Donnerstag, 20. September 2007

Rilke und Worpswede

Im Leben ist es immer wieder gut, den Weg zu den Dichtungen, Schriften und Briefen von Rainer Maria Rilke (1875-1926) (Wiki) zu finden. Sein geistiges Erbe bietet Orientierung. Es lenkt den Blick auf Wesentliches. Und zwar wohin immer man in ihm schaut.

Abb. 1: Rainer Maria Rilke im Palais Biron, Paris 1908 - als Sekretär Rodins aufgenommen von Harry Graf Kessler (pdf)

In seinem geistigen Erbe findet sich eine solche Fülle von Themen, daß der Nachgeborene den Überblick leicht verliert.

Rilke-Chronik

Da ist eine "Rilke-Chronik" hilfreich (1). Sie kann als ein Zugang zu seinem Werk und seinem Leben empfohlen werden, der immer wieder neu begangen werden kann. Natürlich neben Gedicht-Sammlunge. Mit diesem sachlichen, nüchternen, oft taggenauen Abriß, in dem immer wieder Auszüge aus Briefen gebracht werden, erhält man eine Ahnung von seinem Leben, von seinen Lebensinhalten, von seiner Lebenshaltung. Eine Lektüre in dieser "Rilke-Chronik" - und seien es nur wenige Seiten am Tag - legt man selten ohne Gewinn aus der Hand. Auf jeder Seite dieser dickleibigen "Chronik" ist Wesentliches enthalten, ist Wesentliches zu finden. 

Rilke gelang es, so entsteht der Eindruck, ein Leben zu führen, das Unwesentlichem keinen Raum ließ.

Rußland

In seinen Werdejahren ist Rainer Maria Rilke zwei mal nach Rußland gereist. Dies geschah einmal im Jahr 1899 für zwei Monate und ein zweites mal im Jahr 1900 für vier Monate. Diese beiden Rußland-Reisen waren eine wichtige Zäsur in seinem Leben. Vielleicht kann gesagt werden, daß mit ihnen sich der Gehalt im Leben von Rilke deutlich vertiefte. Bei der zweiten Reise machte Rilke auch eine Schiffsreise auf der Wolga. Das Urteil der Nachwelt jedenfalls ist eindeutig (2):

Diese Reisen stellen eine der wirkmächtigsten Auslandserfahrungen der deutschen Literaturgeschichte dar. Sie lösten einen bedeutenden Kulturtransfer zwischen Ost und West aus.

Diese Wirkungsmächtigkeit ergibt sich aus dem Umstand, daß Rilke sich unverstellt auf "das Russische", auf die russische Welt, auf den russischen Menschen, auf die russische Landschaft, auf die russischen Märchen, auf die russische Kunst und Literatur einstellte. Rußland beschäftigte ihn so sehr, daß er auch noch ein drittes mal nach Rußland reisen wollte. Da aber kam ihm eine neue Erfahrung "dazwischen": Worpswede.

Abb. 2: Fritz Mackensen - "Der Säugling", 1892

Worpswede

Damit ist gemeint: Die Künstlerkolonie Worpswede. Im Herbst des Jahres 1900 kam Rilke nach Worpswede. Im Frühjahr 1901 heiratete er dort die Bildhauerin Clara Westhoff. Im Dezember wurde ihre gemeinsame Tochter Ruth geboren. In dieser Zeit schrieb Rilke seine Monographie "Worpswede" (3).

Dieses Buch ist von den Rilke-Kennern bis heute in seiner Bedeutung nicht ausreichend gewürdigt worden (3, S. 270ff). 2003 widmete die Kunsthalle Bremen diesem Buch eine eigene Ausstellung. Das Buch Rilkes selbst gab sie dabei neu heraus (3). Der Band gibt nicht nur die Schrift selbst wieder, sondern enthält auch viefältige Auskünfte zu seiner Entstehungsgeschichte und zu seiner Wirkung. Daß in den beigegebenen "Kommentaren" die heutigen Kunstwissenschaftler sich dabei alle vornehmer und urteilssicherer dünken als Rilke wird man sicherlich gut tun, mit einem Lächeln der Nichtbeachtung einheim fallen zu lassen. 

