen Unterschiede spiegeln sich in Ungleichheiten der Bestattungspraxis (...) wieder.This genetic distinction coincides with dissimilarities in mortuary practice among genetically analysed Gravettian-associated individuals from different parts of Europe. Individuals in western and southwestern Europe related to the Fournol cluster are consistently deposited in cave sites and occasionally exhibit anthropogenic marks whereas individuals related to the Věstonice cluster are buried with grave goods and/or personal ornaments and ochre in open air or cave sites in central-eastern and southern Europe, respectively.
Menschen der westlichen Fournol-Herkunftsgruppe bestatteten ihre Toten in Höhlen und die Knochen weisen Bearbeitungsspuren auf (die zum Teil auch mit Kannibalismus in Verbindung gebracht werden können).
Die Menschen der Věstonice-Herkunftsgruppe hingegen wurden mit Grabbeigaben, sowie mit Schmuck und Ocker bestattet.
Abb. 3a: Größte Ausdehnung des Eises auf dem letzten Höhepunkt der Eiszeit um 20.000 vor heute siehe blaue gestrichelte Linie ("Brandenburg-Phase") (Wiki) |
Es macht Sinn, sich die Verbreitung des Eisschildes klar zu machen auf dem letzten Höhepunkt der Eiszeit: Während Teile Westeuropas eisfrei blieben, war Osteuropa viel stärker von den Eiszeiten betroffen.
17.000 bis 14.000 vor heute - Magdalenien - Die "westeuropäischen Jäger und Sammler" ersetzen Vorgängerpopulationen ("Post-LGM")
Über das nachfolgende Epigravettien in Italien (17.000 bis 13.000 v. h.) schreiben die Forscher dann (1):
Wir berichten von Genom-Daten von vier Individuen ... aus Norditalien ... und Sizilien ... Alle fallen in das Villabruna-Cluster.We report genomic data from 4 individuals, including 3 approximately 13,000-year-old genomes from northeastern Italy (Pradis 1), northwestern Italy (Arene Candide 16) and Sicily (San Teodoro 2), as well as increased genome-wide coverage from Tagliente 215 dated to 17 ka. (...) We find that all of the newly and previously reported Epigravettian-associated individuals fall within the Villabruna cluster.
Die hier erwähnte Arene Candide-Höhle (Wiki) liegt an der italienischen Riviera zwischen Genua und Nizza, 75 Kilometer westlich von Genua.
Daß das Villabruna-Cluster in Italien verbreitet war, war zwar schon zuvor bekannt. Nicht bekannt war, daß es sich genetisch deutlich von der Vorgänger-Population, nämlich der Věstonice-Herkunftsgruppe unterscheidet, und daß man deshalb hier ein "genetic replacement" unterstellen muß. Und das, obwohl doch Italien von der Eiszeit klimatisch viel weniger betroffen war als die weiter nördlich gelegenen Regionen. Unsere Vermutung: Vielleicht war die Wiederbesiedlung vom Balkan her früher möglich als von Italien her und ist deshalb eine andere Völkergruppe den Restbeständen der Věstonice-Herkunftsgruppe in Italien zuvor gekommen. Die Villabruna-Herkunft findet sich jedenfalls sogar schon um 19.000 Jahre vor heute auch am Fundort El Miron in Spanien (1):
Unsere Stammbaum-Analyse deutet auf Norditalien als möglicher Ankunftsort dieses Epigravettien-Genpool's auf der italienischen Halbinsel. (...) Zusammen mit der genetischen Nähe der Villabruna-Herkunftsgruppe zu vorgeschichtlichen und heutigen nahöstlichen Herkunftsgruppen wird der Balkan als Quelle für die hereinkommende Epigravettien-Population nahegelegt. (...) Das letzte Eiszeit-Maximum könnte einen Korridor südlich der Alpen für Ost-West-Ausbreitung von Menschen offen gelassen haben, der genetisch Jäger-Sammler-Populationen vom Balkan bis nach Iberien miteinander verbunden hat, womöglich auch über Ausbreitung entlang der Küsten des Mittelmeeres, die damals einen niedrigeren Wasserstand aufgewiesen haben.Our phylogeographic analysis points to northeastern Italy as the possible entry point of the Epigravettian-associated gene pool in the Italian peninsula. This finding, in conjunction with the genetic affinity of the Villabruna cluster to ancient and present-day Near Eastern ancestries (...), suggests the Balkans as a source of the incoming Epigravettian-associated population. (...) The LGM could thus have created a corridor south of the Alps for east-to-west human movements that genetically connected hunter-gatherer populations from the Balkans to Iberia, possibly also via dispersals along existing lower-sea-level coasts.
