Montag, 27. September 2021

Litauen, Marija Gimbutas und die Indogermanen

Warum war es gerade eine Litauerin, die die Urheimat der Indogermanen fand?
- Etwa weil die litauische Sprache dem Urindogermanischen besonders nahe steht?
- Aber welche moderne indogermanische Sprache steht dem Urindogermanischen überhaupt besonders nahe?

Auch heute noch wird gerne ein Satz zitiert, den ein früher Vertreter des Fachbereiches der Indogermanistik geprägt hat, nämlich der französische Sprachforscher Antoine Meillet. Diesr Satz lautet:

"Jeder, der hören will, wie Indo-Europäer gesprochen haben, sollte einem Litauischen Bauern zuhören."

Wäre es unter diesen Umständen ein besonderes Wunder, daß jene Archäologin, die die Urheimat und frühe Geschichte der Indogermanen zuerst umfassend erkannt und populär gemacht hat, ebenfalls aus Litauen stammt? Hierbei handelt es sich nämlich um Marija Gimbutas (1921-1994) (Wiki, engl) (1), deren hundertster Geburtstag vor einer Woche Anlaß für das Litauische Nationalmuseum (Wiki) in Wilna war, die Ausstellung "Göttinnen und Krieger - 100 Jahre Marija Gimbutas" (LNM) zu eröffnen. Die Ausstellung enthält auch 56 Stücke des Nationalmuseums der Repubik Moldau in Chisinau (NatMu). Am 23. und 24. September wurde in Wilna auch eine wissenschaftliche Tagung aus diesem Anlaß abgehalten (Programm). Auf ihr hielten Archäologen wie Igor Manzura oder Volker Heyd Vorträge zum heutigen Forschungsstand. Den Zusammenfassungen der Vorträge ist zu entnehmen, daß noch heute so mancher Archäologe damit "zackert", Marija Gimbutas Leistungen in vollem Umfang anzuerkennen. Aber das soll uns an dieser Stelle nicht wichtig sein.*)

Abb. 1: Marija Gimbutas mit Kind - Sie hatte drei Töchter

Wer die tieferen Antriebe zur Lebensleistung von Marija Gimbutas verstehen will, wird gut daran tun, ihre Familiengeschichte zur Kenntnis zu nehmen, die tief verwoben ist mit schicksalhaften Wechselfällen der ostmitteleuropäischen Geschichte während des 20. Jahrhunderts. 

Die wechselhafte Geschichte Litauens im 20. Jahrhundert

Die Eltern von Marija Gimbutas waren Ärzte und trugen den Familiennamen Alseika (dies ist der Geburtsname von Marija). Ihre Mutter hatte 1908 das Doktorexamen an der Universität Berlin abgelegt, ihr Vater 1910 dasselbe 1910 an der Universität Dorpat (ebenfalls eine traditionell bis dahin vornehmlich deutschsprachige Universität, erst 1893 war Russisch als Lehrsprache eingeführt worden) (Wiki). Das vormals russisch besetzte Litauen wurde 1915 von Deutschland besetzt. Erich Ludendorff verwaltete von Wilna aus das Besatzungsgebiet "Oberost" (Wiki), dessen Wirtschaftsstrukturen auf die Höhe gebracht wurden. 

Nach dem Abzug der Deutschen im Jahr 1918 und der Unabhängigkeitserklärung Litauens richteten die Eltern von Marija Gimbutas 1918 in Wilna das erste landeseigene Krankenhaus ein. Aber schon 1919 wurde Wilna von Polen besetzt. Wilna sollte bis 1939 von Polen besetzt bleiben. 1921 wurde Marija Gimbutas in Wilna geboren. Als sie zehn Jahre alt geworden war, übersiedelt ihre Familie zwischen 1931 bis 1933 wegen der dauerhaften Besetzung Wilnas durch Polen nach Kaunas. Nur der Vater bleibt in Wilna zurück. Kaunas liegt 100 Kilometer westlich von Wilna.

1938 begann Marija Gimbutas an der Universität Kaunas zu studieren, und zwar zunächst: Sprachwissenschaften. 1939, nach der Niederlage der polnischen Armee gegen die Deutschen, kommt Wilna wieder an Litauen. Marija Gimbutas kehrt nach Wilna zurück. Gimbutas erinnert sich (1) an einen ...

"Aufbruchgeist in der Regierung, an der Universität, im Schulsystem. Die junge Generation, der ich angehörte, lebte inmitten dieses Aufbruchsgeistes und tat mehr als ihr möglich war."