"Das Hervorragendste, was je über Kunst geschrieben worden ist "

Rilkes Worpswede-Buch steht zwischen seiner bedeutsamen Rußland-Reise - zusammen mit Lou Andreas-Salome - und seinem Paris-Aufenthalt bei Auguste Rodin. Das Buch entstand in der kurzen Zeit der glücklichen Ehe mit der Worpsweder Bildhauerin Clara Westhoff. Mit ihr gemeinsam war er im Nachbardorf von Worpswede ansässig und stand in engem Austausch mit den Künstlern und ihren Frauen (3, S. 230ff). Auf eine dritte Rußland-Reise hatte Rilke verzichtet, um eine Worpsweder Künstlerin zu heiraten. Der Maler Fritz Mackensen - berühmt durch sein Bild "Der Säugling" von 1892 (3, S. 39) - nennt das Buch "wohl das Hervorragendste, was je über Kunst geschrieben worden ist" (3, S. 281). Ein starkes Urteil. Aber uns fallen keine guten Argumente ein, um diesem Urteil widersprechen zu können.

Der Maler Paul Moderson äußerte sich ebenfalls begeistert (3, S. 169). Der Schriftsteller Manfred Hausmann eiferte dieser Schrift nach  - wie mancher andere (3, S. 277). Genauso auch der Worpsweder Maler Heinrich Vogeler. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Vogeler - überraschenderweise - Kommunist. Und noch in den 1930er Jahren ließ er in der Sowjetunion Schriften zur Sowjetkunst erscheinen, in denen er die Kunst von Worpswede feierte (3, S. 284f). 

Doch, unbezweifelbar: Dieses Worpswede-Buch Rilkes kann man liebgewinnen. Für ein Leben lang kann es ein teurer Schatz im Bücherschrank bleiben.

Nach Abschluß dieser Schrift ging Rilke zum Bildhauer Auguste Rodin nach Paris. Dort verfaßte er seine berühmte Rodin-Schrift. In ihr entwickelte er eine neue, noch tiefere und reifere Einstellung zur Kunst und zum Leben. Eine tiefere noch als jene, die aus dem Buch über die Maler von Worpswede spricht.

Aber das durchgängig treffsichere Urteil Rilkes in seiner Worpswede-Monographie, es war nur möglich, weil Rilke in seinem Leben und in seiner Kunst innerlich schon zur Zeit der Entstehung dieser Monographie weiter war als die Maler von Worpswede. So will es einem scheinen. Die Maler von Worpswede standen nicht selten der damaligen Heimatkunst-Bewegung nahe. Zumindest entfernten sie sich oft nicht allzu deutlich von ihr. Der Worpsweder Maler Hans am Ende meldete sich 1914 kriegsfreiwillig. Im Jahr 1918 fiel er. Er hatte sich freiwillig gemeldet sicherlich aus seinem Verständnis heraus für eine freie Entfaltung einer nationalen, deutschen Kunst, die im deutschen Heimatboden wurzeln sollte.

"Worpswede" und die Schrift Rilkes sind Teil des damaligen Aufbruchs zu einer neuen Kunst, mehr noch, Teil des Aufbruchs zu einer neuen Religion. Der Vergleich so mancher "Religions-Suche" von heute mit dem damaligen Ernst und der damaligen Gefühlstiefe wie sie von Rilke zum Ausdruck gebracht wird - schamrot muß er uns machen.

Abb. 3: Rainer Maria Rilke, gezeichnet von Emil Orlik (wohl 1921)



/ Überarbeitet, ergänzt: 22.11.2021 
erneut leicht überarbeitet: 25.9.2022 /
________________

  1. Schnack, Ingeborg: Rainer Maria Rilke - Chronik seines Lebens und seines Werkes 1875-1926. Erweiterte Neuausgabe hrsg. von Renate Schaffenberg. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2009 (EA 1975)
  2. "Meine geheimnisvolle Heimat" - Rilke und Rußland. Hrsg. von Thomas Schmidt. Insel Taschenbuch 2020
  3. Rilke. Worpswede. Eine Ausstellung als Phantasie über ein Buch. Hrsg. v. Wulf Herzogenrath und Andreas Kreul. H. M. Hauschild, Bremen 2003 (Amaz.)

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