Die reiche und lange Geschichte der Herkunftsgruppe der westeuropäischen Jäger und Sammler, der wir schon einen eigenen Blogartikel gewidmet hatten (Stgen2021), erhält damit neue zeitliche und räumliche Tiefendimensionen. Das Bild ihrer Geschichte wird noch differenzierter. Zu ihrer Frühgeschichte auf dem Balkan und ihrer Vermischung mit Jägern und Sammlern in Anatolien, die zur Ethnogenese der anatolisch-neolithischen Völkergruppe beigetragen hat, war schon 2020 eine Studie erschienen (Stgen2020).
Abb. 4: Für die Zeit nach der Eiszeit und im Mesolithikum sehen wir dann innerhalb von Europa drei Herkunftsgruppen: Goyet, Oberkassel-Villabruna und Sidelkino (aus 1) |
Die Herkunftsgruppe der westeuropäischen Jäger und Sammler (nach wichtigen Fundorten auch "Oberkassel-Villabruna" genannt) stammt somit nicht - wie ursprünglich angenommen - aus einem Rückzugsraum in Italien, sondern vom Balkan. Sie ist die dominierende europäische Völkergruppe des nacheiszeitlichen Mesolithikums und hat sich in Rückzugsräumen (zum Beispiel in Höhenlagen der Mittelgebirge oder an den Ufern von Gewässern) bis in das Mittelneolithikum gehalten.
Sie hat dann noch einmal überall in Europa zur Ethnogenese vieler bedeutender mittelneolithischer Völker beigetragen. Und sogar noch in der Frühbronzezeit treten Menschen dieser Vorfahrengruppe mitunter genetisch unvermischt auf, etwa im Ostseeraum (Stgen2021). Typisch für sie sind dunkle Haut und blaue Augenfarbe. Diese Körpermerkmale werden auch von dieser neuen Studie bestätigt (1; Anhang, S. 104f):
Der blauäugige Phänotyp tritt in Europa zum ersten mal (...) mit der Villabruna-Herkunftsgruppe auf, in der er zu 93 % anzutreffen ist. Dieser Phänotyp wurde vererbt an die Jäger-Sammler von Oberkassel und ist ebenso in hoher Häufigkeit anzutreffen bei den baltischen und skandinavischen Jägern und Sammlern, die eine Mischherkunft zwischen Oberkassel und Sidelkino in sich tragen.The blue-eye phenotype first appeared in Europe in Epigravettian-associated populations carrying Villabruna ancestry, with an almost fixed alternative allele frequency at 92.6% (95% CI 78.8-98.7%). This phenotype was inherited by hunter-gatherers with Oberkassel (WHG) ancestry and is also present in high frequency among Baltic HG and SHG who carry a mixed ancestry between Oberkassel and Sidelkino.
Die hier erwähnte "Sidelkino-Herkunftsgruppe" ist nun identisch mit jener Vorfahrengruppe, die bislang "osteuropäische Jäger und Sammler" genannt wurde. Da die westeuropäischen Jäger und Sammler ein "genetic replacement" in Italien - und zu nicht geringen Anteilen in Spanien - bewirkt hat, scheint sie doch leicht andere - weiter entwickelte? - Überlebensstrategien aufgewiesen zu haben als die bis dahin in Europa lebenden Herkunftsgruppen. Vielleicht war sie auch gegenüber anderen Herkunftsgruppen - sozusagen - "aggressiver" und weniger "tolerant". Oder umgekehrt, die Věstonice-Gruppe hat sich aggressiv und intolerant gegenüber dieser neuen Herkunftsgruppe gezeigt und ist deshalb an Auseinandersetzungen mit dieser oder aufgrund der Auflösung des inneren sozialen Zusammenhangs ausgestorben, ohne sich noch mit den westeuropäischen Jägern und Sammlern zu vermischen. (Alles Hypothesen, die sich beim derzeitigen Kenntnisstand vorläufig aufstellen lassen, so möchten wir meinen.)