Gimbutas selbst sammelte in dieser Zeit zum Beispiel über 5000 Volkslieder. Ein Jahr später aber schon besetzte die Sowjetunion Litauen, die Universität Wilna wurde geschlossen. Marija Gimbutas schloß sich der Untergrundbewegung gegen die sowjetische Besatzungsmacht an und lebte in den litauischen Wäldern. In dieser Zeit schrieb sie weiter an ihrer Magisterarbeit (1).

Die Spannungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion wuchsen in der ersten Jahreshälfte 1941. Die litauische Widerstandsbewegung wurde verstärkt von der sowjetischen Geheimpolizei unterdrückt. 25 Mitglieder der Familie von Marija Gimbutas "verschwanden" (offenbar in den Fängen der sowjetischen Geheimpolizei) (1). Marija versteckte sich in Kaunas. 

Am 22. Juni 1941 erfolgte dann der Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion, die litauische Widerstandsbewegung ging in den offenen Aufstand über. Nach der Besetzung Litauens durch die deutsche Wehrmacht heiratete Mairja Jurgis Gimbutas. In den Jahren 1943, 1947 und 1954 brachte sie drei Töchter zur Welt.

Am 8. Juli 1944 floh die Familie Gimbutas vor dem Vormarsch der Roten Armee nach Wien, dann nach Innsbruck. Von Innsbruck floh sie 1945 über die Berge nach Süddeutschland, lebte auf dem Land (1). 1946 promovierte Marija Gimbutas an der Universität Tübingen. 1947 emigrierte die Familie nach den USA. 1950 erhielt Marija Gimbutas an der Universität Harvard eine Stelle (1).

Der familiäre Zusammenhalt und Rückhalt blieb weiterhin groß. Ihre Mutter, ihre Tante und ihre Cousine lebten noch in Litauen. Sie halfen ihr im regen Briefwechsel bei den Illustrationen ihrer Bücher. 1956 präsentierte Marija Gimbutas ihre Kurgan-Theorie das erste mal auf einer Tagung in Philadelphia (1).

Die baltischen und germanischen Sprachen stehen dem Urindogermanischen am nächsten

Wie schon einleitend angedeutet, scheinen die baltischen Sprachen in einer besonderen Beziehung zur urindogermanischen Sprache zu stehen. Es ist aber auch insgesamt nicht uninteressant, daß vom weiterlebenden urindogermanischen Wortbestand, also Vokabular her gesehen die baltischen und germanischen Sprachen dem Urindogermanischen am nächsten zu stehen scheinen (2). 

Die Indogermanistik hat in den letzten 200 Jahren Forschung nämlich durch Sprachvergleich 2044 urindogermanische Worte gefunden. In keiner heutigen indogermanischen Sprache leben mehr als 40 % dieser gefundenen urindogermanischen Worte weiter (2) (nach 3).

Werden aber nun jeweils zwei indogermanischen Sprachfamilien miteinander verglichen was die Häufigkeit von urindogermanischen Wortähnlichkeiten betrifft, so sind es die germanische und die baltische Sprachfamilie, die untereinander die meisten urindogermanischen Worte miteinander teilen, nämlich 828 (2). Diese beiden werden gefolgt in der Häufigkeit ähnlich lautender urindogermanischer Worte zwischen der germanischen und hellenischen Sprachfamilie: 809 (2).

Die hellenische und die baltische Sprachfamilie weisen hingegen nur 689 ähnliche urindogermanische Worte auf (1). Insgesamt kann die Schlußfolgerung gezogen werden (2):

Die germanische Sprachfamilie steht dem Urindogermanischen vom Wortbestand her am nächsten.

Keine andere indogermanische Sprachfamilie weist so viele urindogermanische Wortähnlichkeiten mit anderen indogermanischen Sprachfamilien auf wie die germanische Sprachfamilie.

Es mag dies als ein Hinweis darauf gewertet werden, daß sich nicht nur von der Genetik her, sondern auch von der Sprache her die Indogermanen bis heute am ursprünglichsten in Nordeuropa gehalten haben. Wobei interessanterweise auch allein schon vom Wortbestand her eine größere Nähe der germanischen Sprachen zu den hellenischen aufgezeigt werden kann, die es zwischen der baltischen und hellenischen Sprachfamilie in diesem Umfang nicht gibt (nur 689 Worte).