Die Herkunftsgruppe der westeuropäischen Jäger und Sammler hat sich mit der Fournol-Herkunftsgruppe zur Goyet-Herkunftsgruppe vermischt. Und sie hat sich in Skandinavien und im Baltikum mit der Sidelkino-Herkunftsgruppe vermischt, also mit den osteuropäischen Jägern und Sammlern (1):
Während El Miron etwa 43 % Villabruna-Herkunft aufweist, weisen alle anderen mit der Magdalenien-Kultur in Verbindung stehenden Individuen eine niedrigeren Anteil dieser Herkunft auf (19 bis 29 %).The Goyet Q116-1 ancestry survived in all studied Magdalenian-associated genomes besides in Gravettian and Solutrean-associated individuals from southwestern and western Europe (Fig. 1). Notably, the Fournol ancestry provides a better proxy than Goyet Q116-1 for the genetic component found in the GoyetQ2 cluster and in El Mirón (Supplementary Data 2.H). However, using f4-statistics, we show that all Magdalenian-associated individuals, and not only El Mirón, carry Villabruna-related ancestry when compared to the Fournol cluster (Supplementary Data 2.H). This affinity is even stronger towards Epigravettian-associated individuals from western and central Italy and Sicily (group 2 and group 3, respectively) than to those from northern Italy (group 1) (Supplementary Data 2.F).We thus modelled individuals belonging to the GoyetQ2 cluster and El Mirón as a mixture between the Fournol and Arene Candide genomes as proxies to represent the Fournol and Villabruna ancestries, respectively, in Magdalenian-associated groups (Fig. 4a). Besides El Mirón, who has around 43% Villabruna ancestry, all other Magdalenian-associated individuals have a lower proportion of this component (19-29%)
Die Ausbreitung der "westeuropäischen Jäger und Sammler" geht also in Italien mit einem genetic replacement einher, während es in Westeuropa und im Ostsee-Raum zur Vermischung mit Angehörigen anderer Herkunftsgruppen kommt.
Wenn man sieht, daß hier ab 17.000 vor heute eine neue Herkunftsgruppe in Europa auftritt, die vom Balkan kommt, dann stellt sich die Frage, welche Vorgänge es parallel dazu in Osteuropa gegeben hat. Dazu gleich noch mehr.
In "Figure 4a" der Studie sehen wir auch Menschenfunde der Magdalenier-Kultur der Goyet-Herkunftsgruppe verzeichnet für die Maszycka-Höhle bei Krakau. In ihr wurde erstmals 1883-85 gegraben (Wiki) (mit Google-Übersetzer):
Die Ergebnisse ihrer Erforschung zeigen, daß sie nur für sehr kurze Zeit, für zwei oder drei Monate während des Jahres bewohnt war. Es handelte sich um ein Jagdlager, in dem dramatische Ereignisse stattfanden. Ungefähr 15.000 vor heute starb dort eine Gruppe von etwa 16 Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts eines plötzlichen Todes. Es handelte sich um einen für die damalige Zeit typischen Familienverband von umherziehenden Sammlern und Jägern. Die Toten wurden dann gegessen - davon zeugen gebrochene Knochenfragmente, auf denen Schnitte mit Feuersteinwerkzeugen, Verbrennungen und Bisse (Spuren von menschlichen Zähnen?) sichtbar sind. Wahrscheinlich wurden sie in der Höhle überrascht (vielleicht nachts durch die obere Öffnung), getötet und gegessen. Ihre Werkzeuge und andere Gegenstände wurden von den Angreifern nicht mitgenommen. Der Ausgräber Ossowski fand in der Höhle eine große Anzahl von Knochen- und Feuersteinwerkzeugen sowie Reste von Tierknochen. Unter den Tierknochen waren Knochen und Zähne von Tarpan (Equus ferus) und Rentieren (Rangifer tarandus) am zahlreichsten. Es gab auch einen einzelnen Schädel eines Bison und einer Saiga-Antilope mit Spuren von Ocker.
Das Verbreitungsgebiet der Magdalenien-Goyet-Herkunftsgruppe reichte also in der Zeit 15.000 Jahre vor heute von Spanien bis in die Gegend von Krakau. Aus dieser Völkergruppe sind die berühmten Höhlenmalereien in Frankreich hervor gegangen.
In "Figure 4a" der Studie finden wir unter anderem die Genomdaten von zwei Individuen aus der Zeit um 13.000 v. Ztr. aus der Karsthöhle "Hohle Fels" zwanzig Kilometer westlich von Ulm verzeichnet. Sie gehörten zur Magdalenien-Kultur. Auch sie weisen den genannten Anteil von 19 bis 29 % westeuropäische Jäger-Sammler-Herkunft auf.*)
So kam die Goyet-Herkunftsgruppe zustande, die aus der Fournol-Herkunftsgruppe hervorging aber mit Einmischung westeuropäischer Jäger-Sammler-Genetik (s. Abb. 4). Die vormalige Fournol-Herkunftsgruppe ist - in leicht veränderter Form - in der Goyet-Herkunftsgruppe aufgegangen. Diese hat sich in Spanien noch bis in die Bronzezeit gehalten.
Zwischen 14.000 und 5.000 vor heute ("Post-14 ka to Neolithic")
Eine ganz neue Dynamik im Völkerleben Europas sehen wir ab der Zeit um 14.000 vor heute. Wir sehen für diesen Zeitraum innerhalb Europas drei Herkunftsgruppen: Goyet, Oberkassel-Villabruna und Sidelkino (Abb. 4), wobei aber Oberkassel (oder eine ähnliche Herkunft) früh zur Ethnogenese von Sidelkino beiträgt, während sich Sidelkino mit Oberkassel bis nach Nordspanien ausbreitet. Die Forscher sprechen von einem (1) ...
... umfangreichen genetischen Umbruch beginnend um 14.000 vor heute bei den mittel- und westeuropäischen Jägern und Sammlern, der in Verbindung steht mit vielfältigen Techno-Komplexen - Federmesser, Azilien und andere endpaläolithische Gruppen - trotz beträchtlicher technologischer Kontinuität mit dem vorhergehenden späten Magdalenien. Diese weit verbreitete Herkunft (das Oberkassel-Cluster, auch bekannt als westeuropäische Jäger und Sammler) steht in engstem Bezug zu einem Epigravettien-Individuum aus Nordwest-Italien, was nahelegt, daß eine Ausbreitung in das kontinentale Europa hinein von der Westseite der Alpen aus begann, nicht von der Ostseite. Mehr noch, das fast vollständige genetische Replacement jenes Gen-Pools, der in Verbindung stand mit der Magdalenien-Kultur, wirft die Hypothese auf, daß Teile von Europa unterschiedlich besiedelt waren während der abrupten klimatischen Veränderung, die um 14.700 vor heute mit der Bølling-Allerød-Erwärmung einher ging, wodurch Gebiete entstanden, in die hinein sich südeuropäische Bevölkerungen ausbreiten konnten. Das mag auch die genetische Einheitlichkeit des Oberkassel-Cluster über weite Teile Westeurasiens erklären.A large-scale genetic turnover as early as 14 ka in central and western European hunter-gatherers associated with multiple techno-complexes - Federmesser, Azilian and other Final Palaeolithic groups - despite considerable technological continuity with the preceding late Magdalenian. This broadly distributed ancestry (the Oberkassel cluster (also known as WHG)) is most closely related to an Epigravettian-associated individual from northwestern Italy, suggesting that its expansion into continental Europe might have started from the west - and not the east - side of the Alps. Moreover, the almost complete genetic replacement of the Magdalenian-associated gene pool raises the hypothesis that parts of Europe were differentially populated during the abrupt climatic variation starting around 14.7 ka with the Bølling–Allerød warming period, creating areas where southern European populations could expand. This might also explain the genetic uniformity of the Oberkassel cluster across large parts of western Eurasia but genomic data from between 15 and 14 ka is needed to understand the exact dynamics of this turnover.
Damit wäre gesagt, daß die "klassischen" westeuropäischen Jäger und Sammler tatsächlich aus Norditalien stammen und vorhergehende Völker abgelöst haben, daß aber auch schon diese vorhergehenden, ihnen genetisch nahverwandten Völker vom Balkan stammten und noch ältere Völker, die vor dem Höhepunkt der Eiszeit in Europa lebten, abgelöst hatten. Über diese "modernere" Oberkassel-Herkunftsgruppe wird ausgeführt (1):
Wir konnten alle Individuen des Oberkassel-Cluster modellieren als eine gleichmäßige Vermischung von etwa 75 % Arene Candide (westeuropäische Jäger und Sammler) und 25 % Goyet Q-2. (...) Die Beobachtung, daß alle Individuen in der Zeit nach 14.000 vor heute aus West- und Mitteleuropa ebenso wie aus Britannien ein einheitliches genetisches Herkommen aufweisen statt wiederholte lokale Vermischungen mit der GoyetQ2-Herkunft aufzuweisen, legt nahe, daß das Oberkassel-Herkunftsprofil im Wesentlichen schon geformt worden ist vor seiner Ausbreitung. Das steht in scharfem Kontrast zur genetischen Geschichte der iberischen Jäger und Sammler, wo die Ausbreitung der Villabruna/Oberkassel-Herkunft in Verbindung steht mit mehrfachen lokalen Vermischungs-Ereignissen mit Gruppen mit hohen Anteilen von GoyetQ2-Herkunft.We could model all individuals from the Oberkassel cluster as a broadly constant mixture of approximately 75% Arene Candide and 25% Goyet Q-2 (or 90% Arene Candide 16 and 10% Fournol 85) (Fig. 4b and Supplementary Data 3.C). The observation that post-14 ka individuals from western and central Europe and also from Britain carry a homogeneous genetic makeup instead of displaying repeated local admixtures with GoyetQ2 ancestry implies that the Oberkassel-ancestry profile was already largely formed before its dispersal. This is in sharp contrast to the genetic history of Iberian hunter-gatherers, where the spread of the Villabruna/Oberkassel ancestry involved multiple local admixture events with groups carrying high proportions of GoyetQ2 ancestry.