Insgesamt ist es aber so, daß jede indogermanische Sprache andere Merkmale des Urindogermanischen bewahrt hat, so daß nur durch den Vergleich aller indogermanischer Sprachen miteinander das Urindogermanische zu rekonstruieren ist. Allein aus einer oder auch mehrere indogermanischen Sprachfamilien wäre das Urindogermanische nicht zu rekonstruieren. Dazu weist es zu viele Facetten auf, die im Laufe der Geschichte sich regional jeweils unterschiedlich weiter entwickelt haben und dabei entweder erhalten haben, sich umgeformt haben oder aber verloren gegangen sind.

Wer jedenfalls die Lebensleistung von Marija Gimbutas verstehen möchte, wird gut daran tun, sich mit der politischen und kulturellen Geschichte Litauens während des 20. Jahrhunderts ebenso zu beschäftigen wie mit der besonderen Stellung des Litauischen in der Sprachgemeinschaft der indogermanischen Sprachen.

___________________

*) Vielleicht nicht uninteressant sind die Ausführungen über die Zeit nach 3.500 v. Ztr. (Abstr.s):

Das Vorkommen von bemalter Keramik ebenso wie von anthropomorphen Figurinen legt einen großen Einfluß der späten Tripolje-Gesellschaften auf die archäologisch feststellbaren Steppenkulturen nahe. Ein gutes Beispiel für eine Kurgan-Kultur, die stark von der Tripolje-Kultur beeinflußt worden ist, ist die lokale Gruppe "Serezleevka" zwischen Südlichem Bug und Dnjepr, die auf 3.500/3.200 bis 2.800 v. Ztr. datiert wird. (...) Es ist eine Ausbreitung von Tripolje-Menschen aus der Region des Östlichen Bug in die Steppe hinein in der zweiten Hälfte des 4. Jahrtausends anzunehmen. ....
Finds of painted pottery, as well as anthropo-morphic figurines, allow suggesting a significant impact of Late Tripillia communities on the steppe archeological cultures. A bright example of a kurgan culture heavily influenced by the Tripillia is the Serezleevka local group located between South Bug and Dnieper rivers and dated by 3500/3200-2800 BC. (...) A migration of Trypillia people from the Easter Bug region into the steppe during the second half of the 4th Millenia BC is suggested. It is supposed that the motivation for such resettlement was the lack of supplies caused by the crises of the extensive fire-cutting agriculture practiced by Tripillia people. The other possible reason for the relocation to the Lower Dnieper region was the search for metal. Recent studies suggest an existence of a strong met-allurgical center in the mentioned region during the last quarter of the 4th Millenia BC. The evidence of local production of the metal tools is the finds of metallurgists’ burials accompanied by the casting forms of Samara type axes.

_________

  1. Marija Gimbutas 1921--1994, https://www.belili.org/marija/bio.html
  2. C (Selva) R.Selvakumar:  What modern-day language is closest to Proto-Indo-European (PIE)? 2020, https://www.quora.com/What-modern-day-language-is-closest-to-Proto-Indo-European-PIE
  3. Bird, Norman, The Distribution of Indo-Europena Root Morphems (A Checklist for philologists), 1982, Sole distributions rights with Otto Harrassowitz Wiesbaden
  4. Adriano Cunha Trigueiro: What modern-day language is closest to Proto-Indo-European (PIE)? 2018, https://www.quora.com/What-modern-day-language-is-closest-to-Proto-Indo-European-PIE

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Balto-Slawische Sprachen

Ingo Bading hat gesagt…

Nein, in den Angaben von C (Selva) R.Selvakumar, auf die ich mich beziehe, werden baltische und slawische Sprachen getrennt behandelt.

Gemeinsame Urworte Slawisch-Germanisch: 722, Slawisch-Baltisch 715, Slawisch-Hellenisch 591.

Das ist eben auffallend, daß die slawischen Sprachen, obwohl der Urheimat der Indogermanen am nächsten, MEHR urindogermanische Worte verloren haben als die baltischen und germanischen Sprachen. Es wird das an der höheren Siedlungsdichte der Cucuteni-Tripolje-Kultur liegen, von der - dementsprechend - die slawischen Sprachen (eventuell!!) mehr beeinflußt gewesen sein könnten.

Aber das hieße auch, daß die Schnurkeramiker noch ein "reineres" Urindogermanisch gesprochen haben könnten als die Jamnaja-Kultur. Die Jamnaja-Kultur könnte (KÖNNTE!) schon Vorformen des Slawischen gesprochen haben. Ich glaube, anders könnte man das bessere Überleben des Urindogermanischen im Norden gar nicht erklären.

Aber das ist vielleicht zu wilde Spekulation.

Ja, die slawischen Sprachen sollen den baltischen Sprachen am nächsten stehen.

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