Wir sehen also zwei Arten der Ausbreitung der Villabruna/Oberkassel-Herkunft innerhalb von Europa. Die uns schon bekannten "klassischen" westeuropäischen Jäger und Sammler wie sie dann bis in neolithische Zeit weiter bestanden in Europa, hier benannt als Oberkassel-Herkunftsgruppe, sind also eigentlich eine Mischung aus 75 % Villabruna-Herkunft und 25 % GoyetQ2-Herkunft. Oder wie es im Anhang dazu heißt (1, Anhang, S. 101):
Die Arene Candide-Herkunft ist vorherrschend in Populationen nach 14.000 vor heute in West- und Mitteleuropa mit einem Anteil von etwa 88 %.The "Arene Candide 16" ancestry is dominant in post-14 ka populations from western and central Europe, consistent with ~88% (81.7-90.3%).
Es ist also wahrlich nicht ganz einfach, in dieser komplexen Völkergeschichte der Eiszeit den Überblick zu behalten.
Die Sidelkino-Herkunftsgruppe entsteht
Auch zur Ethnogenese der hälftigen Vorfahrengruppe der nachmaligen Indogermanen, nämlich der "osteuropäischen Jäger und Sammler" gibt es neue Mutmaßungen.
Abb. 5: Von Sidelkino nach Chwalysnk über die große Wolga-Schleife bei Samara hinweg (GMaps) |
Es wird dazu das folgende ausgeführt (1):
Wir können die Annahme erhärten und bestätigen, daß die osteuropäischen Jäger und Sammler in Osteuropa eine Vermischung repräsentieren aus Villabruna/Oberkassel-Herkunft mit Ancient North Eurasian-Herkunft. (...) Das älteste Individuum, das das unverwechselbare genetische Profil der Yuhniy Oleniy Ostrov-Gruppe aufweist, ist das 11.000 Jahre alte Sidelkino-Individuum von Samara in Westrußland.We confirm that EHG populations in eastern Europe are a mixture of Villabruna/Oberkassel and ANE ancestries (Supplementary Information, section 11 and Supplementary Data 2.K). F4-statistics also show that the approximately 8.2 ka Yuzhniy Oleniy Ostrov group from Karelia in western Russia formed by 19 genomes has comparable or lower affinity to Villabruna ancestry than all the other EHG groups (Supplementary Data 2.K). The oldest individual revealing an indistinguishable genetic profile from the Yuzhniy Oleniy Ostrov group is the 11 ka Sidelkino individual from Samara in western Russia. For consistency with the previously discussed nomenclature, we rename the EHG ancestry as the Sidelkino cluster (hereafter, Sidelkino cluster or ancestry). The genetic distinction between the Oberkassel and Sidelkino clusters is also clearly noticeable in the diversity of uniparentally inherited markers, as the Oberkassel cluster is dominated by mtDNA haplogroup U5 and Y-chromosome haplogroup I, whereas individuals from the Sidelkino cluster show a higher frequency of mtDNA haplogroups U2, U4 and R1b, and carry uniquely Y-chromosome haplogroups Q, R and J.
In der hier genannten Ancient North Eurasian-Herkunft trat zum ersten mal blonde Haarfarbe in der Menschheitsgeschichte auf, und zwar im Afontova Gora 2-Individuum, das vor 15.000 Jahren am Jenissei in Sibirien gelebt hat (Stgen2017). Im folgenden ist aber vom Afontova Gora 3-Individuum die Rede. Diese Ancient North Eurasien-Herkunftsgruppe bildet, das muß man beachten, nicht nur die eine Hälfte der Herkunft der Indogermanen, sondern trägt auch zur Herkunft der Ureinwohner Amerikas bei. Sie ist also noch als eine sehr urtümliche Herkunftsgruppe einzuschätzen.
Der Ausgrabungsort Sidelkino, wo vor 11.000 Jahren die bislang ältesten uns bekannten Menschen der Vorfahrengruppe der osteuropäischen Jäger und Sammler lebten, liegt 380 Kilometer nördlich von Chwalynsk, also 380 Kilometer nördlich jener Region, in der diese Herkunftsgruppe - sechstausend Jahre später - durch Vermischung mit iranischen Rinderherdenzüchtern von den Ufern des Kaspischen Meeres um 4.700 v. Ztr. das Urvolk der Indogermanen bilden sollte (s. Abb. 5) (GMaps). Diese Herkunftsgruppe sollte etwa hälftig auch zur Genetik der mesolithischen Völker im Ostseeraum beitragen, sowie sich bis auf den Balkan verbreiten (ab etwa 8.000 v. Ztr.), ja, sogar in kleinen Anteilen bis nach Nordspanien.
Im Anhang, auf den man sich im eben gebrachten Zitat bezieht, heißt es genauer (1, Anhang, S. 103):
Wir modellieren die Sidelkino-Gruppe, indem wir entweder das Villabruna-Individuum oder die Oberkassel-Gruppe als eine Herkunfts-Quelle annehmen und das Afontova Gora 3-Individuum als andere Herkunfts-Quelle. (...) Wir finden, daß für die meisten Populationen Anteile geschätzt werden können von etwa 30 % Villabruna/Oberkassel-Herkunft und 70 % Ancient North Eurasian-Herkunft.We therefore model the Sidelkino individuals/groups using either the Villabruna individual or the Oberkassel group as one source, and the Afontova Gora 3 individual as the other source. (...) We find that most populations are estimated to carry ~30% Villabruna/Oberkassel ancestry and 70% ANE ancestry, similar to previous studies.
Mit dieser Angabe erhält die Geschichte dieser für uns heutige Europäer so wichtigen - aber kulturell noch nicht so gut bekannten - Herkunftsgruppe der osteuropäischen Jäger und Sammler eine neue Tiefendimension. Und wir erfahren, daß die westeuropäischen Jäger und Sammler - oder eine ihnen ähnliche Gruppe - an ihrer Ethnogenese einen wichtigen Anteil hatten. Allerdings ist das das letzte Wort zur Ethnogenese dieser Vorfahrengruppe noch nicht gesprochen wie dann weiter ausgeführt wird (1, Anhang, S. 103):
Das Modellieren mißlingt aber in letzter Instanz für fast alle Kombinationen von Herkunftsgruppen, was nahelegt, daß weder Villabruna noch Oberkassel in angemessener Weise jene genetische Herkunft repräsentieren, die zur Sidelkino-Herkunft beitrug. Wir mutmaßen, daß die Ausbreitung einer bislang durch Sequenzierungen noch nicht erfaßten Epigravettien-Population das genetische Profil der osteuropäischen Jäger und Sammler beeinflußt haben könnte. (...) Die Sidelkino- und Oberkassel-Herkunftsgruppe mögen sich ungefähr in derselben Zeit geformt haben. Diese beiden (genetisch) stark unterschiedlichen Herkunftsgruppen blieben im Wesentlichen getrennt voneinander in ihren jeweiligen geographischen Regionen bis ungefähr 8.000 vor heute, ab hier sehen wir erste Ost-West-Vermischungen.However, the modelling fails for almost all source and population combinations (p << 0.05), suggesting that neither Villabruna nor Oberkassel appropriately represent the genetic ancestry that contributed to the Sidelkino ancestry. We speculate that the expansion of a yet unsampled Epigravettian-related population might have influenced the genetic profile of eastern European hunter-gatherers. While in western and central Europe we observe a large-scale genetic replacement with the arrival of the Oberkassel ancestry, in eastern Europe there was possibly a substantial admixture with the ANE ancestry resulting in the formation of the Sidelkino cluster. (...) The Sidelkino and Oberkassel ancestries might have formed around the same time. These two highly distinct ancestries remained largely separated in their respective geographic regions until as late as ~8 ka, when we start observing east-west admixture events.
Ein abschließendes Bild zur Ethnogenese der osteuropäischen Jäger und Sammler ist also noch nicht zu gewinnen. Und wir lesen (1):
Die Vermischung zwischen Villabruna/Oberkasse und ANE-Herkunft schätzen wir auf die Zeit zwischen 15.000 und 13.000 vor heute, was grob zusammen fällt mit dem ersten Auftreten der Oberkassel-Herkunft in Mitteleuropa. Dies wirft die Möglichkeit auf, daß das Replacement durch das Oberkassel-Cluster und die Formierung des Sidelkino-Cluster das Ergebnis von Populations-Ausbreitungen war, die durch die abrupte Klimaerwärmung während des Bølling–Allerød-Interstadial beeinflußt waren.We estimated the admixture between Villabruna/Oberkassel and ANE ancestries in these old Sidelkino-cluster-related individuals to around 15-13 ka (Extended Data Fig. 7 and Supplementary Table 3), which coincides roughly with the first appearance of the Oberkassel ancestry in central Europe. This raises the possibility that the replacement by the Oberkassel cluster and the formation of the Sidelkino cluster might have been the result of population expansions influenced by the abrupt warming during the Bølling–Allerød interstadial.
Hier wird - wie an mehreren Stellen in der Studie - deutlich, wie sehr die Völkergeschichte Europas während der Eiszeit in Zusammenhang steht mit Klimaschwankungen. Vielleicht erstreckt sich dieser Einfluß des Klimas auch noch auf die Ausbreitung der ersten mediterranen Bauern bis an den Nordrand der Mittelgebirge (bis 5.000 v. Ztr.), die ja ebenfalls mit einem vergleichsweise warmen Klima verbunden war. Europa war damals von Lindenwäldern dominiert. Und vielleicht stehen die Ethnogenesen am Beginn des Mittelneolithikums (ab 4.900 v. Ztr.) tatsächlich auch mit einer Abkühlung des Klimas in Zusammenhang, mit der die verbliebenen einheimischen Jäger-Sammler-Bevölkerungen besser zurecht gekommen sein mögen.
Unsere Zwischenfrage: Was ist mit den Jäger-Sammlern der Karpaten?
Was uns aber bei den eben genannten Modellierungen wundert: Schon zuvor war im Anhang bezüglich einer noch unbekannten Jäger-Sammler-Herkunftsgruppe im südöstlichen Europa gemutmaßt worden. Auf deren genetisches Profil waren wir aber doch hier auf dem Blog schon mehrfach in verschiedenen Studien gestoßen, nämlich als "Körös-Jäger-Sammler", als Jäger und Sammler des Oberen Theiß-Gebietes (Stgen2022a), bzw. der Westkarpaten, bzw. als Balkan-Jäger-Sammler (Stgen2022b), deren Herkunft sich noch bei den heutigen Griechen findet. Kein Wort von dieser Herkunftsgruppe - soweit wir das übersehen - in dieser neuen Studie (1).
Hier wird man wohl weitere Forschungen abwarten müssen. Noch einmal grundsätzlicher: Der Gang der Forschung ist ja, daß man zunächst einmal sehr viele Skelettfunde der ersten Bauern Mitteleuropas aus dem Frühneolithikum sequenziert hat (der Bandkeramiker). Man hat deren Herkunft aus Anatolien verstanden und hat sich von dort aus zunächst in das zeitlich jüngere Mittel- und Spätneolithikum und in die Bronzezeit vorgearbeitet. Und man hat geographisch auch die Außenbereiche Europas und darüber hinaus durch Sequenzierungen von Skelettfunden erkundet. Mit dieser neuen Studie nun arbeitet man sich im Verständnis der Zeit nach erstmals umfangreicher in umgekehrte Richtung vor, nämlich immer tiefer in die Eiszeit hinein. Daß sich das Bild der Völkergeschichte von vielen Jahrtausenden - entsprechend dieses Ganges der Forschung - erst schrittweise und allmählich formen kann, ist völlig klar. Und daß scharf umrissene mesolithische Völker auf Vorgänger-Völker zurückzuführen sein müssen, die mitunter bis jetzt noch nicht so klar umrissen sind, wird zumindest in dieser Studie schon einmal recht deutlich.
Es ist dann noch die Rede von der Ausbreitung von Sidelkino-Herkunft bis nach Nordspanien und umgekehrt Oberkassel-Herkunft bis in die Samara-Region um 4.500 v. Ztr.. Das ist nun schon diesselbe Zeit, in der sich in Mitteleuropa die Bandkeramiker ausbreiteten (1):
Nach 5.500 v. Ztr. (...). In dieser Zeit breitet sich die Oberkassel-Herkunfts-Vermischung noch weiter nach Osten aus, wobei sie die Samara-Region um 4.500 v. Ztr. erreicht. Gleichzeitig wird ein Zuwachs an Sidelkino-Herkunft bei den Jägern und Sammlern in den baltischen Ländern beobachtet, was bislang in Verbindung gebracht worden ist mit einem Übergang der Narva-Kultur zur Kammkeramischen Kultur.After 7.5 ka, as ANF ancestry had reached regions north of the Alps, individuals carrying a hunter-gatherer genetic profile were primarily restricted to the northern fringes of Europe (Fig. 5). In this period, the Oberkassel-ancestry admixture spread further east, reaching Samara by around 6.5 ka, and an increase in Sidelkino ancestry was detected in hunter-gatherers from the Baltic region, which was previously associated with the transition from the Narva culture to the Comb Ceramic culture.
Also zur selben Zeit, in der sich osteuropäische Jäger und Sammler südlich der großen Wolga-Schleife bei Samara mit iranischen Rinderzüchtern vom Kaspischen Meer vermischen, vermischen sich also nördlich der großen Wolga-Schleife ihre genetischen Verwandten mit einem Jäger- und Sammler-Volk, das von Westen kommt. - Wir hatten ja schon gesehen, daß sich auch die Goyet-Herkunftsgruppe vergleichsweise weit bis Osten ausgebreitet hatte, bis in die Gegend von Krakau.
Altertümlich: Dunkle Haut und helle Augen - Helle Haut und dunkle Augen
Von den angeborenen Körpermerkmalen haben sich die west- und die osteuropäischen Jäger und Sammler - das war schon zuvor bekannt - deutlich unterschieden. Die neue Studie bekräftigt diese Erkenntnis (1):
Was die helle Augenfarbe betrifft, zeigen Individuen des Villabruna-Cluster, des Oberkassel-Cluster, der baltischen und skandinavischen Jäger und Sammler hohe Häufigkeiten des abgeleiteten Allels (>90%), das für grüne oder blaue Augenfarbe verantwortlich ist, während das Sidelkino-Cluster, die ukrainischen Jäger und Sammler und Jäger und Sammler-Gruppen vom Eisernen Tor eine niedrige Häufigkeit dieses Allels aufweisen (10 bis 25 %). Dagegen zeigen die beiden SNP's, die mit Hautfarbe in Verbindung stehen, für das Sidelkino-Cluster und die ukrainischen Jäger und Sammler eine hohe Häufigkeit von abgeleiteten Allelen, die mit heller Hautfarbe in Verbindung stehen, während diese im Oberkassel- und Villabruna-Cluster fast gänzlich fehlen.For the SNP associated with light eye colour (HERC2/OCA2 (rs12913832)), individuals from the Villabruna cluster, Oberkassel cluster, Baltic HG and SHG groups show high frequencies of the derived allele (>90%), which is responsible for the green or blue eye phenotype, whereas Sidelkino cluster, Ukraine HG and Iron Gates HG groups show low occurrence of this allele (10–25%). Instead, for the two SNPs associated with skin colour (SLC24A5 (rs1426654) and SLC45A2 (rs16891982)), Sidelkino cluster and Ukraine HG groups show a higher frequency (>90% for SLC24A5 and 29–61% for SLC45A2) of the derived alleles related to light skin colour, compared with Oberkassel and Villabruna clusters, where those alleles are almost completely absent (<1%).
Beide Kombinationen von Körpermerkmalen gibt es im heutigen Europa eher selten. Dieser Umstand macht darauf aufmerksam, daß es zwischen Neolithikum und Bronzezeit bezüglich von angeborenen Körpermerkmalen - und auch von hier noch nicht behandelten angeborenen psychischen Merkmalen - viele "Umgruppierungen" gegeben hat, die zur Ethnogenese der heutigen, modernen Völker beigetragen haben, wobei sich in Völkern dann auch noch seit der Bronzezeit Häufigkeiten von angeborenen Merkmalen deutlich ändern konnten.
Das sind alles Vorgänge von "jüngster Humanevolution", von "Gen-Kultur-Koevolution", die innerhalb von etwa tausend Jahren deutliche Änderungen mit sich bringen kann, wie es Charles Lumbsden und Edward O. Wilson schon 1981 theoretisch vorausgesagt hatten (4) (was damals von S. J. Gould in sehr auffälliger Weise schlecht gemacht worden war [NYBooks]), für die man aber seit etwa dem Jahr 2000 immer mehr empirische Daten findet, seit nämlich das menschliche Genom vollständig sequenziert ist (5).
Die Generation von Konrad Lorenz war stattdessen noch vom "Mammutjäger in der Metro" ausgegangen, der sich in angeborenen Verhaltensmustern nicht wesentlich geändert habe. Wir sehen jedoch heute in Bezug auf viele wichtige Merkmale (auch Intelligenz, psychische Sensibilität, Verdauung) sehr deutliche genetische Häufigkeitsverschiebungen in den letzten 6000 Jahren.
Somit werden wir hier darauf aufmerksam, daß wir zwar von diesen beiden sehr urtümlichen Völkergruppen noch Erbgut in uns tragen, daß wir aber von unserem eigenen genetischen Profil her dennoch zu ganz anderen Völkern gehören.
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*) Im Anhang verzeichnet als (1, Anhang, S. 20f):
Hohle Fels, Germany - Nicholas Conard Analyzed individuals: HohleFels10_79 (HF 79 IIb 876,HF 10 Ic 405): 15975-14286 calBP calBP; HohleFels49 (HF 49 Ib1 66): 15878-15311 calBP. Archeological description previously published in Posth et al., 2016 and Fu et al., 2016.
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- Posth, C., Yu, H., Ghalichi, A. et al. Palaeogenomics of Upper Palaeolithic to Neolithic European hunter-gatherers. Nature 615, 117–126, 1.3.2023. https://doi.org/10.1038/s41586-023-05726-0 (Nature2023)
- Jacob, Sandra: Überleben in der Eiszeit. Größte Genomanalyse eiszeitlicher Vorfahren zeigt Wanderbewegungen der Jäger und Sammler über einen Zeitraum von 30.000 Jahren. Presseerklärung, MPI für evolut. Anthropologie, 1.3.23, https://www.mpg.de/19929890/0222-evan-ueberleben-in-der-eiszeit-150495-x.
- Zimmer, Carl: Ancient DNA reveals History of Hunter-Gatherers in Europe. NYT, 1.3.23, https://www.nytimes.com/2023/03/01/science/dna-hunter-gatherers-europe.html
- Charles J. Lumsden, Edward O. Wilson: Genes, Mind and Culture: The Coevolutionary Process. Harvard University Press, 1981
- Bading, Ingo: 200.000 Years of Human Evolution. 2007 (Academia, Researchgate, Lulu)
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